Vorwort zur Neuausgabe der »Feynman Lectures on Physics«
Gegen Ende seines Lebens genoß Richard Feynman weit über die Grenzen der wissenschaftlichen Gemeinschaft hinaus großes Ansehen. Seine erfolgreiche Tätigkeit als Mitglied der mit der Untersuchung der Challenger-Katastrophe beauftragten Kommission machte ihn einer breiten Öffentlichkeit bekannt; zudem wurde er durch einen Bestseller, in dem er von seinen Schelmenabenteuern berichtete, zu einer Art Volksheld, beinahe so bekannt wie der schrullige Einstein. Doch schon 1961, noch ehe er den Nobelpreis erhielt, der ihn auch in der breiten Öffentlichkeit bekannt machte, war Feynman in der wissenschaftlichen Gemeinschaft mehr als nur berühmt – er war eine Legende. Zweifellos trug seine außergewöhnliche Begabung als Lehrer dazu bei, die Legende von Richard Feynman zu verbreiten und zunehmend auszuschmücken.
Er war ein wahrhaft großer Lehrer, vielleicht der größte seiner und unserer Zeit. Für Feynman war der Hörsaal eine Bühne, der Vortragende ein Schauspieler, der seinem Publikum einen geistsprühenden Auftritt darbot, aber auch Fakten und Zahlen lieferte. Mit weit ausholenden Gesten marschierte er vor seinen Zuhörern hin und her, »eine unmögliche Kreuzung aus theoretischem Physiker und Marktschreier, nichts als Körpersprache und Toneffekte«, wie The New York Times schrieb. Ob er sich nun an die Studenten, an Kollegen oder an irgendein ganz beliebiges Publikum wandte, für alle, die das Glück hatten, bei einer von Feynmans Vorlesungen dabeizusein, war es, wie der Mensch selbst, ein aus dem Rahmen des Üblichen fallendes, unvergeßliches Erlebnis.
Er war ein Meister der Dramatik und beherrschte die Kunst, sein Publikum zu fesseln. Vor vielen Jahren hielt er vor einer ziemlich großen Zuhörerschaft – ein paar eingeschriebenen Doktoranden und den meisten Mitgliedern des physikalischen Fachbereichs am Caltech – einen Kurs in Quantenmechanik für Fortgeschrittene ab. Im Verlauf einer der Vorlesungen erklärte Feynman, wie man bestimmte komplizierte Integrale in Form eines Diagramms darstellen kann: Zeit auf dieser Achse, Raum auf jener, eine Wellenlinie für diese Gerade und so weiter. Nachdem er an die Tafel geschrieben hatte, was man in der Welt der Physik mittlerweile als Feynman-Diagramm bezeichnet, drehte er sich um und grinste die Zuhörer verschmitzt an: »Und das ist DAS DIAGRAMM!« Dies war die Pointe des Ganzen, und das begeisterte Publikum brach spontan in Beifall aus.
Noch viele Jahre nach den Vorlesungen, die in vorliegendem Buch zusammengestellt sind, hielt Feynman Gastvorlesungen für Erstsemester im Fach Physik am Caltech. Fast versteht es sich von selbst, daß man seine Auftritte geheimhalten mußte, damit auch Studenten Platz im Hörsaal fanden. Bei einer dieser Vorlesungen war das Thema die Raumzeitkrümmung, und wie immer war Feynman brillant. Doch das wirklich Unvergeßliche war, wie er die Vorlesung begann. Eben erst war die Supernova des Jahres 1987 entdeckt worden; Feynman war ganz aufgeregt wegen dieses Ereignisses. Er erklärte: »Tycho Brahe hatte seine Supernova und Kepler die seine. Dann kam vierhundert Jahre lang keine mehr. Und jetzt habe ich meine.« Die Zuhörer verstummten, und Feynman fuhr fort: »Die Milchstraße besteht aus 1011 Sternen, eine ungeheure Zahl, haben wir immer geglaubt. Aber das sind nur hundert Milliarden – weniger als das Haushaltsdefizit unseres Landes! Wir haben das immer als astronomische Zahl bezeichnet – in Zukunft sollten wir sie besser eine wirtschaftswissenschaftliche Zahl nennen.« Schallendes Gelächter – Feynman hatte sein Publikum erobert und machte mit seiner Vorlesung weiter.
Ganz abgesehen von seiner Art, eine Vorlesung wie ein Theaterstück zu inszenieren, war Feynmans pädagogische Methode im Grunde recht einfach. Bei seinen Unterlagen im Caltech-Archiv fand man eine Notiz, in der er sie während eines Aufenthalts in Brasilien 1952 skizziert hatte – eine Zusammenfassung seiner Philosophie des Lehrens:
»Überleg dir als erstes, warum du möchtest, daß die Studenten etwas über dieses Thema erfahren und was sie deiner Meinung nach darüber wissen sollten – dann ergibt die Methode sich mehr oder weniger von selber aus dem gesunden Menschenverstand.«
Was der »gesunde Menschenverstand« Feynman eingab, waren oft ungemein geistvolle Wendungen, die das Wesentliche seiner Darlegungen genau trafen. Als er einmal während einer öffentlichen Vorlesung erklären wollte, weshalb man eine bestimmte Vorstellung nicht anhand der Daten verifizieren sollte, die einen überhaupt erst auf die Idee gebracht hatten, redete er plötzlich von Nummernschildern und schien so vom Thema abzuschweifen: »Sehen Sie, heute abend ist mir etwas wirklich Erstaunliches passiert. Auf dem Weg zu dieser Vorlesung bin ich über den Parkplatz spaziert, und – Sie werden es nicht glauben: ich entdeckte ein Auto mit dem Kennzeichen ARW 357. Stellen Sie sich das einmal vor! Wie groß war die Wahrscheinlichkeit, von den Millionen Nummernschildern in diesem Staat ausgerechnet dieses zu sehen? Wirklich, höchst erstaunlich!« Feynman hatte etwas, das selbst manche Wissenschaftler nicht ganz verstehen, mittels seines bemerkenswerten »gesunden Menschenverstandes« erklärt.
In den fünfunddreißig Jahren (1952 bis 1987), in denen er am Caltech arbeitete, hielt Feynman offiziell vierunddreißig Vorlesungsreihen und Kurse ab. Bei fünfundzwanzig handelte es sich um ausschließlich für Doktoranden bestimmte Fortgeschrittenenkurse; Studenten, die daran teilnehmen wollten, aber noch keinen akademischen Abschluß hatten, brauchten dafür eine Genehmigung (die sie oft beantragten und die fast immer bewilligt wurde). Die restlichen Veranstaltungen waren großteils Einführungskurse für höhere Semester. Ein einziges Mal hielt Feynman eine ausdrücklich auf Anfangssemester zugeschnittene Lehrveranstaltung ab: jene berühmten Vorlesungen in den Semestern 1961 bis 1963 – einschließlich einer kurzen Wiederholung 1964 –, die zu den Feynman Lectures on Physics werden sollten.
Am Caltech war man sich damals darüber einig, daß die zwei Jahre Pflichtstudium in Physik Erst- und Zweitsemester eher abschreckten als anspornten. Dagegen wollte man etwas unternehmen, folglich bat man Feynman, eine Vorlesungsreihe für diesen zweijährigen Kurs auszuarbeiten, und zwar für ein und dieselbe Gruppe Studenten auch im zweiten Studienjahr. Er erklärte sich dazu bereit, und sofort beschloß man, die Vorlesungen für eine spätere Veröffentlichung mitschreiben zu lassen. Allerdings erwies sich dies als weit schwieriger, als man es sich vorgestellt hatte. Aus den Vorlesungen für eine Publikation geeignete Bücher zu machen bedeutete ungeheuer viel Arbeit sowohl für Feynmans Kollegen wie auch für ihn selber; er redigierte die endgültige Fassung jedes einzelnen Kapitels.
Außerdem mußte man sich um die praktische Durchführung kümmern. Einfach war das nicht, da Feynman lediglich einen ziemlich allgemein gehaltenen Entwurf dessen, was er alles abhandeln wollte, skizziert hatte. Das bedeutete, niemand wußte wirklich, was Feynman erzählen würde, solange er nicht vor den Studenten stand und es tatsächlich darlegte. Die Dozenten am Caltech, die ihm assistierten, mußten sich also, so gut sie konnten, bemühen, die eher profanen Dinge zu erledigen, zum Beispiel Fragen für die Hausaufgaben auszuarbeiten.
Warum verwandte Feynman mehr als zwei Jahre darauf, die Vorgehensweise, Anfängern Physik nahezubringen, radikal zu ändern? Darüber kann man nur Mutmaßungen anstellen; vermutlich bewog ihn dreierlei dazu. Zum einen machte es ihm Spaß, zu einem Publikum zu sprechen, und hier bot sich ihm eine größere Bühne als normalerweise bei Doktorandenkursen. Zweitens lagen ihm die Studenten wirklich am Herzen, und er hielt es einfach für wichtig, Erstsemester zu unterrichten. Der dritte und vielleicht ausschlaggebende Grund war die schiere Herausforderung, Physik, wie er sie verstand, so umzuformulieren, daß er sie auch Studienanfängern zumuten konnte. Das war seine Spezialität und sein Maßstab dafür, ob man etwas wirklich begriffen hatte. Einmal wurde Feynman von einem anderen Fakultätsmitglied gefragt, warum Teilchen mit dem Spin 1/2 der Fermi-Dirac-Statistik genügen. Er schätzte sein Gegenüber völlig richtig ein und erklärte: »Ich werde darüber eine Vorlesung für Studienanfänger ausarbeiten.« Ein paar Tage später kam er jedoch noch einmal darauf zurück und gestand: »Na ja, ich habe es nicht geschafft. So einfach, daß auch ein Erstsemester es kapiert, konnte ich es nicht darstellen. Das heißt, wir verstehen es nicht wirklich.«
Diese besondere Begabung, tiefschürfende Gedanken auf einfache, verständliche Aussagen zu reduzieren, zeichnet sämtliche Feynman Lectures on Physics aus, doch nirgends wird sie deutlicher erkennbar als in der Art, wie er die Quantenmechanik darstellte. Physikern aus Leidenschaft ist klar, welches Bravourstück ihm damit gelang: Er erklärte Erstsemestern die Pfadintegral-Methode, jenes von ihm entwickelte Verfahren, mit dessen Hilfe er einige der grundlegenden Probleme der Physik lösen konnte. Es war unter anderem seine Arbeit mit Pfadintegralen, die ihm 1965 den Nobelpreis einbrachte, den er sich mit Julian Schwinger und Sin-Itero Tomonaga teilte.
Obwohl sich bereits der Schleier der Erinnerung darüber gebreitet hat, erklärten viele Studenten und Fakultätsangehörige, die die Vorlesungen gehört hatten, zwei Jahre Unterricht bei Feynman seien eine Erfahrung fürs Leben gewesen. Damals sah dies allerdings nicht ganz so aus. Viele Studenten hatten regelrecht Angst vor den einzelnen Vorträgen, und mit der Zeit sprangen erschreckend viele ab. Gleichzeitig kamen jedoch immer mehr Fakultätsmitglieder...