2. Zur Selbstthematisierung des Schreibenden in Wolfgang
Hilbigs Roman „Eine Übertragung“
2.1 Der Roman einer Schreibund Lebenskrise
Wolfgang Hilbigs letztem zu DDR-Zeiten publizierten Text und zugleich erstem Roman „Eine Übertragung“ (1989) kommt vor allem aus zwei Gründen der Stellenwert eines Opus magnum zu: zum einen enthält der Roman eine umfassende Auseinandersetzung mit dem eigenen, in seinem Wesen autobiographischen Schreiben, in deren Verlauf Hilbig sämtliche Zentralmotive und Themenschwerpunkte seiner Prosa aufgreift;[73] zum anderen ist er das Werk Hilbigs, das in radikaler Weise die Zerstörung von Subjektivität im totalitären Staat aufzeigt und durch seine Zugehörigkeit zur literarischen Moderne vor allem der Kafkas und Becketts die Sonderrolle Hilbigs innerhalb der DDR-Literatur belegt.[74]
Die Beschreibung zerstörter Subjektivität und die Erforschung ihrer Ursachen liefert Hilbig hier wie immer am Beispiel seines Ich-Erzählers; das Besondere seines ersten Romans besteht jedoch darin, daß sich der Erzähler in seiner Eigenschaft als Schreibender selbst thematisiert und das Schreiben demzufolge den Hauptgegenstand des Romans ausmacht. Wie ich in diesem Abschnitt zunächst zeigen werde, wird das Schreiben deshalb thematisch, weil der Erzähler eine Schreibkrise schildert, die ein Eingriff der Staatsmacht in sein Leben verursacht, welcher die Infragestellung seiner Subjektivität zur Folge hat. Hilbig entwickelt damit die ideologieund zivilisationskritische Dimension des Romans direkt aus der Schreibkrise des Erzählers und weist beides, Ideologie und Zivilisationskritik, als einen Grundimpuls seines Schreibens aus. Da im Laufe des Romans deutlich wird, daß der Erzähler die Verhinderung von Subjektivität in sämtlichen Abschnitten seines Lebens von der frühen Kindheit über die Schulzeit bis ins Arbeitsleben hinein erfahren und seit jeher im Schreiben die ihm einzig mögliche Lebensform gefunden hat, wird das Schreiben zum eigentlichen Thema der „Autobiographie“.
Aus dem gleichen Grund, aus dem das Schreiben selbst thematisch wird, kann auch die Schreibhemmung zum Gegenstand des Romans werden. Denn gerade weil im gelingenden Schreibakt das Autobiographische konstruiert werden soll als Surrogat des fehlenden bzw. zerstörten Lebens, wirft jede Schreibhemmung den Ich-Erzähler sogleich in eine existentielle Krise; diese Gefahr wird durch seine eigene Lebensform bedingt, da er diese nur durch eine stetige Umwandlung von Lebensin Schreibzeit aufrechterhalten kann. Welche individuellen z. B. psychische, kognitive, charakterliche und gesellschaftlichen Faktoren z. B. Sozialisation, Staatspolitik dafür ausschlaggebend sind, daß eine dauerhafte Schreibkrise für den Ich-Erzähler katastrophale Folgen zeitigt, veranschaulicht und ergründet Hilbig in „Eine Übertragung“.
Eine Rekonstruktion der Handlung des Romans erfolgt weiter unten; da es mir zunächst um eine Bestimmung der eigentümlichen Selbstthematisierung des Schreibenden geht, die Hilbig hier vornimmt, genügt es an dieser Stelle, die Ursachen und Folgen der Schreibkrise des Ich-Erzählers zu umreißen.
Die Schreibkrise wird durch einen gewaltsamen Akt der Fremdbeschreibung des Ich-Erzählers von seiten der Staatsmacht ausgelöst. Er wird eines Morgens verhaftet und beschuldigt, eine Straftat begangen zu haben, die offensichtlich nur ein Vorwand darstellt, der es ermöglichen soll, seine Person zu diskreditieren. Ihm werden bezüglich der von den Beamten erfundenen Tat Motive unterstellt, die aus ebenfalls seiner Person zugeschriebenen Eigenschaften hergeleitet werden. Da es sich um den Vorwurf der Brandstiftung handelt, konstruieren die Vernehmer z. B. eine Verbindung zwischen seinem Beruf als Heizer und seiner geheimen Schriftstellerexistenz; er sei nicht nur in seiner Persönlichkeit gespalten, sondern werde auch hin und her gerissen „zwischen dem Schreiben und Feuermachen“ (EÜ, S. 110). Die Ambiguität des Wortes „Feuermachen“ heizen bzw. etwas anzünden macht deutlich, daß die Vernehmer ohne weiteres aufgrund der Doppelexistenz des Ich-Erzählers das Psychogramm eines Brandstifters erstellen. Die Fremdbeschreibung, der er sich ausgesetzt sieht, beruht auf einem falschen logischen Analogieschluß, da eine Übereinstimmung zwischen dem Heizer und dem Brandstifter nur rein phänomenal, im Herstellen eines Feuers, keineswegs aber intentional, im Zweck ihrer Arbeit, besteht. Dieses Beispiel zeigt, wie eine Macht, die sich das Recht auf eine objektive Beschreibung der Wirklichkeit, resp. einer Person zuschreibt, biographische Fakten manipuliert.[75] Die von ihrem (hier: sozialistischen) Menschenbild abweichenden Eigenschaften seiner Person genügen den Machthabern, um seinen Lebenslauf zur Biographie eines Kriminellen zu objektivieren.[76]
Die Wirkung dieses für den Ich-Erzähler traumatischen Erlebnisses besteht darin, daß die aufoktroyierte Fremdbeschreibung ihn dazu zwingt, sich zu rechtfertigen. Da er weder in seinem derzeitigen Zustand eine stabile Identität besitzt noch durch einen Rückblick auf seine nähere wie fernere Vergangenheit seiner selbst gewiß wird, verliert er die Fähigkeit zur Selbstbeschreibung. Da diese die Bedingung der Möglichkeit des Schreibens ist, entsteht ein Writer´s block:
„Jene Gestalt, um die es während der Vernehmungen gegangen war und die dann verwirrt [...] mit sich allein gelassen worden war, während das banale Objektivieren der Gesetzeshüter stur weiterging, war eigentlich ein Ergebnis von Ignoranz [...] Dieses Muster war es, das meine Geschichten verhinderte, die Ignoranz war in mich gefahren und verhinderte die Wahrnehmung meines Lebens.“ (EÜ, S. 256; Hervorhebung M. B.)
Die Selbstdiagnose, die der Erzähler in diesem Passus aus zeitlicher Distanz zu seiner Verhaftung liefert, erklärt die Ursache für den mißlingenden Rechtfertigungsversuch. Die Struktur seiner Beschreibung von außen wird ihm nämlich zur Form seiner Selbstwahrnehmung: er betrachtet sich und sein bisheriges Leben fortan mit einem durch den Anspruch auf Objektivität geleiteten kriminalistischen Erklärungswahn, welcher die notwendige Ausbildung eines subjektiven Standpunkts gerade verhindert. Man kann darin mit Freud[77] eine Form der Symptombildung durch eine partielle Identifizierung mit einem ungeliebten Objekt, hier der Staatsmacht, sehen. Darauf deuten vor allem die Schuldgefühle hin, die den Protagonisten nach seiner Verhaftung dazu bewegen, unaufhörlich nach einer Erklärung zu suchen, und in denen sich die existentielle Angst ausdrückt, vernichtet werden zu können.[78] Die Androhung von Strafe löst unbewußt die Introjektion von Zügen des nicht erreichbaren Objekts aus, welche als pathologisches Symptom bestehen bleiben. Da der Protagonist C. in seinem bisherigen Leben nur ein „Trümmerfeld von Zusammenhanglosigkeiten“ (EÜ, S. 60) erblickt und in seiner gegenwärtigen Situation zu keiner Form musterhaften Erlebens imstande ist, beginnt er zwanghaft Sinnzusammenhänge zu entwerfen. Durch ihren fehlenden Realitätsbezug verstärken diese seine Desorientierung jedoch bloß und erweisen sich als das falsche Mittel zur Herstellung von Subjektivität. Sein erster scheiternder Schreibversuch kurz nach der Entlassung aus der Untersuchungshaft illustriert ihm dies unfreiwillig; denn beim Versuch einer Selbstbeschreibung entsteht „kein lebendiges Wesen, sondern höchstens eine roboterähnliche Stilfigur, der die Lebenszusammenhänge entglitten waren“ (EÜ, S. 77). Dieser in der subjektlosen Roboterfigur manifest werdende Ich-Verlust verdeutlicht, daß für den Ich-Erzähler die Schreibmit der Lebenskrise identisch ist. Denn weil der Erzähler die Defizite seines grundsätzlich im Zeichen der Krise stehenden Lebens nur im Schreibprozeß vorläufig zu überwinden vermag, bringt die Schreibkrise sogleich seine Lebenskrise zum Vorschein. Sie bewegt ihn zu dem Entschluß, aus seiner Heimatstadt zu fliehen und in Berlin unterzutauchen.[79] Dadurch erfüllt er aber exakt das Ziel der Vernehmer, deren Taktik darin bestand, „auf meine Entwurzelung ab[zuzielen], ihr Ziel war, mich zu kriminalisieren“ (EÜ, S. 257).
Hilbig führt hier vor, wie der einzelne gezwungen werden soll, sich der nach dem Selbstverständnis der Ideologen objektiven Beschreibung der Wirklichkeit zu beugen. Er wirft damit anhand des besonderen Falls seines Ich-Erzählers das allgemeine Problem der Sozialisation im totalitären Staat auf, denn die enorme Wirkung, die die Verhaftung auf den Erzähler zeitigt, erklärt dieser sich selbst später dadurch, daß er das Denkmuster der Ideologen bereits während seiner Kindheit internalisiert hat. Von diesem frühen Zeitpunkt an bis in die Zeit der Romanhandlung hinein war nämlich „sein Verhalten [...] das eines Gottes gewesen, der die Dinge nach den eigenen Erklärungen auftreten gesehen, die Zusammenhänge nach den eigenen Erklärungen funktionieren gesehen hatte: immer, selbst während seiner Niederlagen, hatte er ein von Gott übernommenes oder erlerntes...