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Schreiben als Lebensform - Zur Selbstthematisierung des Schriftstellers in Wolfgang Hilbigs Roman 'Eine Übertragung'

Zur Selbstthematisierung des Schriftstellers in Wolfgang Hilbigs Roman Eine Übertragung

AutorMichael Birkner
VerlagGRIN Verlag
Erscheinungsjahr2006
Seitenanzahl89 Seiten
ISBN9783638510011
FormatePUB/PDF
Kopierschutzkein Kopierschutz
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis14,99 EUR
Magisterarbeit aus dem Jahr 2001 im Fachbereich Germanistik - Neuere Deutsche Literatur, Note: 1,0, Freie Universität Berlin (Institut für Germanistik), 60 Quellen im Literaturverzeichnis, Sprache: Deutsch, Abstract: Es gibt wohl kaum einen Autor, der in seinem Werk mit einer solchen Häufigkeit das Schreiben thematisiert wie Wolfgang Hilbig, ja für dessen Texte die interne Reflexion der Schreibtätigkeit als konstitutiv anzusehen ist. Immer wieder stellt Hilbig dabei den lebensweltlichen Bezug des Schreibens, den kulturellen und historisch-politischen Bezugsrahmen und die 'autobiographische' Dimension her. Innerhalb der einzelnen Kontexte wie auch losgelöst von ihnen, in der Darstellung seiner Selbstbezüglichkeit, nimmt das Schreiben die Gestalt einer Obsession an. Die Hoffnung, Selbstvergewisserung durch das Schreiben zu finden, kann als ein allgemeines Charakteristikum des Schriftstellers gelten; der in Hilbigs Texten immer wieder thematisierte, in 'Eine Übertragung' gar handlungsbildende 'writers-block' verweist jedoch darüber hinaus auf ein gesteigertes Bedürfnis nach Identität, das auf den unerträglichen Selbstverlust des Schreibenden im Alltag zurückführbar ist; das Schreiben wird zur einzigen 'identitätsstiftenden' individuellen Handlung. Das erste Kapitel der vorliegenden Magisterarbeit stellt die reaktiven und die aktiven Komponenten des Schreibens unter Einbeziehung von Reflexionen der Ich-Erzähler verschiedener Texte Hilbigs über das Schreiben aus. Es geht mir in meiner Darstellung der Entfremdungserscheinungen, der Problematik 'autobiographischen' Schreibens und der Bedeutung des Schreibprozesses für den Schrei-benden darum, für die im Hauptteil meiner Arbeit erfolgende (Struktur-)Analyse von 'Eine Übertragung' einen philosophischen und schreibtheoretischen Kontext bereitzustellen, der meine Unter-suchung erweitert, vertieft und begrifflich stützt. In 'Eine Übertragung' (1989) hat Wolfgang Hilbig den Zusammenhang von Leben und Schreiben zum Hauptgegenstand eines Romans gemacht. Entscheidend ist, daß der Ich-Erzähler das Schreiben hier nicht nur innerhalb reflektierender Passagen thematisiert, sondern daß es selbst Gegenstand der Handlung ist. Im Zentrum meiner Studie steht daher eine Strukturanalyse des Romans, mit welcher ich literaturwissenschaftliches Neuland betrete; dabei wird sich zeigen, daß das Romanprojekt in einer - auch und gerade poetologischen - Selbstbeschreibung des Ich-Erzählers besteht, welche durch eine von ihm durchstandene, handlungsbildende Schreib- und Lebenskrise motiviert wird.

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Leseprobe

2.  Zur Selbstthematisierung des Schreibenden in Wolfgang

 

   Hilbigs Roman „Eine Übertragung“

 

2.1 Der Roman einer Schreibund Lebenskrise

 

Wolfgang Hilbigs letztem zu DDR-Zeiten publizierten Text und zugleich erstem Roman „Eine Übertragung“ (1989) kommt vor al­lem aus zwei Gründen der Stellenwert eines Opus magnum zu: zum einen enthält der Roman eine umfassende Auseinander­set­zung mit dem eigenen, in seinem Wesen autobiographischen Schrei­ben, in deren Verlauf Hilbig sämtliche Zentralmotive und Themenschwerpunkte seiner Prosa aufgreift;[73] zum anderen ist er das Werk Hilbigs, das in radikaler Weise die Zerstörung von Sub­jektivität im totalitären Staat aufzeigt und durch seine Zuge­hö­rigkeit zur literarischen Moderne vor allem der Kafkas und Becketts die Sonderrolle Hilbigs innerhalb der DDR-Literatur be­legt.[74]

 

Die Beschreibung zerstörter Subjektivität und die Erforschung ih­rer Ursachen liefert Hilbig hier wie immer am Beispiel sei­nes Ich-Erzählers; das Be­sondere seines ersten Romans besteht jedoch darin, daß sich der Erzähler in seiner Eigenschaft als Schrei­bender selbst thematisiert und das Schrei­ben demzufolge den Haupt­ge­genstand des Romans ausmacht. Wie ich in diesem Abschnitt zunächst zeigen werde, wird das Schrei­ben deshalb thematisch, weil der Erzähler eine Schreib­krise schildert, die ein Eingriff der Staatsmacht in sein Leben verursacht, welcher die Infragestellung seiner Subjektivität zur Folge hat. Hilbig entwickelt damit die ideologieund zivilisationskritische Dimension des Romans di­rekt aus der Schreib­krise des Erzählers und weist beides, Ideo­logie und Zivilisationskritik, als einen Grundimpuls seines Schrei­bens aus. Da im Laufe des Romans deutlich wird, daß der Erzähler die Verhinderung von Subjektivität in sämtlichen Ab­schnitten seines Lebens von der frühen Kindheit über die Schul­zeit bis ins Ar­beitsleben hinein erfahren und seit jeher im Schrei­ben die ihm einzig mögliche Lebensform gefunden hat, wird das Schrei­ben zum eigentlichen Thema der „Autobiographie“.

 

Aus dem gleichen Grund, aus dem das Schrei­ben selbst thema­tisch wird, kann auch die Schreib­hemmung zum Gegenstand des Romans werden. Denn gerade weil im gelingenden Schreib­akt das Autobiographische konstruiert werden soll als Surrogat des feh­lenden bzw. zerstörten Lebens, wirft jede Schreib­hemmung den Ich-Erzähler sogleich in eine existentielle Krise; diese Gefahr wird durch seine eigene Lebensform bedingt, da er diese nur durch eine stetige Umwandlung von Lebensin Schreib­zeit aufrechterhalten kann. Welche individuellen z. B. psychische, kognitive, charak­terliche und gesellschaftlichen Faktoren z. B. Sozialisation, Staatspolitik dafür ausschlaggebend sind, daß eine dauerhafte Schreib­krise für den Ich-Erzähler katastrophale Folgen zeitigt, ver­anschaulicht und ergründet Hilbig in „Eine Übertragung“.

 

Eine Rekonstruktion der Handlung des Romans erfolgt weiter un­ten; da es mir zunächst um eine Bestimmung der eigentüm­lichen Selbstthematisierung des Schrei­benden geht, die Hilbig hier vor­nimmt, genügt es an dieser Stelle, die Ursachen und Folgen der Schreib­krise des Ich-Erzählers zu umreißen.

 

Die Schreib­krise wird durch einen gewaltsamen Akt der Fremdbe­schreibung des Ich-Erzählers von seiten der Staatsmacht ausgelöst. Er wird eines Morgens verhaftet und beschuldigt, eine Straftat be­gangen zu haben, die offensichtlich nur ein Vorwand darstellt, der es ermöglichen soll, seine Person zu diskreditieren. Ihm werden bezüglich der von den Beamten erfundenen Tat Motive unter­stellt, die aus ebenfalls seiner Person zugeschriebenen Eigenschaf­ten hergeleitet werden. Da es sich um den Vorwurf der Brandstif­tung handelt, konstruieren die Vernehmer z. B. eine Verbindung zwischen seinem Beruf als Heizer und seiner geheimen Schrift­stellerexistenz; er sei nicht nur in seiner Persönlichkeit gespalten, sondern werde auch hin und her gerissen „zwischen dem Schrei­ben und Feuermachen“ (EÜ, S. 110). Die Ambiguität des Wortes „Feuermachen“ heizen bzw. etwas anzünden macht deutlich, daß die Vernehmer ohne weiteres aufgrund der Doppelexistenz des Ich-Erzählers das Psychogramm eines Brandstifters erstellen. Die Fremdbeschrei­bung, der er sich ausgesetzt sieht, beruht auf ei­nem falschen logischen Analogieschluß, da eine Übereinstim­mung zwischen dem Heizer und dem Brandstifter nur rein phä­nomenal, im Herstellen eines Feuers, keineswegs aber intentio­nal, im Zweck ihrer Arbeit, besteht. Dieses Beispiel zeigt, wie eine Macht, die sich das Recht auf eine objektive Beschreibung der Wirklichkeit, resp. einer Person zuschreibt, biographische Fakten manipuliert.[75] Die von ihrem (hier: sozialistischen) Menschenbild abweichenden Eigenschaften seiner Person genügen den Macht­habern, um seinen Lebenslauf zur Biographie eines Kriminellen zu objektivieren.[76]

 

Die Wirkung dieses für den Ich-Erzähler traumatischen Erlebnis­ses besteht darin, daß die aufoktroyierte Fremdbeschreibung ihn dazu zwingt, sich zu rechtfertigen. Da er weder in seinem derzeiti­gen Zustand eine stabile Identität besitzt noch durch einen Rück­blick auf seine nähere wie fernere Vergangenheit seiner selbst ge­wiß wird, verliert er die Fähigkeit zur Selbstbeschreibung. Da diese die Bedingung der Möglichkeit des Schrei­bens ist, entsteht ein Writer´s block:

 

„Jene Gestalt, um die es während der Vernehmungen gegangen war und die dann verwirrt [...] mit sich allein gelassen worden war, während das banale Objektivie­ren der Gesetzeshüter stur weiterging, war eigentlich ein Ergebnis von Ignoranz [...] Dieses Muster war es, das meine Geschichten verhinderte, die Ignoranz war in mich gefahren und verhinderte die Wahrnehmung meines Lebens.“ (EÜ, S. 256; Hervorhebung M. B.)

 

Die Selbstdiagnose, die der Erzähler in diesem Passus aus zeit­licher Distanz zu seiner Verhaftung liefert, erklärt die Ursache für den mißlingenden Rechtfertigungsversuch. Die Struktur seiner Beschreibung von außen wird ihm nämlich zur Form seiner Selbstwahrnehmung: er betrachtet sich und sein bisheriges Leben fortan mit einem durch den Anspruch auf Objektivität geleiteten kriminalistischen Erklärungswahn, welcher die notwendige Aus­bildung eines subjektiven Standpunkts gerade verhindert. Man kann darin mit Freud[77] eine Form der Symptombildung durch eine partielle Identifizierung mit einem ungeliebten Objekt, hier der Staatsmacht, sehen. Darauf deuten vor allem die Schuldge­fühle hin, die den Protagonisten nach seiner Verhaftung dazu bewegen, unaufhörlich nach einer Erklärung zu suchen, und in denen sich die existentielle Angst ausdrückt, vernichtet werden zu können.[78] Die Androhung von Strafe löst unbewußt die Intro­jektion von Zügen des nicht erreichbaren Objekts aus, welche als pathologisches Symptom bestehen bleiben. Da der Protagonist C. in seinem bisherigen Leben nur ein „Trümmerfeld von Zusam­menhanglosigkeiten“ (EÜ, S. 60) erblickt und in seiner gegenwär­tigen Situation zu keiner Form musterhaften Erlebens imstande ist, beginnt er zwanghaft Sinnzusammenhänge zu entwerfen. Durch ihren fehlenden Realitätsbezug verstärken diese seine Desorientierung jedoch bloß und erweisen sich als das falsche Mit­tel zur Herstellung von Subjektivität. Sein erster scheiternder Schreib­versuch kurz nach der Entlassung aus der Untersu­chungshaft illustriert ihm dies unfreiwillig; denn beim Versuch einer Selbstbeschreibung entsteht „kein lebendiges Wesen, son­dern höchstens eine roboterähnliche Stilfigur, der die Lebenszu­sammenhänge entglitten waren“ (EÜ, S. 77). Dieser in der subjekt­losen Roboterfigur manifest werdende Ich-Verlust verdeutlicht, daß für den Ich-Erzähler die Schreibmit der Lebenskrise identisch ist. Denn weil der Erzähler die Defizite seines grundsätzlich im Zeichen der Krise stehenden Lebens nur im Schreib­prozeß vor­läufig zu überwinden vermag, bringt die Schreib­krise sogleich seine Lebenskrise zum Vorschein. Sie bewegt ihn zu dem Ent­schluß, aus seiner Heimatstadt zu fliehen und in Berlin unterzu­tauchen.[79] Dadurch erfüllt er aber exakt das Ziel der Vernehmer, deren Taktik darin bestand, „auf meine Entwurzelung ab[zuzielen], ihr Ziel war, mich zu kriminalisieren“ (EÜ, S. 257).

 

Hilbig führt hier vor, wie der einzelne gezwungen werden soll, sich der nach dem Selbstverständnis der Ideologen objektiven Beschreibung der Wirklichkeit zu beugen. Er wirft damit anhand des besonderen Falls seines Ich-Erzählers das allgemeine Problem der Sozialisation im totalitären Staat auf, denn die enorme Wir­kung, die die Verhaftung auf den Erzähler zeitigt, erklärt dieser sich selbst später dadurch, daß er das Denkmuster der Ideologen bereits während seiner Kindheit internalisiert hat. Von diesem frühen Zeitpunkt an bis in die Zeit der Romanhandlung hinein war nämlich „sein Verhalten [...] das eines Gottes gewesen, der die Dinge nach den eigenen Erklärungen auftreten gesehen, die Zu­sammenhänge nach den eigenen Erklärungen funktionieren ge­sehen hatte: immer, selbst während seiner Niederlagen, hatte er ein von Gott übernommenes oder erlerntes...

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