VORWORT
Es war am 10. Januar im siebenhundertfünften Jahr nach der Gründung Roms und im neunundvierzigsten vor Christi Geburt. Die Sonne war längst hinter dem Apennin untergegangen. In geschlossener Marschkolonne standen Soldaten der 13. Legion im Dunkeln beisammen. Die Nacht wird bitterkalt gewesen sein, aber sie waren an extreme Bedingungen gewöhnt. Acht Jahre lang waren sie dem Statthalter Galliens auf seiner blutigen Kampagne gefolgt, Schlacht auf Schlacht, durch Eis und Schnee oder die Sommerhitze, bis ans Ende der Welt.
Doch jetzt, nach ihrer Rückkehr aus der barbarischen Wildnis des Nordens, sahen sie sich mit einer ganz anderen Aufgabe konfrontiert. Vor ihnen lag ein schmaler Fluss. Auf der Seite, wo die Legionäre standen, war Gallien; auf der anderen lagen Italien und der Weg nach Rom. Überschritten sie diesen Fluss, würden die Soldaten der 13. Legion ein kapitales Verbrechen begehen. Sie würden nicht einfach die Grenze zu Italien überschreiten, sondern sich über die strengste aller Regeln des römischen Volkes hinwegsetzen. Mit ihrem Vorgehen würden sie den Bürgerkrieg auslösen – eine Katastrophe, zu der sich die Legionäre mit ihrem Vorrücken bis dorthin bereit und gestählt gezeigt hatten. Während sie gegen die Kälte anstampften, warteten sie auf das Signal der Trompeten, die zum Vormarsch blasen sollten: Schultert die Waffen, rückt vor und überschreitet den Rubikon.
Aber wann würde das Signal ertönen? Leise plätschernd konnte man den Fluss hören, der durch die Schneeschmelze in den Bergen angeschwollen war, doch die Trompeten waren noch immer nicht zu hören. Die Soldaten der 13. Legion spitzten die Ohren. Sie waren es nicht gewohnt zu warten. Normalerweise, würde eine Schlacht bevorstehen, wären sie bereits vorgerückt und hätten wie ein Blitz eingeschlagen. Ihr General, der Statthalter von Gallien, war ein Mann, den man im Allgemeinen für seinen Tatendrang, seine Überraschungstaktik und Schnelligkeit feierte. Aber dies war nicht nur eine kurze Verzögerung. Er hatte ihnen den Befehl zum Überschreiten des Rubikons bereits am Nachmittag gegeben. Warum also hatte man ihnen plötzlich den Stillstand befohlen, wo sie doch endlich an der Grenze angekommen waren? Nur wenige konnten ihren General dort in der Dunkelheit sehen, aber den Offizieren seines Stabes, die in seiner Nähe waren, schien er sich in quälender Unentschlossenheit zu befinden. Statt seine Männer vorrücken zu lassen, hatte er in die trüben Wasser des Rubikons gestarrt und kein Wort gesagt. Und seine Gedanken hatten in der Stille gearbeitet.
Bei den Römern gab es ein Wort für eine derartige Situation: Discrimen – ein Augenblick gefahrvoller und marternder Spannung, in dem die Errungenschaften eines ganzen Lebens auf dem Spiel stehen. Die Karriere Caesars war wie die eines jeden Römers, der nach persönlicher Größe strebte, eine stetige Folge solch kritischer Momente gewesen. Immer wieder hatte er seine Zukunft aufs Spiel gesetzt und immer wieder war er als Sieger hervorgegangen. In den Augen der Römer war es das, was einen echten Mann ausmachte. Doch das Dilemma, dem sich Caesar am Ufer des Rubikons gegenübersah, war auf einzigartige Weise quälend, umso mehr, als es die Konsequenz seiner vorausgegangenen Erfolge war. In weniger als zehn Jahren hatte er achthundert Städte, dreihundert Stämme und ganz Gallien unterworfen, doch übergroßer Erfolg konnte bei den Römern ebenso Anlass zu Bewunderung wie zu Besorgnis sein. Sie waren schließlich Bürger einer Republik, und keinem Einzelnen war es erlaubt, seine Mitbürger auf Dauer in den Schatten zu stellen. Caesars Gegner hatten seit langem aus Neid und Furcht alles unternommen, um ihm sein Kommando zu entziehen. Jetzt, im Winter 49 v. Chr., war es ihnen endlich gelungen, ihn in Bedrängnis zu bringen. Der Augenblick der Wahrheit war für Caesar gekommen. Er konnte entweder dem Gesetz gehorchen, sein Kommando abgeben und sich mit dem Ende seiner Karriere abfinden, oder er überschritt den Rubikon.
»Die Würfel sind gefallen.«1* Nur als Spieler und in Spielleidenschaft war Caesar schließlich in der Lage, seinen Legionären den Vormarsch zu befehlen. Für ein rationales Kalkül war das Wagnis zu hoch und der Ausgang zu ungewiss. Caesar wusste, dass er einen Weltkrieg riskierte, wenn er in Italien einmarschierte, denn das hatte er seinen Weggefährten gegenüber zugegeben, und ihm hatte bei der Aussicht geschaudert. Doch so hellsichtig er auch war, selbst er konnte die volle Konsequenz seiner Entscheidung nicht voraussehen. Außer »Wendepunkt« hatte discrimen noch eine andere Bedeutung: Trennlinie. Und als solche sollte sich der Rubikon in jeder Hinsicht erweisen. Mit seiner Überschreitung stürzte Caesar tatsächlich die Welt in den Krieg, aber er trug auch zur Zerstörung der althergebrachten Freiheiten Roms bei und zur darauf folgenden Errichtung einer Monarchie. All das waren entscheidende Ereignisse für die Geschichte des Okzidents. Lange nach dem Zusammenbruch des Römischen Reiches sollten die durch den Rubikon geteilten Gegensätze – Freiheit und Despotismus, Ordnung und Anarchie, Republik und Gewaltherrschaft – die Vorstellungen der Erben Roms beherrschen. Der Fluss war so schmal und unbedeutend, dass man am Ende sogar vergessen hatte, wo er überhaupt lag, aber sein Name ist bis heute in Erinnerung geblieben. Das ist nicht verwunderlich. Caesars Überschreiten des Rubikons war so schicksalhaft, dass es für jeden schicksalhaften Schritt steht, den man seither unternommen hat.
Mit Caesars Befehl ging eine Epoche der Geschichte zu Ende. Einst hatte es freie Städte gegeben, die sich über den gesamten Mittelmeerraum verteilten. In der griechischen Welt und auch in Italien wurden diese Städte von Menschen bewohnt, die sich nicht als Untertanen eines Pharaos oder eines Königs der Könige verstanden, sondern als Bürger. Menschen, die sich stolz auf jene Werte beriefen, die sie von Sklaven unterschieden: Redefreiheit, Privatbesitz, Zugang zum Rechtsweg. Doch mit dem Aufstieg neuer Reiche, zuerst dem Alexanderreich und denen seiner Nachfolger und dann dem Römischen Reich, war die Unabhängigkeit dieser Bürger überall unterdrückt worden. Im 1. Jahrhundert v. Chr. war nur noch eine einzige freie Stadt übrig – Rom. Und dann überschritt Caesar den Rubikon, die Republik fiel in sich zusammen und es gab gar keine mehr.
Das Ergebnis war, dass tausend Jahre bürgerlicher Selbstverwaltung ihr Ende fanden, und für weitere tausend Jahre oder mehr sollte diese Regierungsform nicht von neuem Realität werden. Seit der Renaissance hat es viele Versuche gegeben, den Rubikon wieder in anderer Richtung zu überschreiten, zu seinem anderen fernen Ufer zu gelangen und die Gewaltherrschaft hinter sich zu lassen. Die englische, amerikanische und Französische Revolution beriefen sich ausdrücklich auf das Vorbild der Römischen Republik. »Was die Rebellionen gegen die Monarchie im Besonderen betrifft, so ist eine ihrer häufigsten Ursachen die Lektüre der politischen und historischen Schriften der alten Griechen und Römer«, beklagte sich Thomas Hobbes.1 Natürlich war der Wunsch nach einer freien Republik nicht die einzige Lehre, die man aus den dramatischen Ereignissen der Geschichte der Römischen Republik ziehen konnte. Es war schließlich kein geringerer als Napoleon, der sich erst Konsul und dann Kaiser nannte, und die am meisten verwendete Bezeichnung für das bonapartistische Regime war im ganzen 19. Jahrhundert der »Cäsarismus«. In den zwanziger und dreißiger Jahren des 20. Jahrhunderts, als die Republiken überall zusammenzubrechen schienen, waren alle, die über ihr Ende jubelten, schnell bereit, auf die Parallelen zum Todeskampf des antiken Vorbilds hinzuweisen. Im Jahr 1922 ließ Mussolini gezielt den Mythos eines heroischen und dem Vorgehen Caesars vergleichbaren Marsches auf Rom verbreiten. Und er war nicht der Einzige, der tatsächlich glaubte, dass ein neuer Rubikon überschritten worden war. »Das Braunhemd wäre vielleicht nicht entstanden ohne das Schwarzhemd«, räumte Hitler später ein. »Der Marsch auf Rom 1922 war einer der Wendepunkte der Geschichte.«2
Mit dem Faschismus erreichte eine lange Tradition abendländischer Politik ihren abstoßenden Höhepunkt und fand dann ihr Ende. Mussolini war der letzte führende Politiker, der sich auf das Beispiel des antiken Roms berief. Die Faschisten schlug Roms Grausamkeit, sein prahlerischer Stolz und sein Waffengeklirr in den Bann, aber heute sind selbst Roms höchste Ideale wie die aktive Bürgerbeteiligung, die Thomas Jefferson einst so begeisterte, aus der Mode gekommen. Sie sind zu streng und zu ernsthaft. Kaum etwas in unserer militant postmodernen Welt könnte stärkeres Missfallen erregen als das Beispiel des klassischen Roms. Die Römer als Helden zu verehren ist völlig veraltet und gehört ins 19. Jahrhundert. Wir haben uns, wie John Updike vor einigen Jahren sagte, »von der Unterdrückung durch all diese alten römischen Werte« befreit.3 Sie werden nicht mehr wie in den vorangegangenen Jahrhunderten als wichtigste Quelle unserer modernen Bürgerrechte angesehen. Nur wenige stellen sich heute noch die Frage, weshalb eigentlich auf einem den Römern unbekannten Kontinent ein zweiter Senat auf einem zweiten Kapitol tagt. Der Parthenon mag in unserer Vorstellung noch hell leuchten, doch das Forum zeigt allenfalls einen schwachen Glanz.
Und dennoch machen wir uns etwas vor in den westlichen Demokratien, wenn wir unsere Wurzeln allein auf Athen zurückführen. Im Guten wie im Bösen sind wir gleichermaßen Erben der Römischen Republik. Wäre der Titel nicht bereits vergeben, hätte ich dieses Buch Bürger...