Hongkong, März 1989
Lieber Andrea, Ich habe keine Zeit mehr, mich mit Unwichtigem abzugeben. Das Leben ist zu kurz dafür.
Im Sinne einer persönliche Wachstums-Übung habe ich letzthin eine Liste von 6 Menschen zusammengestellt, die mir wichtig sind, mit denen ich mehr Zeit verbringen möchte und von denen ich annehme, dass sie sich ebenfalls untereinander gut verstehen würden. (Nur schon diese Übung! – solltest Du auch mal machen!)
Nun, ich war schockiert! Als ich die Liste beendet hatte und sie aus der Distanz betrachtete, fiel ich fast vom Stuhl....
Ich bin ein weltoffener, liberal denkender Mann. Ich wohne in Hongkong weil die Schweiz, ja Europa, zu eng für mich sind. Ich bin kein Rassist (schliesslich verliess ich Südafrika, weil ich überzeugt bin, dass nur schon meine weisse Hautfarbe in einem vom Apartheidregime regierten Land mich zum Nutzniesser und somit zum Unterstützer von dessen menschenverachtender Politik macht). Ich bin kein Macho (bewundere, ja verehre Frauen. Ich habe am Anfang meiner Karriere keine Probleme gehabt, eine Chefin über mir zu akzeptieren und setze mich heute, selber Chef, in meinem Unternehmen immer für die Gleichstellung der Frau ein). Meine Liste sollte dies reflektieren. Würde man denken.
.....wie aber sieht sie aus, meine Liste? Alles Männer! Alle weiss! Hier in Hongkong! Unvorstellbar, dass dies meine Liste sein soll. Nur eine einzige Ausnahme: eine Chinesin. Wie gesagt, eine sehr interessante und Gedanken provozierende Übung.
Du bist einer auf meiner Liste.
Die anderen erhalten denselben Brief, denn ich will es nicht beim ‚Üben‘ bewenden lassen. Hier mein Vorschlag: Lass uns alle einmal pro Monat zusammentreffen. Nicht zu einem Tratsch-und-Klatsch-Abend oder zu einer Party. Nein, zu einem angeregten Gespräch, an dem nur mitmacht, wer gewillt ist, sich ernsthaft, offen und tief mit einem gegeben Thema auseinander zu setzen. Das Thema wird vom jeweiligen Gastgeber gewählt und vorbereitet. Wir wechseln uns als Gastgeber ab. Zum jeweiligen Thema kann zusätzlich ein Sprecher eingeladen werden. Ansonsten bleibt der Kreis wie hier vorgeschlagen.
Machst Du mit? Liebe.
René
Ich bin Andrea. Schweizer. Aus dem Tessin, dem italienisch sprechenden Teil des Landes. 1983 kam ich nach Hongkong. Für eine italienische Sicherheitsfirma mit weltweiter Aktivität. Primär ein Dienstleistungsbetrieb. Unser Zweitgeschäft, der Kauf und Verkauf von Überwachungsanlagen, hatte sich zum wichtigsten Gewinnbringer entwickelt. Gleich wie mein Freund René war ich damals 30. Wie er hatte ich einige Auslandstationen als Teil meiner Karriere durchlaufen und stand vor dem beruflichen Durchbruch. Ich war zweiter Mann im Hongkonger Büro und hatte einen deutschen Chef. Noch im selben Jahr, mein Chef lud einen „zu pflegenden“ Kunden zum Mittagessen im vornehmen Mandarin Hotel ein, lernte auch ich diesen Kunden kennen – Es war René. Eine geschäftliche Beziehung entstand, die sich prompt zu einer Freundschaft entwickelte. Das Hongkong jener Tage war dynamisch, elektrifizierend. Östliche Kulturen verschmolzen mit westlichem Business. Ein Eldorado für Jungunternehmer! Der Ausdruck Yuppie wurde zu jener Zeit für junge, aufstrebende Managertypen an der Wallstreet in New York geprägt. Solche Yuppies wurden in Hongkong belächelt, kamen doch die Intensität, der Druck, aber auch die Chancen und Möglichkeiten New Yorks bei weitem nicht an jene in Hongkong heran. In New York hatten sie ja keine Ahnung. Der riesige chinesische Markt war im Begriff sich zu öffnen, Japan hatte sich als Welthandelsmacht etabliert, die ‚Tigerstaaten‘ Korea, Taiwan und Singapur waren am Erwachen, und Malaysia und Indonesien mit ihren Rohstoffvorräten und totalitären Regimes präsentierten sich zwar chaotisch, aber gerade deshalb wuchs daraus märchenhafter, unternehmerischer Spielraum. Mitten drin: das Handelsund Finanzzentrum Hongkong! Immer noch unter Englischer Obhut, aber mit einem absehbaren Ende derselben: 1997. Man konnte den Countdown förmlich ticken hören. Und jeder wollte in dem verbleibenden Dutzend Jahre noch Ernte einfahren, wie ein chinesisches Sprichwort sagt. Und zwar so fette Ernte wie irgend möglich. Ihre Definition mochte unterschiedlich gewesen sein. Für die einen ging es um Reichtum, für die andern um Ruhm. In einem aber waren sich alle einig: jetzt oder nie. Die Laisser-faire-Attitüde der Regierung, modernste Kommunikationstechniken, die Anwesenheit aller erdenklichen Global Players, die einmalige geopolitische Lage und die bedeutende Geschichte Hongkongs, die immer auch die Geschichte Chinas war, öffneten ehrgeizigen, agilen und strebsamen Menschen Tür und Tor. Obwohl jeder mitspielen konnte, waren die Intensität und die Konkurrenz derart, dass nur die Fittesten der Fitten zu überleben vermochten. Entweder man genoss die Spannung als ein Art Lebenselixier und setzte sie für sich um, oder es war Stress, an dem man zerbrach.
Im Jahre 1986 war mein deutscher Chef auf einer Geschäftsreise in Amerika. Am 31. August war er einer der 269 Passagiere, die auf den Flug 007 der Korean Airlines von New York nach Korea gebucht waren. Er hatte eine ermüdende, stressige Reise durch mehre Städte Amerikas hinter sich. Frustriert und erschöpft warf er sich auf den Rücksitz eines Yellow Cab, um zum Flughafen zu fahren. Mit knapp 40 fragte er sich, was das überhaupt solle, weshalb er sich das antat. Eine ganze Woche war er von einem Termin zum nächsten gehetzt, hatte nur immer übers Geschäft gesprochen und sich weder eine der berühmten Broadway Shows angesehen noch das Greenwich Village besucht, um sich im Blue Note ein Jazzkonzert anzuhören, wie er das gerne getan hätte. Und für das Guggenheim-Museum hatte die Zeit auch nicht gereicht – all die vielen kulturellen Angebote, und keines genutzt.
Am John F. Kennedy-Flughafen zahlt er den Cabbie und schleppt sich an den Erstklass-Check-in-Counter. Eine gute Stunde würde er nun in der VIP Lounge herum hängen und freudlos am Champagner nippen, um danach in seinem Ledersessel in der Boeing 747 zurück nach Asien zu jetten. Ein müder Lohn für seine Mühe, und sicherlich kein Ersatz für den verpassten Spass. Das konnte es doch nicht gewesen sein! Scham über sein vergeudetes Leben und Zorn über die eigene Karrieregeilheit quollen in ihm auf. Tiefe Trauer, am Leben vorbei zu leben, lähmte ihn, und eine dunkle, gnadenlose Depression schlich in sein Herz. Will ich so weitermachen? Wozu?
Es muss wohl in einem Anflug von Leidenschaft für das Leben geschehen sein, als er aufstand, sein Ticket zerriss, den Flughafen verliess und sich ins New Yorker Nachtleben stürzte.
Bei Korean Air gibt es die Flugnummer 007 nicht mehr. Sie wurde nie mehr gebraucht: Der Flug KAL 007 wurde in der Nacht auf den 1. September abrupt beendet; in der Nähe der russischen Insel Sachalin schoss ein sowjetischer Militärpilot das Flugzeug ab. Bis zum heutigen Tag wird nicht nur von verblendeten Verschwörungstheoretikern angenommen, dass die Flugpassagiere Opfer eines späten und frevelhaften Aktes im Kalten Krieg geworden sind.
Ein Zufall? Ein Wink des Schicksals? Jedenfalls erzählte mir mein Chef später, dass seine Rettung vor dem sicheren Tod für ihn wie eine Wiedergeburt gewesen sei; zurück in Hongkong vollzog er einen radikalen Sinneswandel. Nach wenigen Monaten kündigte er seine Stelle. Anfang der 90er Jahre hörte man von ihm, er lebe in Australien und gebe Surfunterricht.
Meine eigene Karriere verlief bewundernswert, mindestens sagen mir das andere. Auch ohne den Sinneswandel meines Chefs wäre es wohl nur eine Frage der Zeit gewesen, bis ich nicht nur die Verantwortung für das Hongkonger Büro und für die geschäftliche Entwicklung in China, sondern für den ganzen Fernen Osten erarbeitet haben würde. Rückblikkend kann ich das heute in aller Bescheidenheit sagen. Damals hätte ich mich ab solchen Worten geschämt.
Als René und ich das allererste persönliche Gespräch führten, gestanden wir uns gegenseitig, für den Moment Karriere machen zu wollen und dann später 'auszusteigen‘ – ein Ausdruck, der Anfang der 80er Jahre noch nicht existierte. Ich erinnere mich lebhaft an jenes erste Gespräch auf dem Balkon eines alten Hauses in Stanley anlässlich einer Party bei den Vögtlis.
Stanley war ein Fischerdorf. Das letzte in Hongkong. Es gab dort noch Wellblechhütten, in denen Menschen wohnten. Ein ganzer Dorfteil war voll davon. Die üppige Vegetation auf der Südseite der Insel widersprach in jeder Hinsicht dem Bild, das man sich im Westen von Hongkong macht. Kein Beton. Keine Hektik. Grüne, saftige Hügel. Das Meer. Alte chinesische Dschunken. Der Gemüseund Früchtemarkt mit seinen reichen Düften. Nur feucht war es, wie überall in Hongkong. Wenn man in dieser Feuchtigkeit als Westler aus dem Flugzeug steigt, ist es, als ob man gegen eine Wand ginge. Schwer, klebrig. Die Haut glänzt, die Haare sind strähnig.
Trotz der Feuchtigkeit und der Hitze standen wir Männer draussen auf dem Balkon. Träumerisch schweiften unsere Blicke über die Bucht aufs Meer hinaus zu den nächsten kleinen Inseln am Horizont. Die...