Bewusstsein und Geist
Das Bewusstsein ist als Sub- oder Teilsystem zu verstehen, was ja auch in der Bedeutung von »Mitwissen« zum Ausdruck kommt. Doch wovon ein Teilsystem? Vom »Geist«? Das ist ein heikler Begriff, weil »der Geist« oder »das Geistige« ein noch vielschichtigeres Phänomen darstellen als das Bewusstsein. Zwar wissen wir dank der Psychologie heute, wie es sich normalerweise manifestiert, denn sie ist jener Zweig der Wissenschaft, der sich damit beschäftigt und die Funktionsmechanismen sowie die in ihm wirkenden Kräfte untersucht. Im Großen und Ganzen aber gilt: Geist ist für uns zwar »das Selbstverständlichste der Welt, aber eben gleichzeitig auch einer theoretischen Erfassung stark widerstrebend«, wie es die deutsche Philosophin Karen Gloy (geb. 1941) ausdrückt. Bei den nachfolgenden Darlegungen sollten wir uns immer wieder in Erinnerung rufen, dass Geist holistisch-dynamischer Natur ist und der Erklärende stets selbst Teil des zu Erklärenden. Zudem verändern sich unsere Vorstellungen darüber mit der Entwicklung unseres Bewusstseins. Folglich erscheint das Dilemma unlösbar: Es liegt in der Natur der Sache.
Bei Betrachtung der Evolution des Bewusstseins ist es dennoch hilfreich, die heute bekannten Elemente, Kräfte und Prozesse, die dabei im Spiel sind, zu berücksichtigen. Sie zu verstehen ist Voraussetzung, um die mit der Evolution verbundenen, oftmals völlig chaotisch scheinenden soziokulturellen Veränderungen und Entwicklungen auf der Oberfläche der Welt nachvollziehen und deren tiefere Ursachen erkennen zu können. Dazu müssen wir die psychischen Kräfte kennen, die sie letztlich hervorbringen.
Sigmund Freud (1856–1939) prägte Ende des 19. Jahrhunderts den Begriff »Unbewusstes« für eine neben dem Bewusstsein existierende Geistesform, auch als Unterbewusstsein bezeichnet. Heute ist es der Sammelbegriff für alles, was zwar unser Handeln veranlasst oder auf dieses einwirkt, dessen Ursache vom Bewusstsein aber nicht erkannt wird. Im Grunde ist der Begriff »Unbewusstes« eine unglückliche Wahl – als handle es sich dabei um eine niederere Geistesform, da »un« und »unter« häufig mit minderwertig assoziiert werden. Besser wäre vielleicht Parabewusstsein, von griechisch para = neben, darüber hinaus, denn das Unbewusste ist eher mit der Vorstellung eines »Über-« als eines »Unter«-Bewusstseins zu verbinden. Wir bleiben hier aber beim Begriff »Unbewusstes«, weil dieser sich nun mal etabliert hat.
Neben Freud beschäftigte sich vor allem der Schweizer Arzt, Psychologe und Psychiater Carl Gustav Jung (1875–1961) intensiv mit dem Unbewussten. Er begründete Anfang des 20. Jahrhunderts die Analytische Psychologie, auch Komplexe Psychologie genannt, welche nicht nur die Psychologie allgemein, sondern auch die Psychotherapie, Theologie, Völkerkunde, Literatur und Kunst wesentlich beeinflusste. Jung entwickelte Freuds Theorien und Erkenntnisse weiter. Er übernahm dabei die Freud’schen Begriffe Bewusstsein und Unbewusstes, differenzierte sie jedoch in individuelles Bewusstsein, individuelles Unbewusstes, kollektives Bewusstsein und kollektives Unbewusstes. Neben bzw. innerhalb dieser vier grundsätzlichen Größen erkannte er noch differenziertere Strukturen, die bestimmte Eigenschaften, Charakteristika und Funktionen aufweisen und in Interaktion miteinander stehen.
Carl Gustav Jung (1875–1961), oftmals C. G. Jung abgekürzt, gilt als der Begründer der Analytischen Psychologie. Er lieferte mit seinen Untersuchungen zur Struktur der Psyche sowie zu den Archetypen wesentliche Einsichten zur Funktionsweise des Bewusstseins (© Abb. 2)
Das »individuelle Bewusstsein« wird allgemein mit dem Ich-Bereich gleichgesetzt, bei dem der Schwerpunkt der Entwicklung auf der Ausgestaltung von Persönlichkeitsanteilen liegt, die eine Anpassung an das soziokulturelle Umfeld gestatten. Ein wichtiges Element in diesem Zusammenhang ist die »Persona«. Der Begriff bezeichnete ursprünglich eine im antiken griechischen Theater von den Schauspielern verwendete Maske, welche die Rolle des Schauspielers typisierte. Die Persona ist somit das, was der Mensch von sich nach außen zeigt. Man könnte auch sagen, sie ist das, was jemand nicht in Wirklichkeit ist, sondern was er gegenüber sich selbst und anderen vorgibt zu sein. Zum individuellen Bewusstsein gehört ebenso das Über-Ich, welches die kollektiv bestimmenden Werte verkörpert, z. B. gesellschaftliche Moralvorstellungen. Veranlagungen und Talente, die das Über-Ich als nicht passend oder unerwünscht taxiert, werden »negativ geladen«, vom Bewusstsein unterdrückt und ins individuelle Unbewusste verdrängt. Grundsätzlich als Schutzmechanismus zur besseren Umfeldanpassung dienend, kann dies jedoch auch zu Entgleisungen führen. So versuchen Jugendliche im Laufe der Pubertät, sich auf das allgemein herrschende Geschlechtsideal einzustellen. Dabei kommt es nicht selten zu einer überstarken Ablehnung und Verdrängung geschlechtsfremder Charaktermerkmale und -eigenschaften, was im Erwachsenenleben zu übertriebenen geschlechtsspezifischen Ausprägungen führen kann, bei Männern z. B. zu Machismo.
Das »individuelle Unbewusste« beinhaltet insbesondere unterschwellig Wahrgenommenes, eingespielte Verhaltensabläufe sowie einmal bewusst gewesene, jedoch verdrängte Inhalte, die mit den gegenwärtigen Bewusstseinsinhalten nicht mehr kompatibel sind. Hinzu kommen abgewehrte Triebe, Fixierungen und Programmierungen sowie frühkindliche Prägungen und latente Begabungen.
Als »Selbst« wird die psychische Ganzheit von individuellem Bewusstsein und individuellem Unbewussten bezeichnet. Es enthält somit auch die unbewussten Persönlichkeitsanteile, zu denen beispielsweise »Anima« bzw. »Animus« zählt, der jeweils gegengeschlechtliche psychische Anteil. Auch der »Schatten« als die Summe der »ungeliebten«, unterdrückten und verdrängten Anteile ist Teil des Selbst, welches als zentrale Steuerungs- und Entwicklungsinstanz der Gesamtpsyche zu sehen ist. Jung definiert das Selbst als reine intellektuelle Konstruktion, welche eine zentrale Wesenheit ausdrückt, die wir logisch nicht erfassen können. Es sei aber offensichtlich, dass die Anfänge unseres ganzen psychischen Lebens aus diesem Punkt entspringen, wie auch alle höchsten und letzten Ziele auf ihn zulaufen. Dieses Paradoxon sei unausweichlich – wie immer, wenn wir etwas beschreiben wollen, was jenseits des Vermögens unseres Verstandes liegt. Der Charakter des Selbst sei darum mit der Empfindung als etwas Irrationalem verbunden, dem das Ich aber nicht entgegensteht und auch nicht »unterworfen« ist, sondern um welches es gewissermaßen kreise wie die Erde um die Sonne.
Von Carl Gustav Jung hergeleitete Vierheit, bei der er die Freud‘schen Begriffe Bewusstsein und Unbewusstes weiter unterteilte (© Abb. 3)
Während östliche Philosophien darauf abzielen, das Ich zu überwinden und zum reinen Selbst vorzudringen, um »Satori« (Befreiung) oder »Nirwana« (Erleuchtung) zu erlangen, bildet im westlichen Kulturraum das Ich das Zentrum des individuellen Bewusstseins, das durch Erfahrung und Vernunft bestimmt wird und das zwischen dem Selbst und der Umwelt »vermittelt«. Es ist der bewusste Repräsentant des Selbst, quasi das »Auge«, mit dessen Hilfe es sich erkennen kann. Ziel westlicher Psychologie ist darum keineswegs, das Ich »auszulöschen«, um zum Selbst zu gelangen. Vielmehr soll durch die Erkenntnis des Selbst sowie seiner Bedeutung und Funktion – also wirklicher »Selbst-Erkenntnis« – die alleinige Ichzentriertheit des individuellen Bewusstseins überwunden werden. Das Selbst ist aktives psychisches Zentrum, das sein inhärentes Potenzial verwirklichen will. Die Möglichkeit, dies auch tatsächlich zu realisieren, hängt von der Fähigkeit des Ich ab, sich dem Selbst gegenüber zu öffnen. Das Ich wird dabei von zwei grundlegenden Fähigkeiten bestimmt: Stabilität und Flexibilität. Die Stabilität dient der Abgrenzung, der Unterscheidung. Die Flexibilität ist für die Offenheit gegenüber neuen Einflüssen verantwortlich, dient dazu, sich zu verändern, zu entwickeln und zu wandeln. Beide Funktionen können entarten, wenn sie dominant werden. Bei der Stabilität führt das zu Ich-Starrheit und Ich-Verkrampfung, bei der Flexibilität zu Desorientierung und Ich-Auflösung.
Der Ich-Anteil an der Identität eines Menschen ist in der Regel bis zur Lebensmitte fertig entwickelt, sein Potenzial ausgereizt. Oft ist damit gleichzeitig auch das Ende der individuellen psychischen Entwicklung erreicht. Das Leben spielt sich nur noch in vorgegebenen Bahnen ab, das Bedürfnis nach Sicherheit steigert sich markant. Manchmal aber, und in der heutigen Zeit immer häufiger, stellt sich in der Lebensmitte vehement die Frage, wie es weitergehen soll, denn diese Mitte ist der natürliche »Kulminationspunkt« des Daseins.
Das »Kollektivbewusstsein«, ein soziologischer Begriff der Durkheim-Schule, wird als die »Gesamtheit der Glaubensvorstellungen und Gefühle, die allen Mitgliedern derselben Gesellschaft gemeinsam sind«, verstanden. Auch als Volksseele, Kollektivseele oder kollektive Mentalität bezeichnet, zählen hierzu geistige Inhalte wie Werte, Moral, Recht, Gewohnheiten, Regeln, Sitten, Gebote, also der sogenannte »Kulturkanon«. Das Kollektivbewusstsein ist bestimmend für das Über-Ich, das insbesondere die Gewissensbildung des Individuums prägt. Ebenso orientiert sich die Herausbildung der Persona am herrschenden Kollektivbewusstsein.
Das »kollektive Unbewusste« ist...