Januar
1. Januar
Beständig in großen Gedanken zu leben und das Kleinliche zu verachten; das führt — im Allgemeinen gesprochen — am leichtesten über die vielen Beschwerden und Kümmernisse des Lebens hinweg.
Der größte und zugleich allgemein fasslichste Gedanke ist jetzt der Glaube an Gott in der Form des Christentums.
Es gibt aber auch seit jeher ein verkümmertes, zu eng geartetes Christentum, das dem Wesen und der Lehre Christi nicht ganz entspricht und schon viele hochgemute und hochgebildete Personen von ihr entfernt hat.
Wenn dir dein Lebensglück am Herzen liegt, so lass dir das Christentum durch keine Theologie oder Kirchlichkeit ersetzen, sondern suche es selber an der Quelle auf, in den Evangelien, und auch in diesen vorzugsweise in Christus' eigenen Worten, die in keiner Philosophie ihresgleichen haben.
Mt 21 GBG 67 GBG 691
Man kann mitunter wählen, wie stark und sogar auf welche Weise man geläutert sein will. Aber darüber muss man sich klar sein, dass das reine Gold des Charakters nur aus einer kräftigen und öfter wiederholten Läuterung hervorgeht.
Krankheit, richtig aufgefasst und benutzt, ist das leichteste Mittel dazu.
Jes 43 10 2 Sam 24 13-16
2. Januar
Wenn ihr in mir bleibt und meine Worte in euch bleiben, werdet ihr bitten, was ihr wollt, und es wird euch widerfahren. (Joh 15 7)
Dies ist vielleicht der denkwürdigste Ausspruch der ganzen Bibel. Wenn das wahr ist, so ist ja eine stets bereite Hilfe für alle Übel vorhanden, die den Menschen während seines Erdenlebens bedrohen.
Dann ist es aber auch wahr, dass Christus, der dieses Wort spricht, kein gewöhnlicher Mensch war.
Lass diesen Punkt aber, wenn es dir lieber ist, einstweilen noch dahingestellt sein und versuche vorerst die Voraussetzungen zu erfüllen, unter denen dieser Spruch Hilfe verheißt. Das kann dir auf keinen Fall schaden, vielleicht aber das Heil deines Lebens werden.
GBG 1009
3. Januar
Das einzige vernünftige Ziel des Lebens ist die Beförderung des Reiches Gottes auf Erden, eines Reiches des Friedens und der Liebe, anstatt des Unfriedens und des Kampfes ums Dasein. Nur soweit wir daran mitgearbeitet haben, hat unser Leben einen Zweck und Wert gehabt. Und daran mitarbeiten kann jeder, durch Tun oder durch Leiden.
GBG 652 GBG 656 GBG 785
Beständig etwas Nützliches arbeiten, aber weder hetzen noch sorgen; Herr bleiben der Dinge, die an uns herankommen, und unserer eigenen Stimmungen, niemals sie Herr über uns werden lassen — das ist ein richtiges Programm für jedes neubeginnende Lebensjahr. Aber ausführbar ist es nur, wenn man mit dem Herrn aller Dinge in einem engen und festen Bund steht und sich entschließt, seiner Führung unbedingt zu folgen. Sonst ist jeder Mensch, auch der weiseste und mächtigste, ein Spielball der ihn umgebenden Menschen und Verhältnisse, gegen die er sich im besten Fall beständig zur Wehr setzen muss. Und das Leben ist dann eine mit jedem Jahr anwachsende Last von größtenteils kleinlichen und doch mühseligen Beschäftigungen, unter denen es zuletzt unfehlbar (und meistens kläglich) zusammenbricht.
Die frommen Leute schlagen manchmal einen Mittelweg ein, indem sie zwar im Allgemeinen Gottes Führung wünschen, aber doch für gewisse Dinge, wie zum Beispiel Heiraten, Geselligkeit, Politik und Geldsachen eine eigene Abteilung des Denkens und Handelns haben, in die sie Gott nicht einmal gern hineinsehen lassen, geschweige denn, dass sie ihn darüber auch um Rat fragen. Denn sie wissen wohl, dass ihre Denkungsart nicht richtig ist und eigentlich aufgegeben werden müsste; aber sie sorgen, plagen und treiben sich und andere in diesen Dingen dennoch kaum weniger als alle Welt. Bloß wenn sie damit ins Unglück kommen, schreien sie wieder zu Gott um Hilfe. Das ist zwar das Beste, was sie dann noch tun können; aber zu verwundern ist es nicht, wenn er sie zuerst eine Zeitlang die Folgen ihres eigenmächtigen Handelns deutlich spüren lässt.
Überarbeiten muss man sich nicht, und das ist in der Regel, bei geordneter Lebensweise, auch nicht nötig. Mäßige Arbeit aber ist das beste Erhaltungsmittel der Kraft und das einzige unschädliche Reizmittel für untätige oder erschlaffte Kräfte.
4. Januar
Wenn einmal deine ganze Gedankenwelt dahin gerichtet ist, beständig zu fragen: »Was kann ich in diesem Augenblick Gutes und Richtiges tun?« statt (wie jetzt wahrscheinlich): »Was kann ich Schönes und Angenehmes genießen?« oder: »Wie kann ich meine Lage zu diesem Endzweck verbessern?«, dann wirst du eine ganz andere, befriedigendere Vorstellung von dieser Welt bekommen, in der du lebst, und überhaupt erst eigentlich wissen, was »leben« heißt.
Es wird dir damit zunächst sehr viel gleichgültiger werden, ob dein Leben etwas schwerer oder leichter, gesünder oder kränklicher sich gestaltet, wenn nur Gelegenheit zu Gutem vorhanden ist, an der es selten fehlt; während bei der anderen Lebensanschauung Unbefriedigung, Sorge, Furcht, überhaupt Unfriede innen und nach außen ganz unvermeidlich ist, selbst in den allerbesten Lebensstellungen, geschweige denn in den anderen.
Das ist der reelle und große Unterschied zwischen den heutigen Menschen aller Religionen und Klassen, neben dem alle anderen Unterschiede wenig bedeuten.
Halte dich an jene, die stets nach dem Guten und Richtigen fragen, gleichviel welche Religion oder Philosophie sie haben und welchem Stand sie angehören.
GBG 370 GBG 372
5. Januar
In schweren Angelegenheiten suche zuerst das aus, was dabei des Dankens wert ist, und danke dafür aufrichtig. Das gibt dem Gemüt die ruhigere Stimmung, in der auch das übrige erträglicher erscheint. Allmählich kann das durch beständige Übung zu einer guten Gewohnheit werden, die das Leben sehr erleichtert.
Wenn man sich ganz in Gottes Führung begeben kann, dann bekommt man eine edle Gleichgültigkeit gegen jene Dinge, die das Leben hauptsächlich erschweren und die wir mit unserem beständigen Sorgen doch nicht ändern können. Dieser »leichte Sinn« setzt aber voraus, dass man fest an Gott glaubt und alle seine Gebote wichtig nimmt.
Mt 6 33–34 GBG 176 GBG 685 Ps 23
6. Januar
Es in eine verbreitete Ansicht, dass es zu schwer oder vielmehr gar nicht möglich sei, nach den wirklichen Vorschriften des Christentums zu leben. Wenn dies wahr sein sollte, wäre es ebenso gut, eine solche Religion aufzugeben, statt sie bloß pro forma, zu lediglich kirchlichen oder politischen Zwecken beizubehalten. Allerdings würde wahrscheinlich, wenn Christus selber wieder auf Erden erschiene, das »ganze Jerusalem« ebenso sehr in Schrecken geraten wie beim ersten Mal.
Mt 2 3 Mt 7 28
Ich glaube aber nicht, dass die obige Ansicht jemals von einem Menschen geteilt oder gar ausgesprochen wurde, der das Christentum wirklich zu seinem Lebenseigentum gemacht hatte. Dann überwiegt das Schöne und Große bei weitem die Schwierigkeit. Der Anfang ist wohl ein Wagnis, aber nicht der Fortgang. Der ist vielmehr ein geebneter, wenn auch schmaler Pfad mit vielen Ruhepunkten und offenen Türen.
Lies einmal die Rede aufmerksam durch, die man jetzt die »Bergpredigt« nennt und deren Resümee auf uns gelangt ist. Sieh, ob du dich auch darüber »entsetzest« oder das alles für »ideale« Vorschriften hältst, die man in diesem Sinne annehmen und verstehen müsse, aber nicht auszuführen brauche. Von dieser Prüfung und Antwort hängt dein innerer Fortschritt ab. Willst du nicht wenigstens lebhaft wünschen, dies alles befolgen zu können, dann ist das Christentum nichts für dich, sondern musst du dich mit ein wenig Kirchenwesen oder Philosophie begnügen.
Es wäre allerdings eine ganz offenkundige Torheit, die Regeln der Bergpredigt aufstellen oder befolgen zu wollen, wenn es keinen Gott, sondern nur eine naturgeschichtliche Weltordnung im Sinne Darwins und einen bloßen »Kampf ums Dasein« unter den Menschen (oder im Großen nur eine sogenannte »Realpolitik«) gäbe. Wenn es aber einen Gott gibt und die treue Befolgung seiner Gebote mit dessen Segen, deren Missachtung aber mit seinem Fluch verbunden ist, dann steht die Sache anders. Das kann zum Glück von jedermann versucht werden; man braucht es nicht ohne weiteres zu glauben. Und es wird in der nächsten Zeit von vielen versucht werden, denen der Materialismus bereits zuwider geworden ist.
Joh 7 16–17 Joh 7 46 Joh 8 12 Joh 8 47
Man hat aber, wenn man solche Kapitel der Evangelien ganz unbefangen liest, das Gefühl, das Christentum müsse von einzelnen Menschen ganz von neuem angefangen und von dem ungeheuren Ballast oberflächlicher Kirchlichkeit befreit werden, mit dem es Jahrhunderte, die ihm geistig nicht gewachsen waren, überschüttet haben. Eine solche Zeit kommt jetzt heran: Die einen kündigen dem Christentum rundweg den Gehorsam auf, weil dies mit keinem bürgerlichen Rechtsnachteil mehr verbunden ist. Die anderen aber wenden sich ihm wegen seiner inneren Vorzüglichkeit nur um so vertrauensvoller und fester zu.
GBG 785
7. Januar
Dass man allen Beleidigern verzeihen soll, ist unzweifelhaft. Dieses Gebot wird durch Christus' Wort und Tat, aber auch durch die Erfahrung bekräftigt, dass nachgetragener Hass am inneren Leben zehrt und dem Menschen, der ihn hat,...