1. FALSCHE WEICHENSTELLUNGEN
ODER WIE ENTSTEHT EIN PERFECT STORM?
Ein Scheitern in dem Umfang, wie ich es erlebte, kann nicht die unmittelbare Reaktion auf eine einzige Fehlentscheidung sein. Es war in meinem konkreten Fall vielmehr der Endpunkt eines schleichenden Prozesses. Ähnlich einem Perfect Storm hatte ich selbst über Jahre durch Fehler und Fehlentwicklungen die Voraussetzungen dafür geschaffen, dass der Sturm, der sich da zusammengebraut hatte, eine so zerstörerische Kraft bekam, dass er mich fortriss und nichts übrig ließ von dem, was mein Leben damals ausmachte.
Die Warnsignale hätte ich schon in einem frühen Stadium wahrnehmen können, ja müssen; sie waren da, unmissverständlich. Es wird wohl eine Kombination aus Überheblichkeit und selbstverliebter Anmaßung gewesen sein, die mich die Augen schließen und alle Warnhinweise übersehen und überhören ließ. So lange, bis es zu spät für eine Umkehr war.
DIE FRÜHE WARNUNG MEINES VATERS
Meine Beziehung zu meinem Vater war ungewöhnlich eng. Er war auf einem westfälischen Bauernhof groß geworden, war bescheiden und bodenständig. Er war mein Vorbild, mein bester Freund, mein Geschäftspartner, mein Vertrauter, mein Trauzeuge und der Taufpate meines ersten Kindes.
An eine wirklich ernste Auseinandersetzung mit meinem Vater kann ich mich, abgesehen von einer einzigen Ausnahme, nicht erinnern. Wenn ihm etwas missfiel, pflegte er das mit leichter Ironie zu thematisieren. Beispielsweise bei den Feierlichkeiten zur Stabsübergabe von meinem Vorgänger bei Bertelsmann auf mich. Zu diesem Anlass war vom Konzern ein Festakt veranstaltet worden, zu dem unter anderem der damalige Bundeskanzler Gerhard Schröder und der stellvertretende Regierungschef Joschka Fischer erschienen sowie insgesamt mehr als 1000 weitere Gäste, unter ihnen meine Eltern.
Als ich am Rande der Feierlichkeiten meinen Vater stolz nach seinem Eindruck fragte, sah er mir in die Augen und antwortete knapp, aber unverblümt: „Denkst du nicht, dass das alles ein bisschen zu viel ist hier?“ Treffender hätte man diesen Aufmarsch nicht beschreiben können.
Nur einmal kam es in unserer Vater-Sohn-Beziehung zu einer ernsthaften Störung. Ich war 16, als ich an einem Sommernachmittag die Treppenstufen zum Eingang unseres Hauses emporstieg und mein Vater mir im Hauseingang entgegenkam. Er trug einen Wäschekorb in seinen Händen, und ich sah an seinem Gesichtsausdruck sofort, dass er aufgeregt und sehr zornig war.
„Herr Nattermann hat mich wissen lassen, dass du im Unterschied zu deinen Geschwistern ein unangenehm arroganter Typ bist!“, sagte er. Ich spürte, wie er selbst litt bei diesen Worten.
Herr Nattermann war damals Pächter einer Shell-Tankstelle nur wenige Hundert Meter von unserem Elternhaus entfernt und hatte sich bei meinem Vater beschwert, ich würde ihn und seine Mitarbeiter von oben herab behandeln. Mein Vater war so erregt, als er mir berichtete, was Herr Nattermann über mich gesagt hatte, dass seine Stimme hörbar zitterte und der Wäschekorb mitsamt seinen Händen ebenfalls. „Nie darfst du arrogant sein, Thomas! Bitte ändere dein Verhalten, versprich es mir!“
Ich hörte die Stimme meines Vaters, hörte seine fast flehentlich vorgetragene Aufforderung. Zugleich spürte ich Auflehnung in mir wachsen, stummen Protest – und gewaltigen Ärger. Ich war wütend auf Herrn Nattermann, und ich verachtete ihn und das, was er über mich gesagt hatte. Ich wollte nicht so sein, wie Herr Nattermann es erwartete, das wusste ich in diesem Moment ganz genau. Stattdessen beschloss ich dort auf den Treppenstufen, dass ich anders sein wollte, etwas Besonderes, und mir von niemandem würde vorschreiben lassen, wie ich mich zu verhalten hatte.
Die frühe und sehr eindeutige Botschaft meines Vaters zum Thema Arroganz erreichte mich an diesem Nachmittag nicht. Selbstkritik übte ich fortan nicht mehr. Später empfand ich derart kritische Hinweise wahlweise sogar als eine Art Lob oder als Ansporn, noch arroganter zu sein. Ob dies der Zeitpunkt war, an dem ich begann, das „Ich-bin-ich-Prinzip“ zu verändern, es anzupassen an die jeweiligen Gegebenheiten, kann ich heute nicht mehr mit Sicherheit sagen. Sicher ist aber, dass ich damals entschied, mich künftig lieber abzuheben, und sei es durch Arroganz, als mich anzupassen und in der Masse unsichtbar zu werden.
Vermutlich wollte ich dadurch mein Selbstwertgefühl und meine Bedeutung steigern. Tatsächlich ließ mein Entschluss aber in den folgenden Jahren einen tiefen Graben zwischen mir und meinem sozialen Umfeld wachsen. Mein Verhalten rief Ablehnung hervor, und je stärker das der Fall war, desto mehr sehnte ich mich nach dem Zuspruch, der mir versagt blieb – und wurde dennoch immer uneinsichtiger. Es war ein fataler Teufelskreis, den ich nicht erkannte. Oder nicht erkennen wollte.
„WENN SIE WAS KÖNNEN, DANN KOMMEN SIE ZU UNS!“
Die Vorlesungen von Dr. Jan Hensmann an der WWU Münster erfreuten sich 1979 großer Beliebtheit. Dies mochte auch daran liegen, dass Jan Hensmann nicht nur ein sehr erfolgreicher Verlagsmanager war und als Vorstandsmitglied bei Gruner & Jahr für das Zeitschriftengeschäft verantwortlich, sondern darüber hinaus in seinen Vorlesungen mit außerordentlich intelligentem Witz Fallstudien aus dem Verlagsmanagement behandelte.
Am Tag seiner Antrittsvorlesung hatte sich im Hörsaal H3 der WWU das gesamte Professorium der betriebswirtschaftlichen Fakultät versammelt. Jan Hensmann sprühte vor Charisma und Esprit. Er berichtete von der Markteinführung der Zeitschrift Geo in den USA, schilderte seine Flüge mit der Concorde nach New York und beendete seinen Vortrag mit den Worten: „Liebe Studierende, wenn Sie ein sehr gutes Examen machen, dann gehen Sie um Gottes willen in die Wissenschaft – und wenn Sie etwas können, dann kommen Sie zu uns!“
Ich war hingerissen von diesem Mann, von seiner Intelligenz, seiner spürbaren Macht als Manager, von seinem offensichtlichen Erfolg. Ich beschloss noch im Hörsaal, dass auch ich Manager in der Medienbranche werden wollte. Ich wollte so werden wie dieser Jan Hensmann: mit der gleichen Leichtigkeit von Erfolg zu Erfolg eilen, international ausgerichtet, überlegen, schlagfertig und mit einem solchen Charisma ausgestattet, dass selbst hoch angesehene Professoren der Betriebswirtschaftslehre dagegen blass wirken. Gegen diese Aura des Erfolgs schien alles andere geradezu unbedeutend und provinziell. Und ich spürte förmlich in mir die Überzeugung wachsen, dass ich in der Hensmann’schen Terminologie „etwas kann“.
Mit dem Ende seiner Präsentation war ich unumstößlich überzeugt: Ich würde diesen Traum realisieren und erfolgreich werden. Und ich war bereit, dafür fast jeden Preis zu zahlen. Das „Ich-bin-ich-Prinzip“ begann aufzuweichen.
TANZEN AUF ZU VIELEN HOCHZEITEN
Nach dem Examen erhielt ich von Professor Heribert Meffert, dem hoch angesehenen Betriebswirtschaftler und „Marketing-Papst“ an der WWU Münster, das Angebot, bei ihm als Assistent zu arbeiten. Aber auch mein Vater wollte mich in den eigenen Betrieb einbinden. Ich überlegte, ob ich ihn bei dem Aufbau einer Produktionsstätte in Griechenland unterstützen sollte. Professor Meffert hatte mir zunächst eine halbe Stelle angeboten, die ich annahm und die mir, wie ich damals glaubte, Raum lassen würde, parallel halbtags für meinen Vater tätig zu sein. Ich wurde also so etwas wie ein unternehmerisch-wissenschaftlicher Assistent.
Diese Konstellation führte allerdings schnell zu extremen Herausforderungen und Belastungen, wie ich schmerzhaft lernen musste. Die beiden Aufgaben ließen sich beim besten Willen nicht miteinander verbinden. Während der Wissenschaftler sich am heimischen Schreibtisch hochkomplexen Fragestellungen widmet und sich mit Engagement an der Universität in der Lehre betätigt, erfordert die unternehmerische Tätigkeit ein Höchstmaß an räumlicher und zeitlicher Flexibilität und unbegrenzten zeitlichen Einsatz.
Arbeitete ich in dem Assistentenzimmer in Münster an Diplomarbeiten oder Seminararbeiten, plagte mich das Wissen, dass währenddessen zahlreiche unternehmerische Herausforderungen und Entscheidungen unbearbeitet blieben. Arbeitete ich zusammen mit meinem Vater an dem Griechenland-Projekt, dachte ich an die Aufgaben, die mir von Professor Meffert anvertraut worden waren und die unbearbeitet auf meinem Schreibtisch lagen. Aus einem zielstrebigen, zuversichtlichen Diplom-Kaufmann wurde in kürzester Zeit ein getriebener, fahriger, unruhiger junger Mann, dem stets bewusst war, dass die Dinge, die er gerade bearbeitete, nicht die Qualität hatten, wie es der Fall gewesen wäre, wenn er sich uneingeschränkt auf sie hätte konzentrieren können.
Ich wurde immer hektischer. Täglich fuhr ich zwischen Münster und Düsseldorf hin und her, flog freitags mit Olympic Airways nach Thessaloniki und kehrte am Sonntagabend völlig erschöpft wieder zurück nach Düsseldorf. Ich begann Fehler zu machen, oberflächlich zu werden. Meine Arbeit entsprach längst nicht mehr den Qualitätsanforderungen, die ich selbst an mich stellte.
Erst ein Hörsturz machte mir klar, dass ich psychisch und physisch an meine Grenzen gestoßen war. Ich hatte mich übernommen, mir zu viel zugemutet. Und ich fasste den Vorsatz, mich künftig nur noch auf eine Aufgabe zu fokussieren. Mein Leben bekam eine neue Ausrichtung, und das „Ich-bin-ich-Prinzip“ wurde erneut an die Gegebenheiten angepasst: Nicht alles ist machbar, Fehler muss man erkennen und sich auf die eine Aufgabe konzentrieren, ohne nach links oder...