Die Achtsamkeitsbasierte Schmerzbewältigung stützt sich auf althergebrachte Meditationstechniken, die bis vor kurzem im Westen weitgehend unbekannt waren. Üblicherweise konzentriert man sich dabei auf den Atem und darauf, wie er in den Körper ein- und aus ihm herausströmt (siehe Kasten auf Seite 25). Auf diese Weise können Sie Ihren Geist und Körper in Aktion erleben, Schmerzempfindungen bei der Entstehung beobachten und die Gegenwehr loslassen. Achtsamkeit lehrt Sie, dass Schmerz auf natürliche Weise zu- und abnimmt. Sie lernen, ihn sanft zu beobachten, statt sich von ihm gefangen nehmen zu lassen. Dabei geschieht etwas Bemerkenswertes: Der Schmerz beginnt von selbst wegzuschmelzen. Nach einer Weile gelangen Sie zu der tiefen Erkenntnis, dass Schmerz in zwei Erscheinungsformen auftritt: einer primären und einer sekundären. Diese beiden Erscheinungsformen haben unterschiedliche Ursachen, und indem Sie das begreifen, bekommen Sie Ihr Leiden viel besser unter Kontrolle.
Der primäre Schmerz rührt meist von einer Krankheit, Verletzung oder Schädigung des Körpers oder Nervensystems her. Sie können sich ihn als eine Art unverarbeitete Information vorstellen, die vom Körper zum Gehirn gesendet wird. Der sekundäre Schmerz folgt schnell auf den primären, ist jedoch oft viel stärker und quälender als dieser. Den sekundären Schmerz kann man als Reaktion des Geistes auf den primären Schmerz auffassen.
Die Schmerzintensität kontrollieren
Der Geist ist dazu in der Lage, die Schmerzempfindungen zu kontrollieren, die Sie bewusst spüren, sowie den Grad ihrer unangenehmen Auswirkung auf Sie.[26] Er verfügt über einen «Regler», der sowohl die Intensität als auch die Dauer der Schmerzempfindungen steuert. Das liegt daran, dass Ihr Geist nicht einfach nur Schmerz empfindet, sondern auch die Information, die dieser enthält, verarbeitet. Ihr Geist analysiert all die verschiedenen Empfindungen, um herauszufinden, welche Ursachen ihnen zugrunde liegen, um weitere Schmerzen oder Schädigungen des Körpers zu vermeiden. In der Tat zoomt der Geist Ihren Schmerz heran, um ihn genauer zu betrachten und eine Lösung für Ihr Leiden zu finden. Dieses Heranzoomen verstärkt den Schmerz. Während der Geist den Schmerz analysiert, sucht er auch nach Erinnerungen an Anlässe, zu denen Sie in der Vergangenheit ähnlich gelitten haben. Er sucht nach einem Muster, nach Hinweisen, die zu einer Lösung führen können. Das Dumme daran ist, dass Ihr Geist, wenn Sie bereits monate- oder jahrelang unter Schmerzen oder Krankheit gelitten haben, auf einen reichhaltigen Vorrat an schmerzhaften Erinnerungen zurückgreifen kann – aber nur auf wenige Lösungen. Und ehe Sie sich’s versehen, wird Ihr Geist von beunruhigenden Erinnerungen überschwemmt. In solchen Gedanken an Ihr Leiden können Sie sich verfangen. Es mag dann so aussehen, als seien Sie schon immer krank und von Schmerzen geplagt gewesen, als hätten Sie nie eine Lösung gefunden und würden sie auch niemals finden. Das kann darauf hinauslaufen, dass Sie über den physischen Schmerz hinaus noch von Ängsten, Stress und Sorgen um die Zukunft geplagt werden: Was wird geschehen, wenn es mir nicht gelingt, diesen Schmerz einzudämmen? Werde ich für den Rest meines Lebens so leiden? Wird es vielleicht immer schlimmer werden?
Dieser Prozess läuft in Sekundenbruchteilen ab, bevor Sie sich dessen überhaupt bewusst werden. Jeder Gedanke baut auf dem vorigen auf, und daraus wird schnell ein Teufelskreis, der Ihr Leiden immer größer werden lässt. Und es kommt noch schlimmer, denn solcher Stress und solche Ängste wirken zurück auf den Körper und schaffen noch mehr Spannung und Stress. Dies kann die Krankheit bzw. die Verletzung verschlimmern und damit zu noch mehr Schmerzen führen. Es schwächt außerdem das Immunsystem und beeinträchtigt somit die Heilung. Auf diese Weise geraten Sie nur allzu leicht in eine Abwärtsspirale, die zu noch größerem Leiden führt.
Schlimmer noch: Solche Abwärtsspiralen können neuronale Pfade im Gehirn bahnen, die Sie für Leiden prädestinieren. In dem vergeblichen Bemühen, das Schlimmste zu vermeiden, beginnt Ihr Gehirn sich darauf einzustimmen, Schmerz schneller und mit größerer Intensität wahrzunehmen. Mit der Zeit wird das Gehirn tatsächlich besser im Aufspüren von Schmerz. Gehirnscans bestätigen, dass Menschen, die an chronischen Schmerzen leiden, mehr Gehirngewebe besitzen, das dem Wahrnehmen bewusster Schmerzempfindungen zuzuordnen ist.[27] Es ist beinahe so, als hätte das Gehirn die Lautstärke voll aufgedreht und wisse nun nicht mehr, wie es sie wieder leiser stellen kann.
Es ist wichtig zu betonen, dass sekundärer Schmerz real ist. Sie fühlen ihn wirklich. Er wird lediglich sekundärer Schmerz genannt, weil er eine Reaktion auf den primären Schmerz ist und intensiv bearbeitet wurde, bevor Sie ihn bewusst fühlen können. Aber genau diese Bearbeitung weist Ihnen auch einen Weg hinaus; es bedeutet, dass Sie lernen können, Kontrolle über den Schmerz zu erlangen. Aus diesem Grunde wird sekundärer Schmerz am besten als Leiden bezeichnet.
In der Praxis heißt das, dass Sie Schmerzen haben können, aber nicht leiden müssen. Haben Sie dies einmal in Ihrem Herzen verinnerlicht, so können Sie lernen, sich von Ihrem Leiden zu distanzieren, und anfangen, mit dem Schmerz tatsächlich auf andere Weise umzugehen. Achtsamkeit gibt Ihnen im Grunde die Kontrolle über Ihren Schmerz zurück.
Die positive Wirkung von Achtsamkeit auf den allgemeinen mentalen und physischen Gesundheitszustand wird durch ein breites Spektrum von wissenschaftlichen Studien belegt. Vielleicht sind Sie dennoch ein wenig skeptisch, was die Meditation angeht.[28] Mit diesem Wort assoziiert man womöglich eine ganze Kaskade von Stereotypen: buddhistische Mönche, Yoga-Kurse, Linsen, brauner Reis … Bevor wir also fortfahren, möchten wir gern mit einigen Mythen aufräumen:
Meditation ist keine Religion. Sie ist einfach eine mentale Übungsform, die – wie zahllose wissenschaftliche Versuche gezeigt haben – uns helfen kann, mit Schmerz, Krankheit, Angst, Stress, Depression, Reizbarkeit und Erschöpfung umzugehen.
Meditation will Sie nicht dazu bringen, passiv zu bleiben oder sich Ihrem Schicksal zu ergeben. Im Gegenteil: Achtsamkeit stärkt die mentale und körperliche Widerstandskraft.
Meditation will Sie nicht dazu verführen, eine lediglich aufgesetzte «positive» Haltung gegenüber dem Leben einzunehmen. Sie schafft vielmehr mentale Klarheit, die Ihnen hilft, das Leben zu genießen und Ihre Ziele zu erreichen.
Meditation erfordert keinen großen Zeitaufwand. Das Programm in diesem Buch erfordert etwa 20 Minuten Übung am Tag. Viele Menschen finden, dass Meditation ihnen in Wirklichkeit mehr Zeit verschafft, als sie sie kostet, weil sie weniger Zeit damit verbringen, sich gegen Schmerzen, Krankheit und Stress zu wehren.
Meditation ist weder schwierig noch kompliziert, auch wenn sie einige Bemühung sowie Beharrlichkeit voraussetzt. Sie können auf so ziemlich alles meditieren (siehe z.B. die Kaffeemeditation in Kapitel 3), und Sie können es praktisch überall tun – im Bus, im Zug, im Flugzeug oder selbst im hektischen Büro.
Eine einfache Atemmeditation
Meditation kann ganz einfach sein; man braucht keine Spezialausrüstung dafür. Die folgende Meditation umfasst die Grundtechnik und beansprucht nur wenige Minuten. Sie wirkt zutiefst entspannend.
Wenn Ihre Verfassung es erlaubt, setzen Sie sich aufrecht, aber entspannt auf einen Stuhl mit gerader Rückenlehne und stellen Sie die Füße mit der ganzen Sohle auf den Boden. Wenn Sie nicht sitzen können, legen Sie sich auf eine Matte oder Decke oder auf Ihr Bett. Lassen Sie die Arme und Hände so locker wie möglich.
Schließen Sie sanft die Augen und richten Sie Ihre Aufmerksamkeit auf den Atem, wie er in Ihren Körper ein- und aus ihm ausströmt. Nehmen Sie die Empfindungen wahr, die die Luft auslöst, wenn sie durch Ihren Mund oder die Nase die Kehle hinab und in Ihre Lunge fließt. Spüren Sie, wie sich Brust und Bauch beim Atmen heben und senken. Lenken Sie Ihre Aufmerksamkeit auf die Stellen, wo die Empfindungen am stärksten sind. Bleiben Sie in Kontakt mit jedem Einatem und jedem Ausatem. Beobachten Sie den Atem, ohne zu versuchen, ihn auf irgendeine Weise zu verändern, oder zu erwarten, dass etwas Besonderes passiert.
Wenn Ihr Geist abzuschweifen beginnt, lenken Sie ihn sanft zurück auf den Atem. Versuchen Sie, sich nicht zu kritisieren. Der Geist schweift nun einmal ab. Das ist seine Natur. Zu bemerken, dass Ihr Geist abgeschweift ist, und ihn dann dazu zu ermutigen, wieder zur Sammlung auf den Atem zurückzukehren – das ist der Kern der Achtsamkeitsübung.
Ihr Geist wird sich am Ende beruhigen – vielleicht aber auch nicht. Wenn er ruhig wird, dann ist dies eventuell nur von kurzer Dauer. Ihr Geist ist womöglich voll von Gedanken oder starken Emotionen wie etwa Angst, Wut, Stress oder Liebe. Und auch sie können flüchtig sein. Was immer auch geschieht, beobachten Sie es einfach so gut wie möglich, ohne zu reagieren oder zu versuchen, etwas zu verändern. Kehren Sie mit Ihrer Aufmerksamkeit immer und immer wieder sanft zu Ihrem Atem zurück.
Nach einigen Minuten oder, wenn Sie wollen, auch längerer Zeit öffnen Sie langsam die Augen und nehmen Sie Ihre Umgebung...