Was ist Schmerz?
Die beiden Seiten des Schmerzes
Wenn wir erzählt bekommen oder sehen, wie ein guter Freund mit einem scharfen Messer hantiert, dabei abrutscht und sich tief in die Hand schneidet, bis auf den Knochen, dann tut uns das fast selbst weh. Sein Schmerz steckt uns an. Wir können so etwas nicht nur zur Kenntnis nehmen und neutral beobachten.
Wenn ein Stück Fleisch zerlegt wird, ein Beefsteak oder ein Lammrücken, so berührt uns das nicht wirklich. Wenn das Messer aber in lebendes Fleisch fährt, dann verletzt das etwas – in uns und erst recht in der betroffenen Person.
Warum stecken Verletzungen und Schmerzen an? Beim Sehen zum Beispiel ist das anders: Wenn unser Freund eine Rose sieht und wir nicht – warum spüren wir hier nicht, was er sieht und empfindet?
Wohl deshalb, weil wir beim Sehen den Gegenstand, die Rose, brauchen, um mitsehen zu können. Und sei es auch nur durch eine detaillierte Beschreibung und darauf aufbauende innere Bilder.
Unsere Sinne (Sehen, Hören, Riechen, Schmecken, Tasten sowie der Temperatursinn) verweisen auf umliegende Dinge oder Ereignisse. Auch Schmerzen tun das; sie verweisen etwa auf die Tatsache, dass die Hand verletzt wurde und nun eine tiefe Schnittwunde hat. Anders als bei den Wahrnehmungen mittels unserer Sinnesorgane jedoch bestehen Schmerzen immer auch aus einer Botschaft über uns selbst. Es gehört zum Wesen jeder schmerzhaften Wahrnehmung, dass sie anzeigt, wie es uns damit geht.
Sehen kann angenehm oder unangenehm sein; das Gesehene etwas, was man erstreben oder vermeiden will. Meist verhält sich das Sehen einfach neutral und gleichsam unbeteiligt. Wenn aber eine Hand verletzt wird, dann nehmen wir nicht nur eine Hand wahr, sondern die Hand des Freundes oder die eigene Hand.
Das heißt, Schmerz bildet eine Schnittmenge, ein Mittelding zwischen einer Sinnesfunktion, dem Wahrnehmen von etwas (zum Beispiel dem Sehen der Rose), und einem Gefühl, einer inneren Empfindung, die unseren Mitmenschen oder uns selbst meint.
Wir können uns in unsere Mitmenschen hineinfühlen und verstehen, was sie erleben, weil wir selbst schon Schmerzen empfunden haben und ein andermal wieder empfinden können und weil wir nicht nur von außen (etwa über das Sehen und Hören), sondern von innen heraus mitwissen und mitfühlen, was dem Freund passiert und was er erleidet, wenn er seine Hand verletzt.
Schmerz hat also zwei Seiten. Zum einen berichtet er uns ebenso wie unsere Wahrnehmungssinne über objektive Sachverhalte. Zum anderen ist er eine sehr subjektive (persönliche) und intersubjektive (zwischenmenschliche) Angelegenheit, bei der es um unser Innenleben und um die Beziehung zu unseren Mitmenschen geht. Wir können nicht nur körperliche Schmerzen (die Wunde an der eigenen Hand), sondern auch seelische Schmerzen (die Wunde an der Hand des Freundes) haben.
Die eine Seite können wir die physiologische Seite des Schmerzes nennen, die andere die psychologische.
Wahrnehmung von etwas, Wissen über etwas | Gefühl für Mitmenschen und sich selbst |
objektiv (»die Hand«) | subjektiv (»seine Hand«, »meine Hand«) |
physiologisch (Schmerzwahrnehmung mittels spezifischer Sensoren, sog. Nozizeption) | psychologisch und sozial (Schmerzerleben)
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(1) Die physiologische Seite: Die Schmerzwahrnehmung wird in den verschiedenen Fächern der Medizin beschrieben und behandelt. In der Neurologie, der Orthopädie usw. wird versucht, die jeweils zugrunde liegenden körperlichen Sachverhalte zu klären. Dabei geht es zum einen um die Schmerz auslösenden Faktoren.
Diese sind sehr gut erkennbar bei einer Verletzung der Hand; weniger deutlich verhält es sich bei etwaigen Gelenkentzündungen oder zum Beispiel bei Schmerzen der inneren Organe. Vgl. hierzu das Kapitel »Die Physiologie des Schmerzes«.
Zum anderen interessiert sich die Medizin für die entsprechenden Wahrnehmungs- und Verarbeitungsorgane; also für die Schmerzsensoren sowie für die Nerven- und Hirnstrukturen, welche den Schmerz verarbeiten.
(2) Die psychologische Seite: Das Schmerzerleben wird in der Psychologie beschrieben und behandelt. Die verschiedenen Ausrichtungen der Psychologie formulieren dabei unterschiedliche Erklärungen und therapeutische Wege. Insbesondere die Theorie, dass Schmerzen über das Mitleiden von vertrauten Personen »sozial verstärkt« werden, ist hier eine Leitidee: In einfachen Versuchsanordnungen kann man die Schmerzempfindlichkeit eines Menschen bestimmen. Dabei gibt man Versuchspersonen eine Schmerzskala in die Hand, auf der sie ihre Schmerzen stufenlos von »0 = schmerzlos« bis »10 = unerträglich« einordnen können. Gibt man nun den Testpersonen auf der Haut ganz feine Stromreize, dann können sie diese Reize über die Skala beschreiben. Je stärker die Stromreize sind, umso höher fallen die Schmerzangaben (die Werte der Schmerzskala) aus. Testet man mehrere Personen, so kann man einen Durchschnitt ermitteln. Der Reizwert x entspricht dann dem Schmerzwert 1, der Reizwert y dem Schmerzwert 2 usw. So erhält man objektive Durchschnitts-Schmerzwerte, die objektiven Reizwerten (zum Beispiel bestimmten Stromstärken usw.) entsprechen.
Interessant ist nun die Tatsache, dass diese Schmerzwerte deutlich höher ausfallen, wenn die Teilnehmer nicht allein an solchen Versuchen teilnehmen, sondern in Begleitung einer vertrauten Person. Sitzt also der Ehepartner während der Versuche direkt neben der Testperson, so ist die Testperson schmerzempfindlicher. Derselbe Reizwert (Stromwert x) verursacht dann nicht mehr den Schmerzwert »1«, sondern zum Beispiel den Wert »1,5« oder »2«. Daraus schließt die Psychologie, dass unser Schmerzerleben nicht einfach nur eine Reaktion auf objektive Störfaktoren ist, sondern dass Schmerzen seelisch, mitmenschlich-sozial beeinflusst und geregelt werden. Das Mitleiden einer vertrauten Begleitperson verstärkt die Schmerzen der Testperson.
Das Modell der sozialen Verstärkung des Schmerzerlebens bildet die Basis für entsprechende Konzepte der Schmerztherapie. Wenn unser Schmerzerleben von subjektiven (nicht objektiven) Faktoren abhängig ist, muss auch das Schmerzerleben von Schmerzpatienten über solche subjektiven Faktoren zu beeinflussen sein. Über die Lenkung der eigenen Aufmerksamkeit und die Beeinflussung der eigenen, subjektiven Faktoren soll es den Betroffenen möglich werden, ihr Schmerzerleben weniger empfindlich zu gestalten. Schmerzen sollen dadurch weniger schmerzhaft sein.
Die objektive und die subjektive Seite – ist das alles? Sehr häufig zeigt sich, dass diese beiden Grundkonzepte, die Medizin einerseits, die Psychologie andererseits, nicht weiterhelfen, wenn es um die Therapie und das praktische Vermeiden von Schmerzen geht, und zwar, weil sie am eigentlichen Phänomen Schmerz vorbeigreifen.
Eine dritte Sichtweise
In diesem Ratgeber wollen wir eine dritte Sichtweise vorstellen. Eine dritte Sichtweise im Sinne einer Synthese, einer Summe, die bekanntlich mehr als ihre Einzelteile ist.
Bei vielen Schmerzen genügen weder die Mittel der Medizin für sich allein, noch führen die Wege der Psychologie zu den Zielen der Schmerzfreiheit oder Schmerzreduktion und Schmerzprävention.
Dessen ungeachtet sind sehr viele Erkenntnisse dieser beiden Sichtweisen und Wege enorm aufschlussreich. Wir können sagen: Sowohl die medizinische als auch die psychologische Sichtweise halten wertvolle Erkenntnisse bereit. Warum sie dennoch am eigentlichen Phänomen Schmerz vorbeigreifen? – Dies liegt daran, dass diese beiden Sichtweisen getrennt voneinander entwickelt und genutzt werden.
Vielleicht können wir diese beiden Sichtweisen mit unseren beiden Augen vergleichen. Jedes von ihnen kann sehen. Wenn wir ein Auge schließen und mit einem Auge die Umgebung beschreiben, so liegen wir mit unseren Aussagen meist richtig. Wir können eine gelbe Rose auch mit einem Auge erkennen. Wenn wir aber die Rose nun greifen wollen, kommt eine leichte Unsicherheit in unser Tun. So etwas geht besser mit beiden Augen. Zwar ist der optische Eindruck, den uns das offene Auge bietet, korrekt. Wenn wir uns jedoch unbeirrt und zielsicher verhalten wollen, brauchen wir einen dreidimensionalen Seheindruck. Dann sehen wir nicht nur richtig, sondern für uns passend. Keines der beiden Augen kann dieses Kunststück alleine leisten.
Eine...