DER LANGE ARM DES DARMS
Was haben Darm und Haut gemeinsam? Auf den ersten Blick überhaupt nichts! Unsere Haut ist – wenn sie gesund und gepflegt ist – unser Aushängeschild. Sie verleiht uns Attraktivität, sie informiert über unsere Gesundheit und gibt Auskunft über unseren Ernährungszustand. Sogar Rückschlüsse auf unseren Lebensstil lässt diese äußere Hülle zu: Haben wir eine tolle Partynacht hinter uns, wirkt unsere Haut blass und erschöpft. Rauchern und Sonnenanbetern sieht man ihre Leidenschaft ebenfalls im Gesicht an. Ihre Haut wird früh faltig, und Pigmentflecken lassen sie alt aussehen. Und nicht zuletzt soll unsere Haut ja auch der Spiegel unserer Seele sein. Wenn wir Stress und Sorgen haben, sprießen Pickel und blühen Entzündungen. Geht es uns gut, strahlt unsere Haut wie die Sonne an einem warmen Junitag.
Der Darm hingegen … naja. Sexy ist er nicht, und auf der Rangliste der attraktiven Organe rangierte er bis vor einigen Jahren ganz weit unten. Doch das hat sich inzwischen geändert: Unser Verdauungstrakt ist vom Kellerkind zum Superstar avanciert, und – im Gegensatz zur gefälligen Haut – wird über den weniger hübschen Darm und seine Bewohner, die Darmkeime, derzeit fast täglich in den Medien berichtet. Diesen gesellschaftlichen Aufstieg verdankt unsere Körpermitte der aktuellen wissenschaftlichen Forschung. Wöchentlich entdecken Experten neue Fähigkeiten dieses bisher unterschätzten Körperteils. Besondere Aufmerksamkeit kommt dabei der Darmflora zu, denn die Keime entscheiden häufig über schlank oder dick und oft auch über gesund oder krank. Aus der aktuellen Forschung haben wir inzwischen gelernt, dass Keime nicht grundsätzlich schädlich sind, sondern uns eine ganze Menge guter Dienste leisten. Wenn es im Darm ordentlich wimmelt, geht es uns rundherum gut.
Und der „lange Arm“ des Darms reicht weit in den Körper hinein. Fast jedes Organ wird durch die Arbeit unseres Verdauungsorgans beeinflusst, denn der Darm ist kein schüchternes Mauerblümchen, sondern ein recht kontaktfreudiger und gleichzeitig gutmütiger und hilfreicher Geselle. Mit Botenstoffen und Hormonen, die die Darmbakterien produzieren sowie mit Immunzellen, die in seinem Inneren trainiert werden, hält der Darm ständig engen Kontakt zu anderen Körpergeweben. Er unterstützt deren Arbeit und sorgt dafür, dass alles wie am Schnürchen läuft. Ein gesunder Darm ist der Schlüssel zu einer ganzen Menge gesunder und angenehmer Dinge: Er macht nicht nur schlank und happy, sondern kann uns zu einem klaren Teint, weniger Pickeln, vollem Haar und bei Allergien und Hauterkrankungen zur Linderung verhelfen. Nur wenn es Ihrer Darmflora gut geht, strahlt auch Ihre Haut und glänzen die Haare.
AUF EWIG VERBUNDEN
Die Verbindung zwischen Darm und Haut ist – wenn auch nur auf den zweiten Blick – gut zu erkennen. Denn unsere Haut hört nicht an den Lippen auf. Sie stülpt sich am Übergang der Gesichtshaut zum Mund mit einem etwas veränderten Aussehen nach innen und kleidet nicht nur den Mund aus, sondern zieht sich als sogenannte Schleimhaut durch den gesamten Verdauungstrakt. Haut und Schleimhaut des Darms stehen also in einer direkten Verbindung, gehen quasi ineinander über. Sowohl die Haut als auch die Darmschleimhaut stellen wichtige Grenzzonen dar, die den Körper vor schädlichen äußeren Einflüssen schützen, denn im Darm und auf der Haut treffen Umwelt und Mensch aufeinander. Man spricht deshalb von der „Darmbarriere“ und der „Hautbarriere“. Dabei gilt es jeweils große Flächen abzusichern. Die Haut bedeckt rund 2 Quadratmeter unseres Körpers. Das entspricht in etwa der Größe einer Tischdecke. Der Darm hingegen misst in seiner gesamten Ausdehnung fast 500 Quadratmeter und umfasst somit die Grundfläche eines Tennisplatzes. Dieses riesige Organ passt nur deshalb in einen kleinen Körper, weil es in zahlreiche winzige Falten gelegt und mit unzähligen Ausstülpungen versehen ist, die zusammen eine so große Oberfläche bilden.
Bei ihrer Abwehrfunktion können sich Haut und Darmschleimhaut auf Billionen von Mitarbeitern verlassen. Alle beide sind Tummelplätze und Lebensräume für zahllose Mikroorganismen. Diese Keime sind unerlässliche Helfer, die auf der Haut und im Darm wichtige Aufgaben übernehmen. Studien belegen inzwischen, dass die Haut enorm profitiert, wenn man seine Darmflora optimiert. Ebenso ist eine intakte Hautflora unerlässlich für ein gutes Hautgefühl. Schon durch ein paar kleine Veränderungen in Hautpflege und Ernährung lässt sich die Situation unserer Keime enorm verbessern.
Schön geschwungene Lippen sind sehr attraktiv, anatomisch gesehen bilden sie allerdings nur das Ende des Verdauungstrakts.
EINE REISE NACH LILIPUT
In uns und auf uns sprießt und wuchert eine mehr oder weniger üppige Vegetation – wie in einem tropischen Regenwald bei warmem Nieselregen. Sie wird „Flora“ genannt. Als „Flora“ bezeichnet man normalerweise die Gesamtheit aller Pflanzen, die in einer bestimmten Region vorkommen. Darunter fallen Blumen genauso wie Unkräuter, essbares Grünzeug ebenso wie Giftsträucher. Auch in und auf unserem Körper wächst eine Flora. Sie umfasst die Fülle der Mikroorganismen, die den Körper besiedeln, also vor allem Bakterien, Pilze und Viren. Je nach Lokalisation bezeichnet man diese Keime zum Beispiel als „Hautflora“, „Mundflora“ oder „Darmflora“. Genauso wie in der Natur eine Monokultur nicht nur öde und langweilig, sondern auch extrem anfällig für Schädlinge und Unwetter ist, so schadet uns Menschen auch eine eintönige Bakterienlandschaft. Daher sollten wir uns um eine möglichst abwechslungsreiche Flora bemühen, denn sie ist enorm wichtig und trägt entscheidend zu Gesundheit, Wohlbefinden und Attraktivität bei.
Eine abwechslungsreiche Flora ist widerstandsfähiger und gesünder – sowohl in der Natur als auch im Darm.
Doch obwohl sie so hilfreiche Gesellen sind, rufen Mikroorganismen bei uns nur selten Gefühle wie Wohlwollen oder Zuneigung hervor. Das Spektrum der Empfindungen reicht von Ekel (Fußpilz, Eiterbakterien) über unmerkliches Zurückweichen (Schnupfenviren, Lippenherpes, Brechdurchfall) bis hin zu Panikreaktionen, wie man sie eine Zeit lang sogar in Europa durch die Erwähnung von Ebolaerregern oder HI-Viren auslösen konnte. Die Tatsache, dass nur 0,0000000000001 Gramm leichte Bakterien einen 110.000 Gramm schweren Mann ins Jenseits befördern können, macht verständlicherweise Angst. Die schlimmsten Epidemien in der Geschichte der Menschheit waren bakteriellen Ursprungs. So tötete das Pestbakterium (Yersinia pestis) innerhalb von nur 4 Jahren (1347–1351) 25 Millionen Menschen in Europa und rottete damit ein Drittel der Bevölkerung aus. Kein Wunder also, dass wir Bakterien zunächst einmal mit einer gesunden Skepsis und Zurückhaltung begegnen.
Es ist ja auch irgendwie gruselig, dass wir diese Winzlinge nicht sehen können und sie dennoch unseren Körper besiedeln und die Welt beherrschen. Mikroorganismen machen 70 Prozent der gesamten lebenden Biomasse der Erde aus. Schon ein einziges Gramm Gartenerde enthält rund 100 Millionen Bakterien und 500.000 Pilze. Zudem lassen sie sich mit den üblichen Instrumenten auch kaum messen oder wiegen. Forschern ist es aber jetzt gelungen, mit einer speziellen Waage das Gewicht eines einzelnen Bakteriums zu bestimmen. Demnach wiegt ein einzelner Keim meist zwischen 100 und 200 Femtogramm. Ein Femtogramm (fm) ist ein Millionstel eines Milliardstel Gramms, also 0,0000000000001 g. Das ist schon sehr wenig! Laut der Internetseite www.wissen.de verhält sich die Masse von 1 fm zu einem Kilogramm wie die Masse eines Lkw zu der des Zwergplaneten Pluto. Wobei es jetzt natürlich auch schwer ist, den Laster vor seinem geistigen Auge in Bezug zu dem Zwergplaneten zu setzen. Ich habe da ehrlich gesagt keine so ganz konkrete Vorstellung – gehen wir also einfach mal davon aus, dass Keime unvorstellbar winzig sind. Und diese mikroskopisch kleine Welt ist ähnlich schwer zu begreifen wie die endlosen Weiten des Weltalls.
Denn wenn es um die geheime Welt der Mikroorganismen in unserem Körper geht, warten noch mehr Superlative darauf, bestaunt zu werden. Bräche man die 4,6 Milliarden Jahre alte Geschichte der Erde auf 24 Stunden herunter, dann stellte man fest, dass Mikroorganismen Überlebensweltmeister sind, die sich allen noch so widrigen Umständen anpassen können. Im 24-Stunden-Modell der Erde würde man ersten einfach gebauten Bakterien bereits im Urozean kurz nach 00.00 Uhr begegnen. Gegen 16.00 Uhr, also am späten Nachmittag der Evolution, kämen dann die ersten mehrzelligen Organismen dazu. Und wo bleibt der Mensch? Wenn die Dauer der Erdgeschichte einem Tag entspräche, dann erschiene er erst 3 Sekunden vor 24.00 Uhr auf der Bildfläche. Bakterien haben...