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Radikale Reformation

Der "Linke Flügel" und seine Bedeutung für heute

AutorJens Stangenberg
VerlagBooks on Demand
Erscheinungsjahr2019
Seitenanzahl320 Seiten
ISBN9783748113430
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis7,99 EUR
500 Jahre Reformation. Ein guter Anlass, um sich die Ereignisse, Themen und Personen aus der Reformationszeit in Erinnerung zu rufen. Häufig sind nur die Namen der großen Reformatoren bekannt: Martin Luther, Johannes Calvin oder Huldrich Zwingli. Weniger bekannt ist der "Linke Flügel" oder die sogenannte "Radikale Reformation". Schon damals wurden viele innovative Überlegungen angestellt, die jedoch leider nicht breitflächig zum Zuge kamen. Anhand von einzelnen Kurzbiographien wird die Vielfalt der Reformationsdynamik dargestellt und in die heutige Zeit verlängert.

Jens Stangenberg hat evangelische Theologie studiert und arbeitet seit 1991 als Pastor im Bund Evangelisch-Freikirchlicher Gemeinden in Deutschland K.d.ö.R. Seit 2005 engagiert er sich in der Zellgemeinde Bremen. Er ist davon überzeugt: die täuferische Tradition bietet viele interessante Anregungen für die heutige Gestalt von christlichen Gemeinden.

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Leseprobe

#02 Überblick - Zeitraum, Regionen, Deutungslinien und
Benennungen

Radikale Reformation. Was meint das? Im Nachfolgenden geht es um einen groben Überblick, um den Zeitraum und die Regionen, also um das Wann und das Wo. Es geht um Deutungslinien: Wie sind die radikalen Strömungen in den späteren 500 Jahren aufgenommen worden? Und es geht um Benennungen. Wie nennen wir das, wovon wir reden oder worüber wir nachdenken wollen?

1) Zeitraum

Wir werden insbesondere die frühen Jahre der Reformation in den Blick nehmen. Alles war im Umbruch und brodelte. Eigentlich müsste man schon im 15. Jahrhundert oder noch früher beginnen. Bei Jan Hus und den Hussiten in Prag oder bei der Kirchenkritik der Humanisten. Wenn wir aber über „500 Jahre Reformation“ nachdenken, dann geht es um das Jahr 1517 und die 95 Thesen, die von Martin Luther formuliert wurden und die er am 31. Oktober - so sagt es die Überlieferung - veröffentlichte. Deswegen feiern wir den 31. Oktober als Reformationstag im Jahreszyklus.

Im Jahr 1521 fand der berühmte Reichstag zu Worms mit Kaiser Karl V. statt. Dort soll Martin Luther der Legende nach gesagt haben: „Hier stehe ich, ich kann nicht anders. Gott helfe mir. Amen.“ Wahrscheinlich sind die Umstände ein bisschen anders gewesen, und doch trifft dieser Satz den Kernpunkt der Konfrontation.

1525 dann der Höhepunkt und das tragische Ende der Bauernaufstände, die Schlacht bei Frankenhausen. Thomas Müntzer ist die Person, die wir uns in diesem Zusammenhang genauer ansehen werden. Fast gleichzeitig wurde 1525 die erste Glaubenstaufe in Zürich vollzogen. Dort begann die Entwicklungslinie der sogenannten Täufer.

1529 - bereits über 10 Jahre nach dem Thesenanschlag - fand der Zweite Reichstag zu Speyer und später das Marburger Religionsgespräch statt. In diesem Zusammenhang ging es darum, dass Fürsten und Reichsstädte eine ungehinderte Ausbreitung des Evangelischen Glaubens forderten. Die protestantische Bewegung, die ursprünglich eine innerkirchliche Reform sein sollte, fng an sich zu formieren und als eigenständige Kirche zu verstehen. Das Stadium der Bekenntnisbildung begann. Überzeugungen wurden aufgeschrieben und es wurde postuliert, was gegenüber dem katholischen Glauben anders war und wofür das Lutherische und das Reformierte stand. 1517 bis 1529 befinden wir uns in der reformatorischen Hauptphase, bei der wir uns die verschiedenen Entwicklungsströmungen und theologischen Muster ansehen werden.

1534/35 dann die tragische Geschichte in Münster: ein radikales Täuferreich, das errichtet wurde. Später wird es als Unglück in der täuferischen Linie gedeutet werden. Leider ist es zur Vorlage für viele spätere Verurteilungen geworden, mit der die Täuferbewegung insgesamt abgelehnt wurde. Man muss das aber differenzierter betrachten.

In den 40er- und 50er-Jahren des 16. Jahrhunderts wirkte Menno Simons, nach dem später die Mennoniten benannt wurden. Das ist eine ganz frühe Täuferbewegung, die bis in die heutige Zeit sehr spannende Akzente setzt.

2) Regionen

Zur damaligen Zeit gab es das Heilige Römische Reich, das sich sehr breit über Europa erstreckte: Frankreich, Deutschland bis hin nach Polen, Schweiz, Österreich und Tschechien. Über diesem Gebiet lag eine Atmosphäre für eine Reformation. Etwas schwelte, brodelte, und es entstand eine Art Flächenbrand. Die Zeit war reif für Veränderungen. Wittenberg ist mit dem Namen Martin Luther verbunden, Thüringen und Frankenhausen, mit dem Namen Thomas Müntzer, Zürich mit Huldrich Zwingli und den Schweizer Täufern, Straßburg mit Martin Bucer. Dort, in Straßburg, waren die Spiritualisten stärker vertreten. Münster, die Täuferstadt, habe ich schon erwähnt. Das Reich Gottes sollte radikal politisch auf Erden errichtet werden. Emden, die Stadt in Niederdeutschland, wie man damals sagte, wurde zum Zentrum für die nördliche Täuferbewegung und deren Ausbreitung. Böhmen und Mähren, das Gebiet des heutigen Tschechien und der Slowakei, dort begegnen uns die täuferischen Hutterer mit ihren Bruderhöfen.

Diese kurze Skizze macht deutlich: Es gab verschiedene Zentren mit unterschiedlichen Erscheinungsformen. Nachrichten breiteten sich nicht über das Internet aus. Jedoch gab es gerade neu den Buchdruck. Reformatorische Botschaften wurden auf Flugschriften gedruckt und die Neuigkeiten breiteten sich mithilfe dieser Handzettel im ganzen Land aus.

3) Deutungslinien

Lange Zeit wurde der Begriff „Schwärmer“ sehr abfällig verwendet. Das hing damit zusammen, dass vieles durch die „Brille“ von Martin Luther und Philipp Melanchthon gelesen wurde. Deswegen war „Schwärmer“ ein sehr abfälliges Schimpfwort. Es bezeichnete alles, was nicht der Überzeugung von Martin Luther entsprach. Selbst Katholiken und Reformierte wurden mit diesem Wort bedacht. Letztendlich führte das zu einer Geschichtsschreibung der Sieger. Es war eine Perspektive derjenigen, die die Oberhand gewonnen hatten.

Als Zweites gab es eine soziologisch und allgemein-historisch orientierte Deutungslinie: Max Weber, Ernst Troeltsch und deren religionssoziologische Arbeiten. In der Schrift „Soziallehren der christlichen Kirchen und Gruppen“ von 1912 unterscheidet Ernst Troeltsch drei verschiedene Typen von Kirchen: (1) Eine Kirche, die gesamtgesellschaftlich institutionell arbeitet, (2) Sekten, was damals nicht abfällig gemeint war - heute würde man von „Religiösen Sondergruppen“ sprechen - und (3) den Bereich der Mystik. Dazu gehören Einzelpersonen, die von einer innerlichen, individuellen Sichtweise ausgehen, ohne dass sich daraus zwingend gemeinschaftsbildende Faktoren ergeben. Das Bemühen der Soziologie und der allgemeinen Historik war, den diffamierenden Schwärmerbegriff zu überwinden und die Radikale Reformation nicht aus einer verachtenden Haltung heraus zu betrachten.

Als Drittes gibt es eine Linie, in der diejenigen Freikirchen, die aus der radikalen Reformation heraus entstanden sind, aus der geschichtlichen Forschung ihre Identität gefestigt haben. Genannt waren schon die Mennoniten. Auch die knapp 100 Jahre später entstandenen Baptisten beziehen sich auf die Täufer. Eine gewisse Gefahr besteht darin, dass es bei so einer Betrachtungsweise zu einer Enthistorisierung kommt. Gemeint ist: Die Historie wird aus Eigeninteresse umgedeutet und instrumentalisiert. Letztendlich gibt es aber immer einen gewissen Blickwinkel, wie geschichtliche Ereignisse betrachtet werden.

Als Viertes treffen wir rund um die Person von Thomas Müntzer auf die Deutungslinie der marxistischen Geschichtsschreibung: die Theorie der frühbürgerlichen Revolution, die ab 1960 in der früheren DDR vertreten wurde. Bereits Karl Kautzky hatte Thomas Müntzer als einen Vorläufer des neueren Sozialismus betrachtet.

All dieses macht deutlich, dass Forschung häufig interessengeleitet ist. Es gibt keinen vollständig neutralen Zugang zu den geschichtlichen Ereignissen. Auch die nachfolgenden Ausführungen geschehen unter einem gewissen Blickwinkel. Es geht um Impulse für die Gegenwart, für unsere heutige kirchliche oder gemeindliche Arbeit. Wir verfolgen also nicht nur ein historisches Interesse. Darüber hinaus möchten wir aus der Radikalen Reformation für unsere heutige Zeit Inspiration gewinnen.

4) Benennungen

In Bezug auf die Radikale Reformation gibt es kein einheitliches Bild. Wir haben es mit einer wabernden Protestbewegung zu tun, die zum Teil äußerlich radikal, zum Teil radikal nach innen gekehrt war. Die Forschung versucht, ein immer klareres Bild zu bekommen. Das ist ihr in den letzten Jahrzehnten deutlich gelungen. Dabei muss man in Erinnerung behalten: Die geschichtlichen Dokumente sind durch die Verwendung der Begriffe „Schwärmer“ und „Wiedertäufer“ stark polemisch gefärbt. Vertreter der Radikalen Reformation wurden - oftmals ein bisschen mitleidig - als „Stiefkinder der Reformation“ bezeichnet. Teilweise sprach man auch neutraler von „Randströmungen der Reformation“ oder von „nebenreformatorischen Bewegungen“. Das ist an sich gut gemeint, gleichzeitig aber auch unkorrekt, denn diese Bewegungen waren keine Randströmungen. Sie verstanden sich als „im Herzen der Reformation“, Akteure von Anfang an. Sie wollten genauso wie die anderen Reformatoren die alte Kirche erneuern. Insbesondere ging es ihnen darum, die apostolische Ursprünglichkeit der Gemeinde wiederherzustellen. Damit waren sie zwar nicht so institutionell verfasst wie die Großkirchen, aber dennoch mittendrin und mittendrunter in den Dynamiken der Reformationszeit.

Ein zweiter Begriff, der Verwendung fand, war „Nonkonformisten“. Er bezeichnete Leute, die nicht konform, nicht einer Meinung mit dem Mainstream waren. Allerdings hängt die Bedeutung des Begriffes davon ab, wo sein Bezugspunkt liegt: also „nonkonform“ in Bezug worauf? Auch Luther war „nonkonform“ gegenüber der katholischen Kirche. Demnach gab es viele verschiedene Arten von Nonkonformisten. Später in England wurde der Begriff...

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