Unsere Fahnen am falschen Platz
In Weiden – sicher hat die Stadt ihren Namen von der umgebenden Landschaft – ist für uns die Fahrt zu Ende. Riesige Mannschaftstransportwagen bringen uns zu unserem unbekannten Ziel. Es geht immer bergauf, der Morgensonne, die sich am Horizont zeigt, entgegen. Es geht also nach Osten, der tschechischen Grenze zu.
„Wann die so narrisch weiterfahrn, san ma zu der Jausenzeit in Prag!“ Der weise Kettenmaier, ehedem „Weberknecht“ im Vorarlbergischen, hat es in alemannischer Schläue errechnet.
Wir durchfahren einen nicht allzu großen Ort – Flossenbürg stand auf der Ortstafel. Nochmals geht es bergauf, und jetzt, weit außerhalb des Ortsbereiches, kommen die Fahrzeuge auf einem weiten Platz zum Stillstand. Wir sind an unserem Ziel.
Unser Ziel? Unser Ziel ist es nicht. Was wir sehen, sind Baracken, reichlich primitiv ausgeführt, ohne den allergeringsten Komfort. Wir müssen uns erst einmal behelfsmäßig einrichten, um unsere Sachen unterzubringen und schlafen zu können. Nach anfänglichem Verdruß macht es uns bald Spaß, durch gute Ideen und handwerkliche Geschicklichkeit zu einer fast schon luxuriösen Ausstattung zu gelangen. Von meiner Gruppe sind zwei Mann unterwegs zum „Organisieren“. Uscha. Deriks, unser neuer Gruppenführer, hat es höchstpersönlich angeordnet, mit dem Nachsatz: „Unter Kameraden heißt das organisieren, wenn man euch schnappt, habt ihr geklaut! Klar?!“
Organisiert wird alles: Bretter, Sperrholzplatten, Pappe, Nägel, Bindfäden, Säcke und aus der Kompanieschreibstube Kerzen und ein aufwendiges Batterie-Leuchtgerät. Dieses müssen wir aber wieder zurückbringen, denn sonst hätte man auch gleich gewußt, wer dem Spieß die Flasche Weinbrand weg-„organisiert“ hat.
Kaum haben wir das Notwendigste eingerichtet, als auch schon die ersten Wachen eingeteilt werden: eine Lagerwache und eine KL-Wache!
Schon bei unseren ersten Streifzügen haben wir herausbekommen, daß es sich hier um ein im Entstehen begriffenes Konzentrationslager handelt; sehr klein noch und unscheinbar, aber wenn nicht alles trügt, plant man schon jetzt, das Lager laufend zu vergrößern. Ähnlich primitiv wie unsere Baracken sind auch die der Häftlinge hinter dem hohen Stacheldrahtzaun.
Die Häftlinge machen einen abgearbeiteten, geschundenen Eindruck. Ihre Arbeit ist Schwerstarbeit: mit ihren Händen bauen sie aus dem durch eigene Kraft gebrochenen Stein die Mauer um ihr Gefangenenschicksal.
Um 5 Uhr nachmittags marschieren ihre Kolonnen zum Lager zurück. Ihre für uns erkennbare Außenarbeit ist für sie beendet. Was weiter im Lager vor sich geht, bleibt uns verschlossen. Dafür sind die Leute von der „Kommandantur“ zuständig, die sich uns gegenüber reserviert verhalten und Befehlen unserer Vorgesetzten nicht Folge zu leisten brauchen
Die älteren unter den Angehaltenen müssen schon den Weltkrieg mitgemacht haben, die jüngeren werden bereits eine zweijährige militärische Ausbildung hinter sich haben. Also, unter Bewaffnung wäre das eine schlagkräftige Truppe, die mit einer einzigen Kompanie Bewachung fertig werden könnte – wenn sie nicht von den Berufsverbrechern, ihren internen Ranghöheren, durchsetzt wären oder wenn ihnen von außen Unterstützung entgegengebracht würde. Die Zeichen der Zeit sind aber gegen sie.
Heute, sonnabends, bin ich zum Strafexerzieren dran. Ich wurde dabei ertappt, wie ich nach Einrücken von einer Postenkette meinen Brotbeutel von herrlichen Butterpilzen leerte, um sie auf unserem selbstgebastelten Herd zu garen. Leider fand ich keine Erklärung dafür, wann und wie die Pilze in das Innere des Brotbeutels gelangen konnten, ohne mich dabei eines Wachvergehens schuldig gemacht zu haben.
Meine Kameraden haben bis nachmittags um 3 Uhr Dienst, die Lager- und KL-Wache ausgenommen. Haben sie die streng musternden Augen des Unterführers vom Dienst ausgestanden, können sie in das unten liegende Städtchen ausgehen und Bekanntschaften suchen. Große Erfolge waren ihnen bisher noch nicht beschieden. Anders als in Oranienburg, wo sich unsere jungen Schlips-Soldaten in der Weite Berlins verloren, bleiben wir hier – durch unsere eigene, uns aufgetragene Isolierung – abgesondert von der Bevölkerung. Obwohl wir uns hier nicht in der schwarzen Ausgehuniform, sondern im Feldgrau unter den Menschen bewegen, bleibt Distanz spürbar.
Die Sonne knallt vom Himmel, als ich mich, feldmarschmäßig und mit dem wassergekühlten Weltkriegsmaschinengewehr ausgerüstet, bei dem das Strafexerzieren leitenden Unterführer melde. Unterscharführer Hintze, Regiments-Boxmeister in Oranienburg, ist keiner von der milden Sorte, sondern einer von gelegentlichem zart-sadistischem Einschlag. Obwohl sich unsere Unterführer abgewöhnt haben, uns Ostmärker als schlappe, leicht „fertigzumachende“ Weichlinge zu betrachten, loten sie uns bei solchen Gelegenheiten immer wieder voll aus. Ein zweistündiges „Flachrennen“ ist ohne einen Zusammenbruch des eigenen Willens kaum zu überstehen.
Freizeitgestaltung im Kasernenbereich (Verfasser stehend).
„Sie haben uns nicht kleingekriegt!“ – Nach zwei Stunden „Flachrennen“ (Strafexerzieren) immer noch übermütig (Verfasser hinten links).
„Das heißt, daß wir den restlichen Samstag und den gesamten Sonntag dazu verwenden müssen, den Drillichanzug zu waschen, Ausrüstungsgegenstände bis in die hintersten Winkel peinlichst genau zu reinigen, die Fenster zu putzen, den Fußboden zu schrubben …
… um am Montag um 7 Uhr für alle Appelle gerüstet zu sein“ (der Verfasser im Sand des Exerzierplatzes von Oranienburg beim Ausrüstungsappell).
Michael Druckenthaner aus dem Salzkammergut, genannt „Mick“, gefallen am 18. August 1943 in Poltawa, Rußland.
Siegfried Papenfuß, unser Kamerad „Buwi“ aus Westpreußen, gefallen am 25. September 1941.
Der lange Schimpfösl, gefallen, Urmensch aus den Bergwäldern Tirols. Zackigkeit machte ihm zu schaffen. Er ging gerne heftig aus sich heraus.
Franz Ungar, gefallen, ein „Jaga“ aus Obdach in der Steiermark. Der märkische Sand ließ es an „stoake Hiaschn“ fehlen.
Unser „Spieß“, Hauptscharführer Brömmer, ein „Preiß“ und Meister der Beschäftigungstherapie – auch für die Unterführer.
Es geht auch gleich los, im Laufschritt hinaus aus dem Lager und zur „Einstimmung“ im Schweinsgalopp auf und nieder. Hintze schlendert dabei gemütlich Richtung Flossenbürg. Er wird doch nicht darauf versessen sein, mich der Bevölkerung auf diese Weise vorzustellen? Nachdem wir öfters Ausgangssperre hatten und mit den Einwohnern noch nicht Kontakt hatten, ist es immerhin eine Möglichkeit, mit Land und Leuten bekannt zu werden.
Doch nein! Vor dem Ort zieht sich rechter Hand ansteigend ein Kartoffelacker zur Höhe. Das ist was für unseren Hintze! Da jagt er mich nun hinauf, mit dem langen Mantel, aufgesetzter Gasmaske und dem – ach Gott – so leichten Maschinengewehr samt Wasserfüllung.
Hinauf geht’s ohne Unterbrechung, immer im Laufschritt, hinunter mit sich immer wiederholendem „Hinlegen!“ im vollen Lauf. Der Erfolg ist, daß ich mir beim Hinauflaufen ständig auf den Mantelsaum trete und auch immer wieder im tatsächlichen Sinne auf die Schn… falle, während mich beim Hinunterlaufen das lMG mit Wucht zu Boden reißt und mich mehrmals überschlagen läßt. Dabei fliegen mir mit Selbstverständlichkeit Tornister und Gasmaskenbehälter in den Nacken. Bei jedem Aufrappeln versuche ich verstohlen, den Gasmaskenfilter zu lockern, um mehr Luft zu bekommen. Es gelingt auch, ohne daß Hintze etwas bemerkt. Aber es ist immer noch wenig genug Luft für meine schwer keuchenden Lungen. Unerwartet steht nach einem neuerlichen Hinstürzen Hintze neben mir und schraubt mit wenigen Handgriffen den Filter wieder fest. Dem erfahrenen Schleifer hat es verdächtig lange gedauert, bis ich „fertig“ werde.
Also dann, auf ein neues! Nun hüpfe ich in Hockstellung den Berg hinan, das lMG in beiden Armen haltend. Bei dieser Hitze, in diesem Aufzug und bei der weichen Erde eine elende Schinderei. Schon nach 20 Metern Bergaufhopsen wird mir schwarz vor den Augen, und ich überschlage mich nach hinten. Die Gasmaske wird mir dabei so weit vom Gesicht geschoben, daß ich ein paar Atemzüge frische Luft bekomme. Das lMG liegt im Dreck, der Stahlhelm weit unten zwischen den Kartoffelstauden....