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E-Book

Quellen sinnvollen Lebens

Woraus wir Kraft schöpfen können

AutorElisabeth Lukas
VerlagVerlag Neue Stadt
Erscheinungsjahr2014
Seitenanzahl160 Seiten
ISBN9783879964246
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis15,99 EUR
Wer ist ganz mit sich und seinem Leben zufrieden? Wer kennt nicht das 'Hätte ich ...', 'Wäre doch ...'? Elisabeth Lukas gibt in sieben Anläufen kurzweilig und fundiert Hilfestellungen, das eigene Leben neu anzuschauen, Potenziale zu erkennen - und die Geschichte des eigenen Lebens neu (weiter-) zu schreiben. Sie weiß aus einer schier endlosen Fülle professionell begleiteter Schicksale: Jedes Leben in jedweder Situation ist 'sinn-trächtig' und birgt noch nicht gehobene Möglichkeiten! Aus dem Inhalt: Kraft - aus der Philosophie, der Sinnfindung, der Literatur, der Logotherapie, der Wissenschaft, dem Glauben, der Stille.

Dr. habil. Elisabeth Lukas, geboren 1942 in Wien, österreichische Psychotherapeutin und klinische Psychologin, ist eine international bekannte Schülerin von Viktor E. Frankl, dem Gründer der Logotherapie, der sinnzentrierten Psychotherapie. Elisabeth Lukas spezialisierte sich auf die praktische Anwendung der Logotherapie, die sie methodisch weiterentwickelte. Bis 2003 leitete sie das Süddeutsche Institut für Logotherapie in Fürstenfeldbruck. Ihr Werk ist mit der Ehrenmedaille der Santa Clara University in Kalifornien für herausragende Verdienste auf dem Gebiet der Psychologie und mit dem großen Preis des Viktor-Frankl-Fonds der Stadt Wien ausgezeichnet worden.

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Leseprobe

Kraft schöpfen
aus der Philosophie


Der hohe Rang der Werte


Es ist eine der großen Aufgaben der Philosophie, Trösterin der Menschen zu sein. Um dieser Aufgabe gerecht zu werden, entwirft sie Theorien der Weltzusammenhänge. Es kann spannend sein, sich in einer stillen Stunde mit solchen Theorien zu beschäftigen, um schlussendlich eine eigene Lebensphilosophie zu entwickeln, die Halt gibt, wenn er am nötigsten ist. Die folgende Gegenüberstellung zweier fundamentaler philosophischer Sichtweisen soll dazu animieren.

Unter den philosophischen und religiösen „Bildern“ der Gegenwart befindet sich eines, das von bedeutenden Denkern angedacht und weitergesponnen wurde, nämlich die Polaritätsphilosophie. Ihr zufolge existieren von jeder Erscheinung der menschlichen Vorstellungswelt zwei polare Hälften („Yin Yang“), die einander gegenseitig begründen und wechselseitig bedingen. Angefangen beim Ein- und Ausatmen oder bei Spannung und Entspannung bis hin zu Wahrheit und Irrtum oder Leben und Tod pendelt alles in dieser „Zweiheit“, in die es – so eine der Hauptinterpretationen – durch die Spaltung einer Ur-Einheit gelangt sei. „Polare Struktur und Dynamik zeugen gleichsam vom Schmerz der Spaltung der Ur-Eins und vom Bestreben zur Wiedervereinigung“, heißt es etwa bei Bijan Amini, einem Vertreter der Polaritätsphilosophie.

Am Anfang stand demnach die Ur-Einheit, und am Ende solle die Wiedervereinigung der beiden Polhälften zu einer Ganzheit stehen. Dazwischen liege die Polarität, in der sich unser Seins- und Erkenntnishorizont abspiele. Amini leitete daraus ab, dass auch jede Lebenskrise Gefahr und Chance in sich berge und dementsprechend mit stumpfsinniger Verzweiflung oder mit sinnorientiertem Wachstum beantwortet werden könne, je nachdem, welcher der beiden Pole im Visier des Begreifens einer Person liege. Er meinte, man solle jedes kritische Geschehen als die „nur“ polare Hälfte eines Lebensgeschehens betrachten. Das eigene Reifen bestehe dann im Suchen und Deuten und Finden der anderen Hälfte. Im Idealfall solle eine betroffene Person selber die Geschichte ergänzen und vollenden.

Bijan Amini erläuterte seine Thesen auf einer Psychotherapie-Tagung in Davos 1996 anhand eines bewegenden Filmbeispiels: Zum sterbenden Gandhi kam ein Hindu, der ein Muslimkind getötet hatte aus Rache für den Mord an seinem Sohn, den die Muslime zuvor umgebracht hatten. Der Teufelskreis zwischen empfangenem und ausgeteiltem Schmerz im tödlichen Verfangensein zwischen Leid und Schuld schien aussichtslos. Die Krise war perfekt. Dennoch hatte sie noch eine Chance: eine ganz andere Seite, einen „Gegenpol“, wie Amini erläuterte. Gandhi brachte ihn in seinem Rat an den Hindu auf den Punkt: „Ich weiß einen Weg, der dich aus deiner Qual herausführt. Suche ein Kind, das keine Eltern mehr hat, dessen Vater und Mutter umgekommen sind, einen Jungen ..., und behandle ihn wie deinen Sohn. Er soll ein Muslim sein, hörst du? Und erziehe ihn auch dementsprechend!“

Im Kontext des Beispiels verwies Bijan Amini auf Viktor E. Frankl, der in seinem Leben und Werk dargelegt hat, dass es kein noch so hartes Schicksalsereignis gibt, dem der Mensch nicht einen Sinn abgewinnen könne. „Je schwieriger ein Sinnrätsel zu lösen ist, umso größer ist die Herausforderung für das Bewusstsein, das heißt, umso größer ist die Reifungschance des Menschen“, so Amini. Dagegen ist gewiss nichts einzuwenden.

Die Lösung des obigen „Hindu-Rätsels“ mutet geradezu „klassisch“ an im Franklschen Sinne. Schuld kann nur getilgt werden mittels Reue und Wiedergutmachung, wobei die Wiedergutmachung in Ausnahmesituationen durchaus an einem anderen Subjekt oder Objekt erfolgen darf als an demjenigen, das man geschädigt hat. Ein getötetes Kind ist ja durch nichts zu ersetzen. Nichts kann an ihm jemals wiedergutgemacht werden. Und dennoch ... Die Liebe und Sorgfalt einem anderen, heimatlosen Kind gegenüber mag, auf die Waagschale ehrlicher und echter Reue geworfen, schwer wiegen; so Gott will, schwer genug wiegen, um den bohrenden Schmerz in eine sanfte Trauer zu verwandeln, mit der man leben kann.

Allerdings hätte Viktor E. Frankl die theoretische Untermauerung jenes Gandhi-Rates durch die Polaritätsphilosophie nicht mitgetragen. Denn diese suggeriert, vereinfacht ausgedrückt, ein Nebeneinander zweier gleichwertiger Pole, eben zweier Hälften, in die die Ur-Einheit einst zerbrochen sein soll. Wie eine Nuss, die in zwei Schalen zerbirst, wenn man darauf tritt. Entdeckt man nun die zweite, verloren gegangene bzw. weggesprengte Hälfte, lässt sie sich mit der ersten Hälfte wieder zur Einheit verbinden, und alles ist „gut“, weil es dem heilen Urzustand entspricht.

Freilich gibt es ein solches Nebeneinander zweier gleichwertiger Pole. Das bereits erwähnte Ein- und Ausatmen oder der Rhythmus von Spannung und Entspannung gehören dazu. Tag und Nacht, Mann und Frau, Hitze und Kälte sind weitere Pol-Paare unter vielen. Aber mit Lebenserhaltung und Lebensvernichtung, Wahrheit und Irrtum, Krieg und Frieden, Liebe und Hass und Ähnlichem hat es wohl eine andere Bewandtnis. Paare der letzteren Kategorie stehen nicht gleichwertig „nebeneinander“, sondern in einem „Übereinander“-Verhältnis, und sind daher eigentlich auch keine Paare und schon gar keine Pole. Auf sie trifft der berühmte Spinozasatz zu: „Die Wahrheit ist die Norm ihrer selbst und des Falschen“ („veritas norma sui et falsi est“), was bedeutet, dass es sich bei ihnen jeweils um einen einzigen Wert handelt, der in sich und aus sich heraus da ist, also nicht erzeugt wird im Kontrast zu einem Unwert als Gegenpol, sondern „seine eigene Norm“ ist, seine eigene ontologische Größe – eben Werthaftigkeit – besitzt. Der Mann ist kein höherer Wert als die Frau, aber die Lebensbewahrung ist ein höherer Wert als die Lebensvernichtung – ein Gespür davon hat die Natur allen ihren Lebewesen in Form eines unüberbietbaren Überlebenswillens eingehaucht. Analog ist die Wahrheit der höhere Wert gegenüber dem Irrtum, die Liebe der höhere Wert gegenüber dem Hass usw. Der jeweilige Wert, der aus sich selbst heraus existiert, ist sozusagen der favorisierte Pol, der ethisch vertretbare, der vom Logos gezeichnete Pol, das Soll, auf das alles Sein zuläuft. Und was ist der andere „Pol“? Eine Null. Er ist aus sich selbst heraus nichts. Er ist nur die Abweichung vom Wert, die Schwankungsbreite, in der ein Wert sich selbst verfehlt. Die Missachtung des Lebens ist die Abweichung von der uns aufgetragenen und abverlangten Wertschätzung des Lebens. Der Irrtum ist die verfehlte Wahrheit. Der Hass ist die misslungene Liebe. Der Widersinn ist das Nein zum Sinn. Derlei „Gegenpole“ sind keine Pole, sie entpuppen sich als bloße „Neins“ zu den Polen. Sie sind die faulen Anteile der Nüsse und nicht ihre Hälften. Existiert der Wert nicht, existiert die Abweichung von ihm auch nicht (ohne Sonne gibt es keinen Schatten); aber existiert die Abweichung nicht, dann existiert der Wert noch immer (auch ohne Schatten gibt es Sonne).

Baruch de Spinoza hat den dargestellten Sachverhalt mit der Unumkehrbarkeit von Aussagen einleuchtend illustriert. Der Irrtum ist die Abweichung von der Wahrheit, aber die Wahrheit ist nicht die Abweichung vom Irrtum. Die Kenntnis des Irrtums erzählt nichts über die Wahrheit. Die Kenntnis der Wahrheit hingegen erzählt alles über den Irrtum. Ein banales Beispiel: Wenn jemand weiß, dass ein bestimmter Tisch nicht 100 Euro kostet, dann kennt er noch lange nicht den wahren Preis dieses Tisches. Wenn jemand hingegen weiß, dass der besagte Tisch 130 Euro kostet, dann kennt er gleichzeitig auch die Menge sämtlicher falschen Preise (der Tisch kostet nicht 129 Euro, nicht 128 Euro ...). Das Wissen um den wahren Preis ist also umfassender. Wie könnten richtig und falsch dann polare Begriffe sein? Das Richtige ist das Maß des Falschen und nicht umgekehrt.

Genauso ist es mit den Lebenskrisen. Sie sind Gefahr und Chance, das stimmt, aber Gefahr und Chance stehen nicht in Egalität „nebeneinander“. Die Chance rangiert „höher“. Die Chance ist das Wesentliche, auf das jede Krise hingeordnet ist. Sie ist die verborgene Wertgröße, die in der Krise schlummert. Wer die Chance erkennt, begreift auch die Gefahr, der er im Ergreifen der Chance entrinnt. Wer die Gefahr erkennt, muss die Chance zum Entrinnen noch lange nicht begriffen haben. Die Gefahr, in einer Krise seelisch zu verunglücken, ist die Abweichung vom Sinn der Krise, ist das Nicht-Verstehen des ihr innewohnenden Sinnpotenzials bzw., in den Worten Bijan Aminis, das Nichtlösen ihres Sinnrätsels. Gerade das Gandhi-Beispiel verdeutlicht dies exzellent. Im Film ruft der verzweifelte Hindu dem Altmeister Gandhi entgegen: „Ich ende mal wie ein Tier ... Ich tötete ein Kind. Ich habe ein Kind getötet, verstehst du?“ Er hat die Gefahr der Krise glasklar vor Augen: den Untergang des Menschlichen (wie ein Tier!) in der Schuld. Aber er sieht deswegen noch keine Chance. Erst als ihm eine solche eröffnet wird, weiß er um beides: Untergang und...

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