2 Psychodynamische Erstgespräche
2.1 Psychodynamische Psychotherapie
Psychodynamische Psychotherapie ist heute der auch international gebräuchliche Oberbegriff für die aktuellen Weiterentwicklungen der von Sigmund Freud begründeten Psychoanalyse (Beutel et al., 2010; Shedler, 2011, S. 265), die im klinischen Kontext als Persönlichkeits-, Krankheits- und Behandlungstheorie charakterisierbar ist. Bei diesen Verfahren geht es um die Bearbeitung von unbewussten Konflikten und strukturellen Störungen der Persönlichkeitsentwicklung in einer therapeutischen Beziehung, unter besonderer Berücksichtigung von Übertragung und Gegenübertragung. Sie verfügen über ein elaboriertes, sich in stetem Wandel befindliches Theoriegebäude zur menschlichen Entwicklung sowie zur Entstehung und Behandlung von psychischen Erkrankungen. Seit ihrem Entstehen vor über 100 Jahren sind innerhalb der Psychoanalyse eine Vielzahl von Theorien und behandlungstechnischen Modellen konzipiert worden, die aufgrund klinischer Erfahrungen und empirischer Forschungsergebnisse weiterentwickelt oder widerlegt worden sind (Neukom, Grimmer & Merk, 2011).
Die Psychoanalyse hat sich neben der sozialrechtlichen Differenzierung inzwischen in eine Vielzahl unterschiedlichster Behandlungsformen und Terminologien verästelt (Beutel et al., 2010). Dies hat teilweise zu einer regelrechten Sprachverwirrung geführt. Die Unterschiede zwischen Bezeichnungen wie »psychoanalytische« oder »psychoanalytisch orientierte Psychotherapie«, »psychodynamische« oder »psychodynamisch orientierte Psychotherapie«, »Psychoanalyse« und »Tiefenpsychologie« sind kaum mehr nachzuvollziehen.3 Der Wissenschaftliche Beirat Psychotherapie (WBP, 2005a, 2005b), der in Deutschland die Wissenschaftlichkeit und Wirksamkeitsnachweise psychotherapeutischer Verfahren beurteilt, kommt zum Schluss, dass es keine wissenschaftliche Grundlage für die Unterscheidung in verschiedene psychoanalytische Verfahren gibt. Er schlägt deshalb vor, nur noch den Begriff »Psychodynamische Psychotherapie« für alle psychoanalytischen Behandlungsverfahren zu verwenden und definiert ihn folgendermaßen:
»Die Psychodynamische Psychotherapie (PP) gründet auf der Psychoanalyse und ihren Weiterentwicklungen. Die Behandlungsprinzipien der PP bestehen in einer Bearbeitung lebensgeschichtlich begründeter unbewusster Konflikte und krankheitswertiger psychischer Störungen in einer therapeutischen Beziehung unter besonderer Berücksichtigung von Übertragung, Gegenübertragung und Widerstand. Dabei wird je nach Verfahren stärker im Hier und Jetzt oder im Dort und Damals gearbeitet, die Stundeninhalte sind je nach Verfahren strukturierter (Technik: Fokussierung) oder unstrukturierter (Technik: freie Assoziation) und der Therapeut greift jeweils auf eine stärker aktive oder eher zurückhaltende Interventionstechnik zurück. « (WBP, 2005b)
In Deutschland werden zwischen 50 und 65 Prozent aller Behandlungen in der ambulanten Praxis mit diesen Verfahren durchgeführt; im stationären Bereich dürfte der Anteil ähnlich hoch sein (Beutel et al., 2010; WBP, 2005a; Brandl et al., 2004). In der Schweiz lag der Anteil der analytischen Verfahren im Bereich Psychotherapie im Jahr 2007 bei 44 Prozent und damit deutlich höher als der jeder anderen Therapiemethode (Schweizer, Camenzind & Schuler, 2007). Diese Verhältnisse zeigen, dass den psychoanalytisch orientierten Behandlungsverfahren eine hohe Versorgungsrelevanz zukommt.
Für die Psychodynamische Psychotherapie existieren inzwischen eine Vielzahl an Wirksamkeitsnachweisen (zur Übersicht über vorhandene Metaanalysen siehe: Shedler, 2011; Beutel et al. 2010; Leichsenring & Rabung, 2008). Nach Auswertung der vorliegenden Studien kam der Wissenschaftliche Beirat Psychotherapie bereits 2005 zum Schluss, dass der Nachweis der Wirksamkeit Psychodynamischer Psychotherapie für alle Anwendungsbereiche nach ICD-10 mit Ausnahme der Demenzen festgestellt werden kann (WBP, 2005a).
2.2 Das psychodynamische Erstgespräch
Etwa seit Mitte des letzten Jahrhunderts interessieren sich Psychoanalytiker für Erstgespräche – oft auch als Erstinterviews bezeichnet – als eigenständigen Untersuchungsbereich. Die zunehmende Faszination dieses Themas hängt auch damit zusammen, dass die Komplexität der Prozesse und Themen zu Beginn einer Therapie noch überschaubar ist. Freud (1913, S. 454) hat dies in seinem Text zur Einleitung der Behandlung so beschrieben:
»Wer das edle Schachspiel aus Büchern erlernen will, der wird bald erfahren, dass nur die Eröffnung und Endspiele eine erschöpfende systematische Darstellung gestatten, während die unübersehbare Mannigfaltigkeit der nach der Eröffnung beginnenden Spiele sich einer solchen versagt. […] Ähnlichen Einschränkungen unterliegen wohl die Regeln, die man für die Ausübung der psychoanalytischen Behandlung geben kann«.
Ein weiterer Grund für die Faszination besteht darin, dass sich, so die gängige Meinung, in der ersten Begegnung bereits in verdichteter Form die unbewusste Konflikt- und Persönlichkeitsdynamik des Patienten partiell inszeniert, die im späteren Verlauf der Behandlung durchgearbeitet wird, das Erstgespräch also als pars pro toto des analytischen Prozesses zu verstehen ist (Eckstaedt, 1995; Laimböck, 2000; Wegner, 2000). Aus Sicht der Psychotherapieforschung gibt es zudem Hinweise darauf, dass sich aufgrund der Beziehungsaufnahme und gelingenden oder misslingenden Zusammenarbeit in den ersten Sitzungen schon auf das spätere Therapieergebnis schließen lässt (Strupp, 1996).
Freud (1913) selber hat dem ersten Gespräch noch nicht diese Bedeutung zugeschrieben und sich ihm in seinen behandlungstechnischen Schriften nirgendwo ausführlich gewidmet. Er pflegte einen Analysanden zunächst für einige Wochen in Probebehandlung zu nehmen, um die für ihn zentrale Frage der Analysierbarkeit – also der grundsätzlichen Indikation für das psychoanalytische Behandlungsverfahren – abzuklären. Er äußerte sich in diesem Zusammenhang skeptisch gegenüber den damals üblichen ärztlichen Explorationsgesprächen oder strukturierten Interviews zur Anamneseerhebung, denn »noch solange fortgesetzte Unterhaltungen und Ausfragungen in der Sprechstunde« könnten die Probebehandlung nicht ersetzen (Freud, 1913, S. 455). Es sei vielmehr gleichgültig, mit welchem Thema man die Behandlung beginne, in jedem Fall aber solle man den Patienten frei erzählen lassen und ihm den Anfangspunkt überlassen. Dabei solle er sich an der psychoanalytischen Grundregel orientieren und frei assoziierend alles mitteilen, was immer ihm in den Sinn komme, ohne eine selbstkritische Vorauswahl zu treffen und etwas zu filtern oder zu zensieren (Freud, 1913, S. 468). Dieses Vorgehen hat er in der Krankengeschichte »Katharina« (Freud, 1895) beiläufig an einer Alltagsbegegnung erstmals dokumentiert, was eine neuartige Form des Erstgesprächs darstellte, verglichen mit den damals üblichen, strukturierten Frage-Antwort-Explorationen.
Bis in die fünfziger Jahre des letzten Jahrhunderts hinein blieben nach Freud auch in der psychoanalytischen oder der Psychoanalyse nahestehenden Literatur zunächst Konzeptionen von Erstinterviews bestimmend, die sich mehr oder weniger an strukturierten psychiatrischen Interviews orientierten und eine tiefenpsychologische Anamneseerhebung anstrebten (Mertens, 2000; Wegner, 2000).
Gill, Newman und Redlich (1954, zitiert nach Mertens, 2000, S. 237) verstanden das Erstgespräch erstmals als eigenständige, von der späteren Behandlung abgetrennte Untersuchungseinheit und stellten die Interaktion zwischen Therapeut und Patient in den Mittelpunkt, wodurch neben der Diagnostik und der Indikation nun verstärkt die therapeutische Beziehung ins Zentrum des Erstgesprächs rückte. In ähnlicher Weise konzentrierten sich auch Balint und Balint (1961) in dem von ihnen entwickelten diagnostischen Interview auf die Beziehung zwischen Therapeut und Patient im Hier und Jetzt.
Die bis heute am meisten rezipierte und in der analytischen Behandlungstheorie tradierte Konzeption eines genuin psychodynamischen Erstgesprächs geht auf Argelander (1970) zurück. Er unterscheidet drei verschiedene Informationsebenen, die es zu erheben gelte, wobei »die Zuverlässigkeit des gewonnenen Persönlichkeitsbildes und seiner psychischen Störung mit der Integration der Informationen aus allen drei Quellen wächst« (ebenda, S. 15):
1. Objektive Informationen beinhalten Daten und Erlebnisse aus der Lebensgeschichte des Patienten, die Krankheitssymptome, die Dauer ihres Bestehens, Angaben zu Erlebnissen mit Familienangehörigen und Ähnliches.
2. Die...