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Aktive Entspannung ist lebenswichtig
To do nothing at all is the most difficult thing in the world, the most difficult and the most intellectual. (The Critic As Artist, Oscar Wilde)
Nichtstun ist die allerschwierigste Beschäftigung und zugleich diejenige, die am meisten Geist voraussetzt. (Der Kritiker als Künstler, Oscar Wilde)
→ In diesem Kapitel erfahren Sie, was das Radikale an Restorative Yoga ist und wie es uns hilft, unser volles menschliches Potenzial zu erreichen.
Yoga: Zeitgemäß, aber mit Tradition
Was wünschen Sie sich vom Yoga? Meist sind es ganz alltägliche, praktische Gründe, die uns auf die Matte bringen. Der Arzt empfiehlt es, weil es gegen Rückenschmerzen helfen soll. Schließlich sitzen wir stundenlang am Schreibtisch und möchten uns einmal wieder so richtig recken und strecken. Oder wir sind gestresst und suchen eine Methode zur Entspannung. Viele Frauen, die meine Stunden besuchen, bekamen von ihrer Hebamme oder Gynäkologin yogische Atemübungen als Geburtsvorbereitung empfohlen. Wer es aus den genannten Gründen mit Yoga versucht, wird sicher nicht enttäuscht. Doch Yoga kann noch viel mehr, als Geschmeidigkeit und Entspannung zu schenken.
Yoga ist eine jahrtausendealte Lebensphilosophie aus Indien. Und inzwischen haben sich unter dem breiten Dach dieses Namens zahlreiche ganz unterschiedliche Denkrichtungen versammelt. Gemeinsam ist ihnen nur eines: Sie alle wollen einen Weg zur Befreiung von inneren Zwängen weisen. Das Wort „Yoga“ stammt aus dem Sanskrit, und seine Wurzel „yuj“ bedeutet „anschirren“ oder auch „vereinigen“. Im Yoga sollen Körper und Geist vereinigt werden, auf dass wir uns in uns selbst wohlfühlen. In einem der großen Yogaklassiker, den über 2000 Jahre alten Yogasutras des Gelehrten Patanjali, heißt es: „Yoga ist, wenn die Bewegungen des
Geistes zur Ruhe kommen.“ Schon damals wusste man: Das größte Hindernis auf dem Weg zum inneren Frieden ist die Unruhe unseres eigenen Geistes. Wenn wir ein glücklicheres Leben führen möchten, müssen wir nicht unsere Umgebung, sondern uns selbst verändern. Yoga zeigt uns einen Weg zur inneren Freiheit und gibt uns die nötigen Werkzeuge dafür an die Hand.
Welche Werkzeuge das sind, hängt von der Art des Yoga ab, für die Sie sich entscheiden. Manche Schulen stellen Meditation in den Mittelpunkt, andere legen mehr Wert auf Körperübungen. Gemeinsam ist fast allen Stilen, dass mit dem Atem gearbeitet wird. Schon die alten Yogis stellten fest, dass der Atem die Brücke zwischen Körper und Geist ist. Den Atem zu beeinflussen ist der beste Weg, unmittelbar auf den unruhigen Geist Einfluss zu nehmen. Die betont sportlichen Körperübungen mancher Yogatraditionen haben sich viel später entwickelt als Atemtechniken und Meditationen. Einer der ersten Texte, in denen Übungen für den Körper beschrieben werden, ist die Hatha Yoga Pradipika aus dem 15. Jahrhundert. Einige dieser Asanas genannten Haltungen werden bis heute im Yogaunterricht gelehrt. Die meisten Übungen der modernen Yogastile wurden allerdings erst im 20. Jahrhundert entwickelt. Mark Singleton hat in seiner Geschichte des modernen Yoga herausgearbeitet, dass viele der in Indien entwickelten Körperübungen aus der schwedischen Gymnastik entlehnt und durchaus ganz profan zur Körperertüchtigung gedacht waren. Erleuchtung oder Befreiung waren den Lehrern weniger wichtig als kräftige Schüler, die sich mit vermeintlich original indischen Übungen für den Kampf gegen die britischen Kolonialherren stärken konnten. Besonders in den letzten Jahrzehnten haben auch viele westliche Lehrer die Lehren des Yoga – angepasst an europäische und amerikanische Schüler – weiterentwickelt.
Wo liegt der Zusammenhang zwischen den Körperübungen und der Befreiung des Geistes? Die meisten von uns bekommen den Kopf nur frei, wenn sie zuerst etwas für den Körper tun. Da wir uns im Vergleich zu unseren Vorfahren wenig bewegen und oft ein unterentwickeltes Körpergefühl haben, ist es nur konsequent und sinnvoll, den Weg zum Geist über den Umweg des Körpers zu nehmen. Wir müssen beide Teile kennen, um sie in Einklang bringen zu können: Fühlen wir uns in unserem Körper wohl, gelingt es dem Geist viel eher, zur Ruhe zu kommen. Haben wir uns eine Weile aktiv bewegt und dadurch Spannung abgebaut, fällt es uns leichter, uns still zum Meditieren hinzusetzen. Es funktioniert auch umgekehrt: Stress und Sorgen können uns körperlich krank machen, und Stressabbau stärkt unsere körperliche Gesundheit. Körper und Geist kommunizieren miteinander – und indem wir mit dem einen arbeiten, beeinflussen wir den anderen.
Die Wissenschaft kann heute durch Studien nachvollziehen, was die ersten Yogis vor mehreren Tausend Jahren durch Beobachtung festgestellt haben: Sobald wir unseren Atem verändern, wirkt das auf unseren Körper und unseren Geist.
Deshalb wird dem Atem beim Yoga besondere Aufmerksamkeit geschenkt. Mal in Bewegung, mal in Ruhe beobachten wir unseren individuellen Atem, der je nach Tagesform tief und ruhig, aber auch kurz und angestrengt sein kann. Wenn wir unseren Atem kennenlernen, lernen wir immer auch etwas über unser körperliches und seelisches Wohlbefinden. Und wir können beides beeinflussen.
Beim Restorative Yoga machen wir das auf eine fürs moderne Yoga sehr ungewöhnliche Art. Denn diese Yogarichtung unterscheidet sich in einem wichtigen Punkt ganz grundsätzlich von allen anderen: Im Restorative Yoga bewegen wir uns fast gar nicht. Während der Körper in aktiven Yogastilen durch Bewegung Spannung abbaut, wird er im Restorative Yoga durch Polster komplett abgestützt und darf vollständig passiv sein. Das wirkt profund und nachhaltig auf Körper und Geist.
Beim Restorative Yoga legen Sie den Schalter von „Senden“ auf „Empfangen“ um. Sie brauchen nämlich nichts zu tun. Es reicht, da zu sein und die Haltung wahrzunehmen. Sie wird Ihnen geschenkt, ohne dass Sie sich dafür anstrengen müssen. Für viele Menschen ist das eine so unwahrscheinliche Vorstellung, dass ihnen diese passive Art des Übens schwerer fällt als die Verknotung in komplizierten Asanas. Aber wer sich der Ruhe hingibt, entdeckt darin ganz viel Offenheit, Kraft und Zeit – genau die Dinge, die viele von uns im Alltag vermissen.
→ Im nächsten Abschnitt lesen Sie, was dabei in Ihrem Körper passiert und warum es so wichtig für die Gesundheit ist.
Warum von nichts eben doch mehr als nichts kommt
Woran denken Sie, wenn Sie „Von nichts kommt nichts!“ hören? An einen Lehrer? An Ihre Eltern? Wir sind alle oft ermahnt worden, mehr zu leisten. Leistung und hoher persönlicher Einsatz haben einen guten Ruf. Das Dolcefarniente dagegen, das süße Nichtstun, ist etwas Exotisches, das die meisten von uns sich bestenfalls im Urlaub leisten.
Dabei ist ein regelmäßiger Ausgleich zwischen Aktivität und Ruhe entscheidend dafür, leistungsfähig zu bleiben. Spitzensportler wissen das und legen deshalb zwischen Trainingseinheiten Pausen ein. Was für körperliche Höchstleistungen gilt, trifft auch für Normalverbraucher zu: Wenn wir unsere Energie erhalten wollen, müssen wir sie ab und zu aufladen. Stellen wir den Schalter ständig auf
„an“, ist irgendwann die Batterie leer. Übertragen auf die Funktion des menschlichen Organismus bedeutet das: Unser Nervensystem gerät aus dem Gleichgewicht, und wir reagieren mit Stressbeschwerden. Solche Symptome treten auf, wenn unser Nervensystem nach Belastungen keine Zeit bekommt, sich zu regenerieren. Werden wir den ganzen Tag lang von äußeren Reizen zur Reaktion gefordert, ohne zwischendrin auch einmal abzuschalten, verselbstständigen sich irgendwann die Körperprozesse, die bei äußerer Aktivität ablaufen. Dann sind wir nicht nur in Alarmbereitschaft, wenn Gefahr droht, sondern permanent.
Werden Sie morgens nur mit Mühe wach? Haben Sie abends Schwierigkeiten beim Einschlafen? Können Sie sich schlecht konzentrieren? Bekommen Sie leicht Kopfschmerzen? Ist Ihre Verdauung unregelmäßig? Werden Sie schnell wütend? Spüren Sie oft Gliederschmerzen oder Rückenschmerzen? Knirschen Sie mit den Zähnen? Fühlen Sie sich oft entweder unruhig oder völlig lustlos? All das können subtile Hinweise darauf sein, dass Ihr Körper und Ihr Geist sich mehr Ausgleich für die täglichen Anstrengungen wünschen. Reagieren Sie auf diese Andeutungen nicht, wird Ihr Körper Ihnen irgendwann deutlichere Zeichen von Überbeanspruchung geben, zum Beispiel durch Schlaflosigkeit, erhöhten Blutdruck, Krankheitsanfälligkeit, Depressionen oder ständige Erschöpfung.
Was löst diese Überreaktion aus? Sooft unser Organismus einen äußeren Reiz empfängt, wird er von den Nerven verarbeitet und vom Gehirn interpretiert. Wird ein Reiz als Bedrohung eingestuft, schaltet der Körper in einen Zustand, in dem er schnell und kraftvoll reagieren kann. Werden Sie also beispielsweise angegriffen, aktiviert er alle Funktionen, die in dieser Situation besonders wichtig sind: Ihr Herz pumpt stärker, Sie atmen schneller, Ihr Blutzucker steigt an und Ihr Stoffwechsel beschleunigt sich. Ihr ganzer Körper kann auf diese Weise rasch mit Energie versorgt werden, damit Sie sich wehren oder weglaufen können. Ihr Muskeltonus steigt an, damit Sie schneller zuschlagen oder laufen können. Gleichzeitig werden die Verdauung, die Immunabwehr, Regenerations- und Heilungsprozesse und auch die Fruchtbarkeit zurückgestuft, damit mehr Kraft für die akute Belastung bereitsteht.
Die Regelung dieser Funktionen im Körper läuft unbewusst ab, wir können sie nicht willkürlich steuern. Der dafür zuständige Teil unseres Nervensystems heißt deshalb vegetatives oder autonomes Nervensystem. Das vegetative Nervensystem...