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2. AUF DER JAGD NACH UNSTERBLICHKEIT
DAS GILGAMESCH-EPOS UND DIE SINTFLUT-ERZÄHLUNG
Tontafel mit einem sumerischen Flutbericht.
Eine bewegende Männerfreundschaft: Die Abenteuer von Gilgamesch und Enkidu bieten Stoff für eine ganze Filmstaffel. Gilgamesch ist als Held ein echter Longseller. Erste Tontafeln mit seinem Namen in sumerischer Keilschrift stammen aus dem 3. Jahrtausend v. Chr. Seine Geschichten werden bis ins 12. Jahrhundert v. Chr. herausgegeben, und die vollständigste Edition stammt aus Ninive, aus der Bibliothek von König Assurbanipal von Assyrien, also noch weitere 300 Jahre später. Gilgamesch ist ein Held auf der Suche nach Unsterblichkeit. Die ersten Episoden erzählen davon, wie er durch heldenhafte Taten unvergessen werden will. Alle sollen sich an ihn erinnern, und zwar durch das, was er getan hat. Die Abenteuer mit seinem Freund Enkidu können mit jeder heutigen Actionserie mithalten. Gilgamesch und Enkidu wollen durch den Zedernwald reisen, aber Humbaba, den Wächter des Zedernwalds, bringt das zum Brüllen. Sie streiten und kämpfen mit ihm, Humbaba winselt um Gnade, doch Enkidu rät Gilgamesch zum kurzen Prozess. So tötet Gilgamesch den Zedernwaldwächter …
Gilgamesch, ein mutiger Kämpfer. Er nimmt es mit jedem auf. Die Göttin Ischtar macht Gilgamesch schöne Augen und will ihn heiraten, aber dieser Held kann sogar ein solches Angebot ablehnen. Die Verschmähte schickt aus Zorn ihr gefährlichstes Wesen zu ihm, den Himmelsstier. Die beiden Freunde besiegen ihn – selbstverständlich. So muss Ischtar ertragen, dass auch Enkidu sich über sie lustig macht und sie verschmäht.
Die gemeinsamen Abenteuer der beiden Freunde finden ein jähes Ende. Der Tod von Enkidu durch einen Dämon ist nicht aufzuhalten, denn die Götterversammlung hat seine Beseitigung beschlossen. Gilgamesch kann seinem Freund, der ihm geholfen hat, seinerseits nicht helfen und muss seinen Tod verkraften. Sieben Folgen Männergeschichten von Risiko und Thrill, von Sieg und Niederlage. Ab Folge acht auf Tafel 8 muss Gilgamesch allein bis ans Ende der Welt weiterziehen. Alles drängt ihn, bis zu dem Menschen zu gelangen, welcher die Sintflut überlebt hat. Von ihm will er wissen, wie man unsterblich wird. – Sintflut? Das Gilgamesch-Epos und die Noah-Erzählung der Bibel berühren sich spätestens hier, auf Tafel 11.
Lehmspuren der Sintflut?
Fluterfahrungen sind für das Zweistromland zwischen Euphrat und Tigris nichts Ungewöhnliches. 1929 stößt der britische Archäologe Leonard Woolley in der alten Stadt Kisch im heutigen Irak auf eine mehrere Meter dicke Ablagerungsschicht: Lehm, Lehm und wieder Lehm. Schlamm, den Wasser abgelagert hat, und der sich verdichtet hat. Von Kisch bis Ur (im südlichen Zweistromland gelegen) findet man immer wieder fette Lehmlagen. Die Funde sorgen für weltweite Schlagzeilen – vorschnell wird berichtet, die Sintflut »gefunden« zu haben, aber selbst Woolley distanziert sich später davon und spricht lediglich von Belegen für lokale Überschwemmungen.
Fragment des Gilgamesch-Epos (Replikat).
Das Wort »sint« hat die deutsche Sprache aus dem Alt- und Mittelhochdeutschen geerbt. Es bedeutet »gesamt«, »allgemein«. Die »Gesamtflut« nach 1. Mose 6–9 erzählt davon, wie Gott fast alle Menschen durch enorme Wassermassen vernichtet. Durch die Flut hindurch rettet Gott aber Noah mit seiner Großfamilie, indem er ihn beauftragt, einen »Kasten« (eine Arche) zu bauen und Tierpaare mitzunehmen. Obwohl der Mensch als »böse von Jugend auf« charakterisiert wird, auch nach dem Ende der Sintflut, verpflichtet Gott sich selbst, ein solches Unglück nicht mehr zuzulassen. Sein Kriegsbogen, den er in die Wolken gehängt hat, soll ihn an sein Versprechen erinnern. Die Erzählung der Urgeschichte von Noah und der Flut ist seit Jahrtausenden bekannt. Daher waren der neue Fund und die Übersetzung des Gilgameschepos 1872 eine Sensation.
Ein weiteres, weniger gut erhaltenes Fragment (Replikat).
Überraschung auf der elften Tafel
Das Gilgamesch-Epos – die eingangs erwähnte Heldengeschichte – ist auf elf Tafeln eingeritzt, und die Edition wurde später um eine zwölfte Tafel erweitert. Geschätzt sind es 3300 Zeilen. Geschätzt, weil manche Stellen lückenhaft sind. Die Elf-Tafel-Edition konnte aus verschiedenen Bibliotheken im Zweistromland zusammengesammelt werden, darunter aus den berühmten Städten Assur, Babylon, Uruk und Ur und sogar aus Hattusa (in der heutigen Türkei). Die Tontafeln zu entziffern war keine leichte Übung. Gefunden waren manche der Exemplare schon Mitte des 19. Jahrhunderts bei Ausgrabungen in Ninive, aber dann lagen sie mehrere Jahrzehnte unbesehen in Kisten im Britischen Museum. So lange, bis der Assistent George E. Smith sie erst einmal von Schmutz befreite und dann 1872 entdeckte, dass die elfte Tafel eine Flutgeschichte enthält – aber nicht irgendeine Story von Wassermassen, sondern im Rahmen der Abenteuer des Gilgamesch von einer Flut, die außergewöhnliche Ähnlichkeiten zur Bibel aufweist.
Die elfte Tafel ist etwas größer als eine Postkarte (15 mal 13 Zentimeter) und stammt aus dem 7. Jahrhundert v. Chr. Im Dezember 1872 löste Smith Begeisterung aus, als er das vorhandene Fragment mit den Zeilen 55-106 und 108-269 dieser Tafel bei der Gesellschaft für Biblische Archäologie vorstellte. Die fehlenden Zeilen ließen ihm keine Ruhe, und er begann, selbst Ausgrabungen in Ninive voranzutreiben. Eine Woche, nachdem er begonnen hatte, fand er am 14. Mai 1873 das größte Stück der fehlenden Zeilen! Erstaunlich, dass er überhaupt, dazu noch in so kurzer Zeit, das fehlende Puzzleteil entdeckt hat.
Verschiedene Sintfluthelden
Die zehnte Tafel des Epos erzählt von der Heldenfahrt über das Todeswasser: Damit Gilgamesch dem Sintflutüberlebenden Utnapischtim überhaupt begegnen kann, muss er weitere Abenteuer bestehen. Mithilfe eines Fährmannes kann er die Todeswasser passieren, um am Rand der Welt Utnapischtim zu treffen. Der Sintflutheld ermahnt Gilgamesch, den Tempelkult für die Götter nicht zu vernachlässigen. Gilgamesch will vor allem wissen, wie Utnapischtim Unsterblichkeit erlangt hat. Dieser berichtet daher von seiner Sintfluterfahrung: Durch einen Traum gibt Gott Ea die Warnung vor der Flut und die Anweisungen, ein Schiff zu bauen. Utnapischtim belädt das Schiff mit seinem Besitz, seinen Verwandten, Handwerkern und Tieren. Es wütet ein Sturm, der sogar den Göttern Angst macht, und erst nach sechs Tagen endet dieser. Das Boot kommt auf dem Berg Nimush (Nisir) zum Stehen (er wird mit Pir Omar im heutigen Irak identifiziert). Nach weiteren sieben Tagen lässt Utnapischtim zunächst eine Taube ausfliegen, die zurückkehrt, dann eine Schwalbe, die ebenfalls zurückkehrt, bis er einen Raben ausfliegen lässt, der nicht wiederkehrt. Daraufhin gibt Utnapischtim ein Opfer und es heißt von den Göttern, dass sie das Opfer riechen und sich wie Fliegen auf das Opfer stürzen. Die Gottheit Enlil betritt danach das Boot und segnet den Sintfluthelden und seine Frau: Beide Menschen werden unter die Götter aufgenommen und sind von nun an unsterblich.
Gilgamesch ist fasziniert von dieser Geschichte und möchte wissen, wie er ebenfalls unsterblich werden kann. Utnapischtim fordert ihn als Probe dazu auf, sechs Tage und sieben Nächte wach zu bleiben. Aber Gilgamesch gelingt das keineswegs, er fällt sofort für sieben Tage in einen tiefen Schlaf und besteht diesen Test nicht. Bevor Gilgamesch den Rand der Welt mit seinem Boot wieder verlässt, verrät Utnapischtim, dass am Meeresboden ein geheimnisvolles Kraut wächst, das neues Leben schenkt. Gilgamesch gelingt es, hinunterzutauchen und das Kraut der Verjüngung zu ergattern. Doch noch bevor er das Kraut kosten konnte, stiehlt eine Schlange das Kraut. Gilgamesch bleibt nur die Trauer über die verpassten Chancen, unsterblich zu werden, und kehrt zurück in die Stadt Uruk. Etwas »Bleibendes« aber verweist auf Gilgamesch als Held: Die große Stadtmauer von Uruk ist sein Werk und soll an ihn und seine Heldentaten erinnern.
Ähnlichkeiten und Unterschiede
Die Helden von Fluterzählungen im Zweistromland haben in den Keilschrifttexten unterschiedliche Namen, Ziusudra im sumerischen Text, mehrere Jahrhunderte später Atrahasis, und im Gilgamesch-Epos Utnapischtim. Ihre Rettung durch die Flut ist der Erzählung von Noah zu ähnlich, um rein zufällig zu sein. Die elfte Tafel des Gilgamesch-Epos und 1. Mose 6–9 ähneln sich: Beide erzählen von einer großen Flut, welche die Menschheit vernichtet, und vom Auftrag an einen Helden, durch den Bau einer Arche mit seiner Familie zu überleben. Beide erwähnen den Umstand, dass die Arche nach der Flut auf einem Berg hängen bleibt, eine dreifache Vogelprobe und ein abschließendes Opfer des Helden. Erhebliche Unterschiede sind ebenfalls deutlich. Der Beschluss zur biblischen Sintflut erfolgt angesichts der umfassenden Bosheit der Menschheit. Warum das Herz der großen Götter des Gilgamesch-Epos entbrennt, wird nicht begründet. Die Maße der Arche, die Länge der Flut und die Reihenfolge der Vögel sind unterschiedlich. Sogar innerhalb der biblischen Fluterzählung sind unterschiedliche Stränge von zwei Erzählungen rekonstruierbar. Wenn am Ende der Flut im babylonischen Mythos die Götter sich wie Fliegen auf das Opfer stürzen, entsteht der Eindruck, die Menschen sind dafür geschaffen, die Götter zu versorgen. Beide Texte noch genauer unter die Lupe zu nehmen, wäre spannend. Insgesamt zeigt sich: Die Erzählungen sind unterschiedlich genug, um selbstständig überliefert worden zu sein, und zu ähnlich, um völlig unabhängig voneinander zu...