2. Krisen und schwierige Lebenssituationen verstehen
Man muss Geduld haben gegen das Ungelöste im Herzen
und versuchen, die Fragen selber lieb zu haben.
Rainer Maria Rilke
Was ist eine Krise?
Im Bereich der Psychologie sind Krisen ein zentrales Thema. Lebenskrisen entstehen in psychischen Konfliktsituationen. Teilweise sind sie in der körperlichen und seelischen Entwicklung vorprogrammiert, wie z.B. Pubertätskrisen, Alterskrisen und die Krisen in der Lebensmitte; teilweise werden sie durch äußere Ereignisse mit bedingt, wie z.B. Arbeitslosigkeit, Trennung, Krankheit, Verlust eines Partners oder eines Kindes, Tod. Krisen können auch durch die Spannungen und Konflikte verursacht werden, die zwischen den Polaritäten des Lebens entstehen: Freiheit und Bindung, Autonomie und Abhängigkeit, Werden und Vergehen, Liebe und Hass, Vereinigung und Trennung.
Unerwartete und plötzliche Lebensveränderungen versetzen viele Menschen in einen Zustand von Angst, Hilflosigkeit und Ohnmacht. Sie verlieren das innere Gleichgewicht, das Vertrauen ins Leben ist erschüttert, die Ordnung des Lebens ist gestört. Gefühle werden wie im Auf und Ab einer Achterbahnfahrt erlebt: Angst, Wut, Verzweiflung, Zorn, Ohnmacht, Optimismus und Hoffnung folgen in raschem Wechsel – ein inneres Chaos herrscht vor.
Die Betroffenen sind oft nicht in der Lage, sich auf die veränderte Situation einzustellen und die notwendigen Handlungsschritte zu unternehmen. Sie fühlen sich überfordert, da die Lebensveränderungen mit den bisherigen Fähigkeiten nicht einfach bewältigt werden können und als bedrohlich erlebt werden. So geraten sie in einen psychischen Krisenzustand.
Die Auslöser für eine seelische Krise können sehr unterschiedlich sein:
- der Diebstahl von Geld und Ausweispapieren in der Straßenbahn,
- die Diagnose Krebs bei einer Routineuntersuchung,
- die Ankündigung der Trennung durch einen Partner,
- der Verkehrsunfall, bei dem ein Familienmitglied schwer verletzt worden ist,
- ein Suizid im Freundeskreis,
- der Umzug ins Altersheim.
Von seelischen Krisenzuständen ist der ganze Mensch in Mitleidenschaft gezogen; Körper, Geist und Seele sind betroffen. Seelische Krisen sind immer ein subjektives Phänomen. Nicht die objektive Schwere eines Problems ist entscheidend, sondern das subjektive Erleben. Was den einen Menschen in eine tiefe Krise stürzt, kann ein anderer verarbeiten, ohne in einen Krisenzustand zu geraten.
Krisen haben immer mit notwendigen Veränderungen und Wandlungsprozessen zu tun. Die alten Chinesen haben um diese Zusammenhänge gewusst: Ihre taoistische Philosophie bringt ein besonderes Verständnis für Wandlung und Veränderung im Kräftespiel der Polaritäten Yin und Yang zum Ausdruck. Das chinesische Wort für Krise Wei Ji setzt sich aus den Schriftzeichen für Gefahr und gute Gelegenheit, Chance, zusammen. Krisenzeiten sind also immer Gefahren- und Chancenzeiten. Krisen sind Grenzsituationen, Zeitpunkte, in denen der Mensch als Ganzes in Frage gestellt ist und eine Veränderung erfährt, aus der er als ein anderer hervorgeht.
Eine Krise bedeutet: Gefahr, Entscheidung, Höhepunkt, Umschlagpunkt, und auch wenn man sie positiv als Chance für Entwicklung, Wachstum und Reife sehen kann, wird sie von den Betroffenen keineswegs als positiv erlebt. Sie ist eine negative Zustandsänderung, vor der sich niemand schützen kann, und wenn sie einen Menschen trifft, fühlt er sich aus der Bahn geworfen, ist er oft hoffnungslos und verzweifelt. Krisen sind Situationen der Zuspitzung, in denen Menschen oft von Panik und Angst ergriffen werden und keinen Ausweg mehr sehen.16
Von einer Krise sprechen wir psychologisch dann, wenn ein Ungleichgewicht besteht zwischen der subjektiven Bedeutung eines Problems und den zur Verfügung stehenden Bewältigungsmöglichkeiten. Es ist ein Zustand, der gekennzeichnet ist durch den Verlust der Homöostase, durch ein Ungleichgewicht zwischen den Fähigkeiten und Kräften zur Problemlösung und einer vorhandenen Situation. Verschiedene Arten von Krisen sind zu unterscheiden: z.B. Entwicklungs- und Reifungskrisen, Anforderungskrisen, suizidale Krisen, Verlust- und Trauerkrisen, Krisen durch Unter- bzw. Überstimulierung, Krisen bei schweren, evtl. unheilbaren Krankheiten, spirituelle Sinnkrisen.
Was Krisen auslöst und sie verstärkt
In der psychologischen Forschung hat man untersucht, welche Ereignisse als besonders krisenhaft erlebt werden. Es wurden bestimmte Krisenwerte ermittelt und die Situationen auf einer Skala entsprechend aufgelistet.17 An erster Stelle, mit dem Wert 100, steht in der von Holmes und Rahe erarbeiteten Liste der Tod des Ehepartners, danach folgen Scheidung und Trennung vom Partner, Tod eines nahen Angehörigen, eigene Erkrankungen und Verletzungen, der Verlust des Arbeitsplatzes bzw. der Rückzug aus dem Arbeitsleben, finanzielle Nöte wie Schulden, Schwierigkeiten mit Familienangehörigen, Gefängnisstrafen, Schwangerschaften (insbesondere unerwünschte), Wohnungswechsel, Umzüge, Schulwechsel, Schulbeginn und Schulabschlüsse, der Auszug von Söhnen und Töchtern aus der Familie und im unteren Skalenbereich dann kleinere Gesetzesübertretungen und Zeiten wie Urlaub und Weihnachten. Letztere Krisenauslöser sind allerdings keineswegs zu unterschätzen, wie Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in Ehe- und Lebensberatungsstellen wissen.
In dieser Skala sind noch keine Ereignisse benannt, wie wir sie heute zunehmend häufiger vorfinden: Krisen, ausgelöst durch Traumatisierungen aufgrund von Gewalterfahrungen, z.B. nach sexuellem Missbrauch und Mobbing-Erfahrungen im Beruf.
Stress in Krisensituationen
Ein lebensveränderndes kritisches Ereignis kann ein hohes Maß an Stressreaktionen auslösen. Es entsteht eine starke Übererregung neuronaler Strukturen. Besonders betroffen ist das sogenannte Limbische System, das man auch als »Emotionszentrum« bezeichnen kann. Es kommt zu einer akuten »Alarmreaktion«, da die Situation als bedrohlich und beängstigend wahrgenommen wird. Dabei kann die übliche Informationsverarbeitung so blockiert sein, dass Menschen nichts mehr aufnehmen können, Informationen sie überhaupt nicht erreichen. Dies kann z.B. bei der Mitteilung einer Krebsdiagnose passieren.
Im Kontext von Krisen kann man alle Ereignisse, die mit Gefühlen von Bedrohung, Verlust und mit psychischen Beschädigungen verbunden sind, als Stress auslösende Faktoren betrachten. Stress ist eine Alarmreaktion des ganzen Menschen. Die gewohnten Formen der Stressregulation wirken nicht mehr. Wie stark das Ausmaß an Stressbelastung in einer kritischen Situation wird, ist jedoch von Person zu Person sehr unterschiedlich. Ein und dasselbe Ereignis kann im individuellen Lebenskontext höchst unterschiedlich erfahren und bewertet werden: Das Schulversagen eines Kindes wird in der einen Familie als außerordentliche Belastung mit hohem Stress erlebt, in einer anderen wird damit ruhiger und gelassener umgegangen, ohne dass es zur Krise kommt. Der Stress ist in der Regel umso höher, je mehr ein Ereignis die gewohnten Lebensabläufe verändert und je größer der Energieaufwand zur Bewältigung der Situation ist.
Stress in Krisensituationen ist ein Belastungserleben der ganzen Person, hat zu tun mit dem Missverhältnis zwischen dem, was die Situation erfordert, und den nicht verfügbaren Handlungsmöglichkeiten.
Die meisten körperlichen Stressreaktionen werden nicht bewusst registriert, sondern laufen unbewusst ab. Der Körper steht unter Dauerbelastung, Hormone wie Cortisol, Adrenalin und Noradrenalin werden vermehrt ausgeschüttet. Wenn dann in der Krisensituation keine Entspannungsphasen folgen, ist der Körper in einem Zustand von Daueralarm, der seine Energiereserven aufzehrt. Anzeichen für Stress sind vor allem: Nervosität; Konzentrationsschwierigkeiten; Vergesslichkeit; Schwierigkeiten, Entscheidungen zu treffen; Unruhe, die mit starker Angst verbunden ist; das Erleben der Anforderungen als Überforderung.
Grundsätzlich kann Stress zwar auch aktivierend und befreiend wirken. Diese Art Stress wirkt nicht schädlich und wird »Eustress« genannt. In kritischen Lebensphasen ist der situativ erlebte Stress jedoch vor allem Disstress, »negativer Stress«, der sich auch auf das Immunsystem schädlich auswirken kann.
Die Burnout-Krise18
Eine besondere und nicht plötzlich auftretende, sondern sich langsam einschleichende Krise ist das sogenannte Burnout-Syndrom. Burnout ist ein Prozess des Verlustes von Resilienzkräften. Es kann sich entwickeln über andauernde berufliche Belastungssituationen, die mit negativen Gefühlen verbunden sind.
Menschen, die »ausgebrannt« sind, befinden sich in einem Zustand dauernder Müdigkeit und Lustlosigkeit, sie sind überreizt, schwanken zwischen aggressiven und depressiven Reaktionen, ihre geistige Leistungsfähigkeit, ihre Motivation und ihre Kreativität haben stark nachgelassen, sie machen häufig Fehler und versuchen, dies mit vermehrter Anstrengung auszugleichen. Der Körper meldet sich mit psychosomatischen Symptomen, z.B. Rückenschmerzen und Schlafstörungen.
Menschen in einer Burnout-Krise sind schon lange »im roten Bereich«, was ihr Energieniveau angeht. In einem technischen Bild: Ihre Akkus sind leer. Das Gefühl sagt: »So kann’s mit mir nicht mehr weitergehen.« So war es auch bei Alfred Meier19. Aus dem...