Einführung
Wir erleben Raum und Zeit immer und überall, an jedem Ort und zu jedem Zeitpunkt unseres Lebens, einfach ständig! Alles was geschieht, geschieht in Raum und Zeit. Wir leben in Raum und Zeit. Wir bewegen uns durch Raum und Zeit, ohne je einen Gedanken daran zu verschwenden, was es denn damit eigentlich auf sich hat. Warum sollten wir auch? Raum und Zeit sind eben, was sie sind: die grundlegendsten Gegebenheiten der Natur, die Bühne auf der einfach alles passiert; starr und unveränderlich der Raum, stoisch dahinfließend die Zeit, auch wenn sie uns mal zäher und mal flüchtiger vorkommt.
Bis in das frühe 20. Jahrhundert hinein sahen Physiker und Philosophen keinen Anlass, dieses intuitive Verständnis von Raum und Zeit in Frage zu stellen. Die etablierten physikalischen Theorien erwiesen sich als ungeheuer erfolgreich. Alle natürlichen Vorgänge schienen aus den klassischen Disziplinen der Physik erklärbar, aus der Mechanik, der Elektrodynamik und der Thermodynamik. Zusammen mit Newtons Gravitation ließ sich sogar der Lauf der Gestirne vorhersagen, noch dazu in beeindruckender Präzision. Mehr geht nicht, so konnte man meinen. Die Natur der Dinge schien im Wesentlichen erschlossen, und letzte offene Details würden sich schon bald klären.
Aus dem Dickicht jener »Details« ragte eine gravierende Unstimmigkeit im Zusammenspiel zwischen Mechanik und Elektrodynamik hervor. Neue Experimente zur Ausbreitung des Lichts bereiteten den Forschern Kopfzerbrechen. Die führenden Physiker des ausgehenden 19. Jahrhunderts gingen daran, sich physikalische Mechanismen und mathematische Kniffe auszudenken, um den Makel zu bereinigen und die Disziplinen der klassischen Physik in Einklang zu bringen. Doch der Durchbruch zu einem tieferen Naturverständnis sollte damit nicht gelingen.
Im Leben, in der Geschichte und in der Wissenschaft sind es aber häufig gerade Krisen, die einen Weg zu völlig neuen Möglichkeiten weisen – so auch in diesem Fall. In seinem sogenannten »Wunderjahr« 1905 nämlich trat der junge, völlig unbekannte Physiker und Patentamtsangestellte Albert Einstein in seinem kleinen Büro in Bern auf den Plan, um die Physik von Grund auf neu zu gestalten. Mit seiner Schrift »Zur Elektrodynamik bewegter Körper« legte er den Grundstein einer Theorie, die später als Spezielle Relativitätstheorie berühmt wurde und das physikalische Weltbild revolutionierte. Die seltsamen Licht-Experimente ließen sich plötzlich ganz zwanglos erklären, wenn nur zwei einfache Bedingungen (die Sie in diesem Buch kennenlernen werden) erfüllt waren. Konsequent zu Ende gedacht, führten diese Postulate zu einer völlig neuen Vorstellung von Raum und Zeit.
Einstein entlarvte das alte Bild von Raum und Zeit als Trugbild unserer eingeschränkten Erfahrungswelt. Urteile über Zeitintervalle und Längenmaßstäbe hängen nämlich in Wirklichkeit entscheidend davon ab, welcher Beobachter sie fällt. Was für den einen Beobachter gleichzeitig passiert, geschieht für einen anderen zeitversetzt – und sie haben beide Recht, denn Raum und Zeit erweisen sich als relativ! Ein Astronaut, der nach einer langen Reise durch das All auf die Erde zurückkehrt, ist plötzlich jünger als sein Zwillingsbruder! Auch Begriffe wie Masse und Energie landeten auf Einsteins geistigem Seziertisch, wurden von ihm kritisch hinterfragt und neu bewertet. Das Ergebnis, die berühmte Formel , kennt heute beinahe jeder Mensch, und sei es nur als T-Shirt-Aufdruck. Und das allerbeste dabei: Alle Vorhersagen der Speziellen Relativitätstheorie erwiesen sich in späteren Experimenten als richtig. Bis heute kennt die Physik kein einziges Experiment, das der Speziellen Relativitätstheorie widersprechen würde.
So wuchtig die Spezielle Relativitätstheorie auch über die Physik hereingebrochen war, Einsteins Ruhm und Mythos gründen auf einen späteren, seinen eigentlichen Geniestreich: Die Allgemeine Relativitätstheorie offenbart die Natur der Gravitation. Was wir in jedem Moment unseres Lebens als Schwere oder »Schwerkraft« empfinden, stellt sich in Wahrheit als Scheinkraft in einer gekrümmten Raumzeit heraus! Unsere gesamte Kenntnis von der Struktur des Universums fußt auf Einsteins Theorie der Gravitation. Phänomene wie Schwarze Löcher und Gravitationswellen entsprangen als Ideen der Allgemeinen Relativitätstheorie, bevor sie viel später als Realität erkannt wurden. Der Augenblick, als die Krümmung von Lichtstrahlen mithilfe einer Sonnenfinsternis experimentell bestätigt wurde, machte Einstein schlagartig weltberühmt.
Niemand von uns wird behaupten können, die Effekte der Relativitätstheorie intuitiv zu »begreifen«. Unser Alltag der kleinen Geschwindigkeiten, des begrenzten räumlichen Erlebens und der vergleichsweise schwachen Gravitation bietet einfach keine Möglichkeit, unsere Wahrnehmung und unseren Verstand entsprechend zu schulen. Wir können kein Gefühl dafür entwickeln, dass die Zeit für verschiedene Beobachter unterschiedlich rasch abläuft, dass bestimmte Raumintervalle an sich keine Bedeutung haben, oder was wir uns unter einer gekrümmten Raumzeit überhaupt vorstellen sollen. Es verhält sich genau wie mit der Oberfläche unserer Erde, die den Menschen so lange als flache Scheibe vorkommen musste, bis es überzeugende Belege für ihre Kugelgestalt gab. Gerade daher stellt es eine der aufregendsten und genialsten Leistungen der menschlichen Geistesgeschichte dar, derart tief in die Natur von Raum und Zeit, von Masse, Energie und Gravitation vorgedrungen zu sein.
Und umso bemerkenswerter ist es auch, dass wir Nachgeborenen gar keine besonderen Gaben brauchen, um die entscheidenden Ideen und Inhalte der Relativitätstheorie zu verstehen – jedenfalls, solange wir nicht das Bedürfnis haben, sie mathematisch stringent zu formulieren. Denn beide Relativitätstheorien, die spezielle wie die allgemeine, beruhen auf äußerst einfachen Grundannahmen, die Einstein lediglich konsequent zu Ende gedacht (und gerechnet!) hat. Ich lade Sie ein, den Gedanken des Jahrtausendgenies Albert Einstein zu folgen. Freuen Sie sich auf einen aufregenden neuen Blick auf die physikalische Welt.
Über dieses Buch
Was ist Bewegung? Was sind Raum, Zeit und Gravitation? Warum glauben die Physiker, dass Raum und Zeit gekrümmt sind? Was soll das überhaupt bedeuten und welche Konsequenzen ergeben sich daraus? Das sind die großen Themen, über die Sie in diesem Buch Grundlegendes erfahren werden. Das Ziel dieses Buchs ist es, Sie in die Lage zu versetzen, die Ideen der Relativitätstheorie und ihre Konsequenzen Schritt für Schritt nachzuvollziehen.
Konventionen in diesem Buch
Das ist schnell gesagt:
- Hinter den häufig erscheinenden Symbolen oder »Icons« finden Sie besonders wichtige und zentrale Aussagen.
- Begriffe, die innerhalb eines »Icons« definiert werden, sind fettgedruckt.
- Neue Begriffe, aber auch Betonungen stehen in diesem Buch kursiv.
- Graue Kästen enthalten Zusatzinformationen.
Was Sie nicht lesen müssen
Ich hoffe, dass Sie dieses Buch freiwillig lesen – von »müssen« kann daher überhaupt keine Rede sein. Alles kann, nichts muss. Die Frage ist aber natürlich, welche Lücken Sie sich erlauben können, ohne im weiteren Verlauf der Lektüre in Verständnisnot zu geraten. Da wären in der Tat die grauen Infokästen zu nennen, die für den kognitiven Fluss nicht zwingend notwendig sind, aber natürlich auch nicht schaden. Wenn Sie (zum Beispiel als Physikstudent der unteren Semester) bereits über Grundkenntnisse in der klassischen Mechanik und Elektrodynamik verfügen, könnten Sie überlegen, die Kapitel 1 bis 5 zu überspringen. Im fünften Kapitel werden dann allerdings bereits die Konflikte zwischen den beiden Disziplinen sichtbar. Ach, wissen Sie was? Lesen Sie doch einfach alles!
Törichte Annahmen über den Leser
Also gut, wie stelle ich Sie mir vor?
- Vermutlich hegen Sie ein gewisses Interesse für die Naturwissenschaften im Allgemeinen und die Physik im Besonderen.
- Der Wunsch, die Spezielle und Allgemeine Relativitätstheorie in ihren Grundzügen zu verstehen, weckt das Tier in Ihnen. Oder zumindest eine Art von gepflegtem Ehrgeiz. Das ist die denkbar beste Voraussetzung dafür, sich erfolgreich in den Gegenstand dieses Buchs zu vertiefen.
- Es bereitet Ihnen Freude, in Neues einzutauchen, auch wenn es an einigen Stellen etwas Anstrengung erfordern sollte. Sie betrachten es nicht als Offenbarungseid, einen Satz zweimal lesen zu müssen.
- Vielleicht sind Sie Schülerin oder Schüler in der Oberstufe, haben Physik noch nicht abgewählt und wünschen sich nun einen Begleiter, der Sie Schritt für Schritt in das neue Denken der Relativitätstheorie führt.
- Vielleicht befinden Sie sich aber auch im Grundstudium der Physik und hadern damit, die Relativitätstheorie alleine in der Sprache der Mathematik kennenzulernen.
- Sie...