1. Vorlesung »Gib dein Herz dir selbst zurück« – Scham und Schamabwehr
Es war vor bald 50 Jahren, als ich mich in jugendlicher Begeisterung kopfüber in die intensive Behandlung schwer kranker, hospitalisierter Patienten stürzte. Meine Ausbildung in Psychotherapie war dürftig, obwohl besser als die der meisten meiner Freunde, und in Psychoanalyse im Wesentlichen auf Bücher und Außenseiter beschränkt. Um so mehr nötigte mich die Schwere der Fälle, Wege zum Verstehen der Pathologie zu finden. Mehr und mehr war es natürlich das Werk Freuds, das einen Lichtstrahl in die Dunkelheit warf, und das meiste, was ich von anderen gelernt hatte, als von wenig Wert erscheinen ließ. Doch war es schon bei den ersten Fällen so, dass mir die ungeheure Bedeutung der Schamprobleme auffiel, und da fand ich in der Literatur fast gar keine Hilfe, selbst nicht bei Freud und bei den Epigonen erst recht nicht, außer bei Erik Erikson und bei Gerhard Piers. Später kamen noch ein paar andere dazu – Sidney Levin, Helen Block Lewis, Helen Lynd –, aber die Auswahl war und blieb viele Jahre hindurch kärglich. Ich fühlte mich als Pionier in einer wilden Landschaft unter einem unheimlichen, fahlen Licht. Bald, d. h. etwa 1963, begann ich über das Thema zu schreiben, vor allem in dem Sinne, dass es eine Gruppe von schwer kranken, gewöhnlich als psychotisch diagnostizierten Patienten gab, die sich von der üblichen Schizophrenie abhoben, die zwar lange Zeit hospitalisiert, aber durchaus intensiver, psychoanalytisch orientierter Psychotherapie zugänglich waren, aber wenig auf die Neuroleptika ansprachen, ja oft paradox auf diese reagierten. Wegen der Prominenz der Schamprobleme nannte ich diese Krankheit »Schampsychose« und betonte vehement deren Verschiedenheit von den üblichen psychotischen Bildern. Das Krankheitsbild war gekennzeichnet durch chronische, schwere Depersonalisation und durch suizidale Depression, durch massive Essstörungen, vor allem Anorexie, die mit bulimischen Attacken abwechselte, durch kurze halluzinatorische Verfolgungszustände und Panik und nicht selten durch Drogenmissbrauch, vor allem eine Kombination von Amphetaminen und Barbituraten, später stattdessen auch von Kokain und Heroin. Da die Schampsychosen aber nicht im üblichen Sinne die Primärsymptome der Schizophrenie aufwiesen und zudem auch häufig eigentlich nicht durch psychotische Zustände charakterisiert waren, nannte ich die Gruppe einige Jahre später das »archaische Schamsyndrom«. Damit aber hatte mich dieses Thema der Schamaffekte und Schamkonflikte gepackt und nie wieder ganz losgelassen. Hier spreche ich indes nicht über diese spezifische Gruppe von Patienten, sondern hole weiter aus.
Und zwar werde ich umschreibend beginnen und auf diese Annäherungen an das Thema einen kürzeren Ausschnitt aus der Behandlung einer Patientin folgen lassen, über die ich hier in den letzten Jahren schon zwei- oder dreimal berichtet habe. Diese Erfahrung wird mir die Gelegenheit geben, breiter auf ein enorm wichtiges klinisches Thema einzugehen, das jedoch bisher nicht die ihm gebührende Beachtung gefunden hat, nämlich auf die negative therapeutische Reaktion. Besonders die Verwobenheit dieses Phänomens mit der Thematik der Schamkonflikte wurde nur selten studiert. In der fünften Vorlesung geht es um die Beziehungen von Verrat und Lüge mit Schamkonflikten und zumindest peripher mit Charakterperversion. In der sechsten Vorlesung wird uns das Thema des »bösen Blicks«, des »bösen Auges« beschäftigen; anschließend werde ich einiges zur Über-Ich-Struktur und zu Scham- und Schulddilemmata zu sagen haben und zum Schluss einige Brücken zwischen der Psychoanalyse und der Philosophie schlagen.
Sich vor sich selbst schämen
Ich beginne mit einem Zitat aus den »Sprüchen der Väter«, aus der Frühschicht des Talmuds (etwa im Jahr 200 unserer Zeitrechnung): »Rabbi Jehuda ben Tema sagte: Sei stark wie ein Leopard, leichtfliegend wie ein Adler, eilend wie ein Hirsch und mutig wie ein Löwe, den Willen deines Vaters im Himmel zu erfüllen. Er pflegte zu sagen: Ein freches Gesicht (az panim) ist für Gehinnom (Hölle), ein Schamgesicht (bosch panim) ist für den Garten Eden (Paradies)« (5.23). Zum ersten Teil kommentiert ein später Kommentator (Kitzur Schulchan Aruch): »Sei stark wie ein Leopard, das bedeutet: Schäme dich nicht (lo jitbajesch) vor Menschen, die dich für deine Arbeit im Dienste des Herrn verhöhnen; leichtfliegend wie ein Adler bezieht sich auf das Schauen des Auges, denn es heißt: Ein Leichtes soll es dir sein, dein Auge abzuwenden vom Hinschauen auf Böses, denn dieses ist der Beginn der Sünde: das Auge sieht und das Herz begehrt, und die Organe vollenden die Tat …«40. Es ist ein Gedanke also, der mit der Aufrechterhaltung höchster Ideale zu tun hat, sich nicht durch Beschämung von außen von diesen abbringen zu lassen, der Versuchung durch Sehen, Fühlen und Tun zu widerstehen, und zwar mit einer Haltung von Scham, nämlich im Sinne von Scheu und Ehrfurcht. Damit wird Scham als Schutzfunktion des inneren Seins, der innersten Ziele und Werte verstanden und somit als Abwehr der Gefahr, sich für sein Handeln und Sosein schämen zu müssen. Wir können es auch folgendermaßen umschreiben: Schere dich nicht um die Beschämung von außen. Schau darauf, dass du dich nicht in deinem Inneren vor dir selbst schämen müsstest, wenn du die höchsten Verpflichtungen verrietest; in den Worten der Schrift: wenn du dich im Dienste Gottes verfehltest. Wir würden vielleicht sagen: wenn du deinen innersten Idealen nicht treu bliebest.
Zu diesem letzten Gedanken greife ich ein zentrales Thema in Cervantes’ »Don Quijote« auf: Wiederholt kommt es zum Ausdruck: »… [ich will nicht] dagegen handeln, das sein zu müssen, was ich bin – de ir contra lo que debo a ser quien soy«, konkret im Kampf zwischen innerer Pflicht, Selbstloyalität und den »heiligen Gesetzen der Freundschaft«41 gegenüber der sexuellen Leidenschaft; und ganz ähnlich sagt es Luscinda dem Don Fernando, der sie zur Heirat genötigt hatte: »Laßt mich um Eurer Pflicht willen, der zu sein, der ihr seid – dejadme por lo que debéis a ser quien sois«42. Es ist das große Thema der Identität und des großen Gewissensbefehls, sich selbst treu zu bleiben – der Selbstloyalität. Wird dieser innere Befehl missachtet, ist dies Grund zu tiefer Scham. Entsprechend zitiert Cervantes aus einem Gedicht des italienischen Renaissancedichters Luigi Tansillo: »Es wächst der Schmerz, es wächst das Schambewußtsein/ In Petrus, da der Hahn den Tag verkündigt;/ Und stürmisch zieht die Scham in seine Brust ein, / Obwohl es niemand sah, als er gesündigt./ Ein edles Herz muß sich der Schmach bewußt sein,/ Weiß auch kein andrer, daß er sich versündigt;/ Es schämt sich vor sich selbst ob dem Vergehen,/ Wenn auch nur Himmel es und Erde sehen«43. Es ist das Thema der inneren Scham des Petrus, nachdem er seinen Herrn verleugnet und damit verraten hatte. Dies führt in der eingeschobenen Novelle vom frechen Neugierigen (El curioso impertinente) Lotario an, als er von seinem Freund Anselmo gebeten wird, die Treue und Standfestigkeit seiner Frau durch sexuelle Verführung auf die Probe zu stellen. Das Wichtige ist: Die Scham geschieht vor dem inneren Auge, und das Benehmen, für das man sich schämt, verletzt ein hohes Ideal, das wirkliche Selbst, das eigentliche Sein (el proprio ser), und eine heilig gehaltene Beziehung.
Intensive Scham ist also nicht nur, wie oft fast ausschließlich betont, ein interpersonelles Problem, eines, das in der sogenannten »Objektbeziehung« wirkt, sondern eben ganz entscheidend auch eines, das unser Inneres beherrschen kann. Viele sprechen dann eben von den inneren Objekten, man schäme sich z. B. vor dem Introjekt. Doch zwängt man dabei schon die Beobachtungen in ein theoretisches Gerüst, in das Prokrustesbett vorgefasster Schemata, was dann dem Erlebten nicht immer gerecht wird und oft zu kurz greift.
Doch werde ich nun gerade dies tun und einige Schemata vorlegen, die mir viel Verständnis ermöglicht haben. Nur sollen sie uns nicht gefangen halten, sondern eine Art Geländer sein, die uns streckenweise den Abgrund entlanghelfen.
Umschreibung
Analytisch gesehen ist Scham zunächst und vor allem eine Art von Angst – die Schamangst: »Ich fürchte mich, dass Bloßstellung bevorsteht und damit Erniedrigung.« Solche Angst kann in feiner Signalform auftreten oder als überwältigende...