Mein Weg zur Feuerwehr glich einem Sprung ins kalte Wasser. Noch während meines Elektrotechnikstudiums an der Uni Duisburg erfuhr ich von meiner Frau, dass „wir“ schwanger sind. Eine Neuigkeit, die mir damals ein bombastisches Gefühlschaos aus Angst und Vorfreude bescherte. Vater werden – ein Status quo ante, der sich natürlich toll anhört, aber angesichts des eigenen Studentendaseins mit fast null Einkommen und einer plötzlichen Versorgerrolle ziemlich rasch jegliche Vorfreude verliert. Mir blieben also nur noch neun Monate Zeit, um mein Studium erfolgreich zu beenden und einen möglichst gut dotierten Arbeitsplatz zu finden. Anfang der 1990er-Jahre ein durchaus sportliches Ziel, wenn man bedenkt, dass mich zu diesem Zeitpunkt weder ein Gedanke an eine mögliche „Wir bekommen ein Kind“-Botschaft noch einer ans Studienende beschäftigte. Zu studieren bedeutete damals in erster Linie: Lernen bis zum Umfallen, und zwar verbunden mit dem schönen Aspekt freier Zeiteinteilung. Manchmal schlug dabei die Waagschale eher zum Letzterem aus – je nach Wetter und Stimmung zwischen den Studierenden.
Nicht neun, sondern 18 Monate später hatte ich tatsächlich das Diplom in der Tasche und einen Ausbildungsplatz bei der Feuerwehr Duisburg. Für den gehobenen Dienst, wie es früher hieß. Allerdings hatte ich praktisch keine Ahnung, auf was genau ich mich da eingelassen hatte. Mit dem Begriff Feuerwehr verband ich damals nur die Telefonnummer 112 und rote Autos. Das war auch schon alles. Insofern versuchte ich meine Unkenntnis bei dem Vorstellungsgespräch weitgehend zu verbergen. Vergebens. Mein mutiger Versuch, gegen Ende des Gesprächs durch eine Frage Interesse zu zeigen, endete mit der Quittung: „Das bringen wir Ihnen schon alles bei!“ Natürlich. Klar. Das dachte ich mir schon. Ich war sehr unsicher, ob ausgerechnet ich derjenige unter den vielen Bewerbern sein sollte, der diesen Platz bekommt. Eine Woche später erhielt ich die vorläufige Absage. Ich stand auf der Warteliste. Es gab mindestens einen Mitbewerber, dem man diesen Beruf eher zutraute als mir. Ich hatte Verständnis dafür.
Wieder eine Woche später erhielt ich dann einen Anruf vom Personalamt – die Zusage. Jedenfalls sofern die Ärzte bei den üblichen gesundheitlichen Einstellungsuntersuchungen keinen Stress machen würden. Machten sie aber. Meine Augen waren nicht in Ordnung. Das waren sie noch nie. Bereits für den Führerschein benötigte ich ein Gutachten. Und nun war erneut eines vonnöten. Alles hing nun davon ab. Und es begann eine Zeit des Wartens mit Gebet, Hoffen, Bangen und noch mal Gebet. Nach ein paar Tagen war es dann amtlich: Jörg Helmrich ist Auszubildender im gehobenen Dienst als Brandoberinspektoranwärter. Was für ein Wort! Kann man ja kaum aussprechen, dachte ich damals, geschweige denn fehlerfrei aufsagen. Trotzdem: Ich war sehr dankbar!
Die Ausbildung dauerte knapp zwei Jahre und war aufgeteilt in zahlreiche Ausbildungsabschnitte irgendwo in Deutschland, inklusive etlicher Unterbringungen in Mehrbettzimmern sowie einer Unmenge an Lernstoff und Prüfungen. Für mich war es eine extrem spannende und lehrreiche Zeit. Glücklicherweise überstand ich sie weitgehend verletzungsfrei. Und dank unzähliger günstiger öffentlicher Nahverkehrsverbindungen sowie mittels beeindruckend hoher Telefonrechnungen (Handys gab es ja damals noch nicht), schafften wir es auch als junge dreiköpfige Familie, meinen Einstieg in die Feuerwehr zu stemmen.
Schon in der Ausbildung ist es üblich, Einsätze zu begleiten, denn nichts, absolut nichts ist wertvoller als Berufs- und Einsatzerfahrung. Logisch! Kein Lehrbuch dieser Welt kann praktisches Wissen vermitteln. Erst recht nicht, wenn jede Einsatzsituation anders ist und man nie hundertprozentig weiß, was genau einen erwartet.
Eine Zeit lang verbarg ich mein Christsein vor meinen Kollegen. Rückblickend war das ein Fehler. Denn es gibt nichts Wichtigeres, als authentisch zu leben und sich zu den Werten zu bekennen, für die das eigene Herz brennt. Diese Lektion lernte ich erst viel später.
Als mir dann aber in der Ausbildung der Leitspruch der Feuerwehren Gott zur Ehr’, dem Nächsten zur Wehr sehr wichtig wurde, wagte ich mich mit meinem Glauben an Gott mehr und mehr aus der Deckung. Insbesondere weil ich hier und da davon zu berichten wusste, wie ich Ereignisse, die sprichwörtlich unter die Haut gehen, durch das Gebet mit Gott besser verarbeiten konnte, während andere sich mit der emotionalen Aufarbeitung eines zurückliegenden Einsatzes oft schwertaten. Spätestens wenn das Thema Tod aufkam, kam ich ins Gespräch über meinen Umgang damit. Dann erzählte ich ganz offen davon, wie Jesus mir dabei persönlich und ganz praktisch half, ohne mein Gegenüber zu sehr mit überfrommen Redewendungen zu traktieren.
Nach ungefähr der Hälfte der Ausbildungszeit war ich endlich mal wieder für einen Ausbildungsabschnitt zu Hause, also bei „meiner“ Feuerwehr in Duisburg auf der damals alten Feuerwache 1. Ich mochte den Altbau mit seinen engen Gängen und Treppen – vor allem wegen der Rutschstangen. Jeder, der das draufhat, schmeißt sich, wenn der Alarm losgeht, an die Stange und rutscht ratzfatz nach unten in die Fahrzeughalle … und kommt dort hoffentlich heile an.
Bei der Feuerwehr ist es keine Frage, ob, sondern nur wann der erste Alarm des Tages ertönt. Dachstuhlbrand lautete das Einsatzstichwort. Irgendwo in einem anderen Stadtteil. Unten in der Fahrzeughalle angekommen wurde ich als Auszubildender irgendeinem Fahrzeug zugewiesen. Dort, wo nicht nur ein Sitz frei ist, sondern wo ich auch niemand anderem einen wichtigen Platz wegnehme. Schließlich hatte ich ja noch nicht viel Wissen angehäuft und stand deswegen oft beobachtend, aber weitgehend ahnungslos an der Einsatzstelle herum. Daher galt für mich überall: Wenn schon herumstehen, dann möglichst nicht im Weg!
Auf der Fahrt zur besagten Einsatzstelle hörte ich den Funk mit und versuchte mir als Neuling ein Bild des Ganzen vor Augen zu malen, um daraus die ersten Schlüsse zu ziehen. Schließlich würde es eines Tages zu meinen Aufgaben gehören, einen solchen Dachstuhlbrandeinsatz zu koordinieren.
Ein Dachstuhlbrand ist nicht gut. Das versteht sich praktisch von selbst und doch muss man einen solchen Brand erst mal gesehen haben, um zu verstehen, welche verheerenden Folgen ein solches Feuer haben kann. Nicht nur das Dach eines Gebäudes wird unbrauchbar, weil es ganz oder teilweise verbrennt, sondern auch die darunterliegenden Etagen werden durch das Unglück arg in Mitleidenschaft gezogen. Das Löschwasser sucht sich seinen Weg, egal welchen. Darauf haben wir wirklich keinen Einfluss. Fest steht nur: immer von oben nach unten. Zudem besteht bei geschlossener Bauweise, also wenn die Häuser dicht an dicht gebaut sind, stets die Gefahr, dass sich ein solches Feuer rasch auf die Nachbarhäuser ausbreitet. Es liegt auf der Hand, dass so etwas zu verhindern ist. Folglich sind die ersten Maßnahmen: die Kontrolle des Hauses (vorne und hinten), eine sehr schnelle Wasserversorgung und ein möglichst rasches und sicheres Aufstellen der Drehleitern. Kurzum: Jede Hand wird gebraucht, um die Sicherheit der Bewohner und die der eigenen Kollegen zu jeder Zeit zu gewährleisten. So etwas geht nie ohne rege, fast hektische Betriebsamkeit, gemischt mit professionellem Handling.
Nach dem Abschluss der Löschmaßnahmen machte sich der damalige Einsatzleiter bereit, die Reste des Dachgeschosses persönlich in Augenschein zu nehmen. Als er mich dann am Ärmel zupfte, gab er mir zu verstehen, dass ich ihn begleiten sollte. Da es trotz des Ablöschens noch immer an sehr vielen Stellen qualmte, legten wir uns unsere Lebensversicherung in Form des Atemschutzgerätes an. Mit Atemschutzmaske und ausreichend viel Atemluftvorrat für die nächsten 30 Minuten auf dem Rücken machten wir uns auf den Weg durch das Treppenhaus bis ganz nach oben.
Dort angekommen blickte ich über die völlig verkohlten Überreste des Dachstuhls. Das Dach glich einem Cabrio. Ich sah die unzähligen Dachziegel, die ganz oder zerbrochen auf dem Fußboden und auf dem Fußweg vor dem Haus lagen. Aber ich muss zugeben, das war nicht das, wonach ich wirklich Ausschau hielt oder was mich besonders beeindruckte. Denn wie so ein völlig verbrannter Dachstuhl aussieht, hätte ich mir trotz meiner kurzen Zeit bei der Feuerwehr auch genauso vorgestellt. Mein Interesse galt vielmehr der Leiche.
Wir hatten die Information, dass ein Mann sich in dem Dachstuhl aufgehalten haben sollte. Dass dieser dann bei dem Feuer ums Leben kam, hatten die Kollegen bereits bestätigt. Der Tod eines Menschen ist rasch gemeldet beziehungsweise hier jetzt schnell niedergeschrieben. Doch was das genau bedeutet, ist vielen nicht klar. Jegliche Meldung über einen toten Menschen bedeutet, dass ein Leben sein Ende gefunden hat. Ob nun verunfallt, willentlich oder weil es an der Zeit war. Fakt ist, einen Menschen mit all seinen Erfahrungen und Beziehungen, seiner Prägung, seinen Werten, seinem ganzen Sein gibt es nicht mehr. Dieses Wissen über den Tod einer fremden oder nahestehenden Person ist das eine. Der Anblick einer Brandleiche, eines Menschen, der bei lebendigem Leibe qualvoll oder des Nachts im Schlaf durch einen Brand oder eine Rauchvergiftung ums Leben gekommen ist, ist das andere.
Mehrere Kollegen waren immer noch dabei, vereinzelte Glutnester zu löschen. Einer von ihnen winkte uns heran, um mit uns zu reden. Sich mit Atemschutzmasken vor dem Gesicht zu unterhalten, ist nicht ganz einfach. Man muss schon ordentlich laut und deutlich in die...