Gertraude Steindl
Ein wehmütiger Blick zurück
Welcher Arbeit Sie auch in Ihrem Leben nachgehen, machen Sie sie gut. Wenn Ihre Aufgabe darin besteht, die Straßen zu fegen, dann fegen Sie wie Michelangelo malte, wie Shakespeare Gedichte schrieb und wie Beethoven komponierte. Fegen Sie die Straßen so, dass all die himmlischen und auch die irdischen Heerscharen innehalten und sagen: Er lebte als ein großer Straßenfeger und er hat seine Arbeit gut gemacht.
Martin Luther King
Heute ist der 29. Dezember: ein Tag vor meinem 61. Geburtstag und der letzte Tag in meinem Büro. Wie so oft bin ich die Letzte, die das Haus verlässt. Ich will mein Zimmer ordentlich zurücklassen und meiner Nachfolgerin einen guten Empfang bereiten. Meine erwachsenen Kinder spüren, dass dieser Abschied etwas Besonderes ist, und haben deshalb beschlossen, mich gemeinsam mit meinem Mann abzuholen. Sie beobachten genau, was ich jetzt noch erledige, sind gespannt und bereit, das aufzufangen, was ich emotional von mir gebe. Nach Kräften bemühen sie sich, meine Gedanken zu zerstreuen und nur das zuzulassen, was mich froh und heiter stimmt.
Bis heute war ich Generalsekretärin der Aktion Leben Österreich. Eine Position, die ich mit Leib und Seele ausfüllte, mit der ich mich ganz und gar identifizierte und die meinem Leben einen besonderen Sinn gab. Das Herzstück der Aktion Leben, die Beratung und Hilfe für schwangere Frauen in Notsituationen, hat mich immer tief berührt und meinen Einsatz motiviert. Aber auch alle anderen Tätigkeiten, die Bildungsarbeit und Sexualerziehung, die neuen bioethischen Fragestellungen und die Öffentlichkeitsarbeit für den Lebensschutz, waren mir ebenso besondere Anliegen, für die sich zu engagieren immer lohnte. Für mich war meine Tätigkeit in der Aktion Leben nicht nur Beruf, sondern vielmehr Berufung. Aktion-Leben-Generalsekretärin war ich nicht nur während meiner Arbeitszeit, Aktion-Leben-Generalsekretärin war ich auch am Feierabend, im Urlaub, unter Freunden und Fremden. Daran würde sich nicht so viel ändern, dachte ich. Ich werde auch weiterhin für die Aktion Leben und ihre Anliegen zur Verfügung stehen, jedoch in anderer Qualität und auf andere Art und Weise.
Dennoch weiß ich, dass mir große Veränderungen bevorstehen. Wie werde ich sie bewältigen? Gar nicht so leichten Herzens, wie ich mir und den Mitarbeiterinnen einredete, nehme ich Abschied von der beruflichen Funktion, die mich vor knapp zwanzig Jahren in ihren Bann gezogen und nicht mehr losgelassen hat.
Meinen Abschied habe ich lange und gründlich vorbereitet. Aus großem Respekt vor meinen Vorgängerinnen und vor allem vor Grit Ebner, die – zusammen mit dem Vorsitzenden Walter Csoklich – den Verein und damit die größte Lebensschutzbewegung in Österreich aufgebaut hat, wollte ich – wie ich es nannte – ein wohlbestelltes Haus hinterlassen. Es war mir gelungen, ein Team von Mitarbeiterinnen aufzubauen, die in ihren jeweiligen Bereichen hervorragende Arbeit leisten und den Lebensschutz ohne Wenn und Aber als ihre Aufgabe betrachten. Ich habe mich dafür eingesetzt, dass die innere Struktur des Vereins und sein Verhältnis zu den Regionalvereinen neu geordnet wurde, habe dafür gesorgt, gemeinsam mit allen Aktion-Leben-Vereinen ein Leitbild zur allgemeinen Orientierung zu beschließen, habe ein neues, moderneres äußeres Erscheinungsbild des Vereins auf den Weg gebracht sowie eine solide Finanzausstattung hinterlassen. Meine Nachfolgerin sollte weiter aufbauen können und nicht erst Ordnung schaffen müssen.
Ich habe nicht – wie ich immer wieder von anderen Menschen höre – am Kalender die Tage abgestrichen, die ich noch ins Büro gehen musste. Trotzdem habe ich zielstrebig auf den Tag hingearbeitet, an dem ich in Ruhestand gehen würde. Das Loslassen hat mich also längere Zeit sehr beschäftigt, allerdings, wie sich herausstellte, nur mit dem Verstand. Ich wusste, dass ich Verantwortung abgeben musste, und deshalb wollte ich den Zug noch in geordnete Bahnen lenken. Mir war auch klar, dass meine Nachfolgerin manches würde anders entscheiden, ohne dabei den uns alle verbindenden Grundkonsens infrage zu stellen. Und ich bejahte aus vollem Herzen, dass sie Wege mit Erfolg beschreiten würde, die mir trotz mehrmaliger Versuche verschlossen geblieben waren.
Ein bevorstehender Wechsel an der Spitze sorgt in der Regel für eine gewisse Unruhe unter den Mitarbeitern. Nach Kräften bemühte ich mich deshalb, Zuversicht zu vermitteln, dass Kontinuität gewährleistet sei. Ich hätte einen Workshop halten können über all das, was eine Chefin bei ihrem beruflichen Ausstieg zu beachten hat. Womit ich nicht gerechnet hatte, waren meine Gefühle. Sie verschafften mir an meinem letzten Tag im Büro Beklemmungen im Brustkorb und raubten mir viel von meiner Zielstrebigkeit. Zum Schluss warf ich alle noch herumliegenden Unterlagen wahllos in zwei Kisten, die zum Abtransport bereitstanden.
Als ich die Bürotür hinter mir schloss, dachte ich, wie gut es mir eigentlich geht, dass ich den Schlüssel noch behalten darf, dass ich nach wie vor dazugehöre, dass ich kommen und gehen kann, wann ich will. Ich schätzte mich glücklich, noch an der Nabelschnur zu hängen. So radikal wie bei vielen anderen Menschen war mein Übergang in die Pension also doch nicht. Warum denn dann so wehmütig sein? Warum sich so beklommen fühlen?
Für ein Abschiedsfest in der Aktion Leben war im Advent absolut keine Zeit. In den vorweihnachtlichen Wochen läuft alles auf Hochtouren, Aussendungen sind auf den Weg zu bringen, Adventbasare zu beschicken, das Merchandising boomt und auch in der Beratung herrscht Hochbetrieb. Die Mitarbeiterinnen und mich selbst damit zu belasten, noch eine Veranstaltung vorbereiten zu müssen, schien mir zu viel verlangt. Also verschoben wir das Abschiedsfest auf einen Abend im Februar, als der Jahresabschluss schon hinter uns und die jährliche Broschüre bereits in der Druckerei waren. Es wurde ein sehr schönes, fröhliches Fest und die Woge der Empathie, die mich trug, wirkte noch lange in mir nach.
Bis dahin hätte ich ja ein wenig Zeit, mich an meinen neuen Status zu gewöhnen, dachte ich. Aber wie es sich anfühlt, plötzlich nicht mehr als Erste gefragt zu werden und auch nicht mehr als Erste gefragt zu sein, davor hatte mich niemand gewarnt. Wie es sich anfühlt, ins Büro zu kommen und nicht mehr die Chefin zu sein, darüber hatte ich nie nachgedacht. Diese Emotionen kamen nicht gleich, dafür trafen sie mich später umso unerwarteter. Zunächst war ich noch zu erschöpft nach dem letzten Jahr. Ich war müde und fühlte mich auch körperlich buchstäblich nicht wohl in meiner Haut. Sandte mir mein Körper Signale, weil sie mein Verstand nicht zuließ?
Mir war noch im Herbst eine Kur bewilligt worden, die ich ganz dringend gebraucht hatte. Aber drei Monate vor dem Ende meiner beruflichen Laufbahn auf Kur zu gehen, kam mir vor wie Verrat. Und so hatte ich die Kur in das Frühjahr verschoben. Mit frischem Elan wollte ich danach all das Private anpacken, das so lange liegen geblieben war.
Ich gehöre zu den „Sammlern“. Auch in meinem beruflichen Leben habe ich immer viel zu viel aufgehoben. Jetzt, wo ich mein Büro räumen musste, fand ich all die Schriftstücke, Briefe, Aufsätze und Zeitungsausschnitte, die ich immer fein säuberlich abgelegt hatte, um sie später einmal zu bearbeiten, um daraus eigene Ideen zu entwickeln und Gedanken weiterzuverfolgen. Ich konnte mich auch jetzt nicht von ihnen trennen und so wanderten alle diese für mich wertvollen Unterlagen in eine große Kiste, die ich zu Hause in aller Ruhe noch einmal anschauen und verwerten wollte. Später sollte sich herausstellen, dass ich in den nächsten Monaten auch zu Hause nicht dazu kam, diese Materialien zu sichten. Es sollte noch fast zwei Jahre dauern, bis ich mich von meiner „unbewältigten Vergangenheit“ lösen konnte.
Rückblickend kann ich sagen, dass das Jahresende ein günstiger Zeitpunkt für den beruflichen Ausstieg ist. Im privaten Bereich gibt es viel zu tun und vor allem viel Abwechslung. Bis zum 6. Jänner herrscht noch weihnachtliche Feststimmung, viele unserer Freunde und Freundinnen arbeiten nicht. Wir machen Besuche und haben Gäste und genießen die eigenen vier Wände mit den vielen Büchern, die sich am weihnachtlichen Gabentisch gestapelt haben. So bekam ich ganz automatisch eine gewisse Schonzeit, ehe bei mir und auch in meinem alten Büro wieder der Alltag einkehrte.
Ich nutzte die Zeit für meine privaten Pläne. Im Kopf sammelte ich Ideen, was ich in den nächsten Wochen alles erledigen wollte. Und wenn mich Freunde fragten, ob ich schon den Pensionsschock spürte, dann fand ich das entweder dumm oder ärgerlich. Nichts dergleichen lag in meinem Vorstellungsbereich. Ich fiel keineswegs in das sogenannte schwarze Loch. Ganz im Gegenteil: Ich musste auch jetzt Prioritäten setzen und die Aufgaben, die ich mir selbst gestellt hatte, der Reihe nach abarbeiten.
Mein Mann war ein halbes Jahr...