Der innere Arzt – Heilkräfte in Aktion
»Der Arzt verbindet nur deine Wunden. Dein innerer Arzt aber wird dich gesunden. Bitte ihn darum, sooft du kannst.« Dieser Ausspruch ist uns von dem Arzt und Philosophen Paracelsus (1493–1541) überliefert. Schon Hippokrates (460–370 v.Chr.) wusste weit früher zu berichten, dass der Arzt zwar behandelt, die Natur aber heilt. Klar, könnte man nun einwenden, ihnen blieb ja auch nichts anderes übrig, als sich auf »die Natur« zu berufen, schließlich gab es weder moderne Medikamente noch ausgefeilte Diagnostik- und Operationstechniken. Doch das, worauf sich beide Ärzte beziehen, das sind die Selbstheilungskräfte, die jeder von uns in sich trägt und die heute genauso wirksam sind wie damals. Mit dem Unterschied, dass wir nun viel mehr Kenntnisse darüber besitzen, was darunter zu verstehen ist.
Häufig wird anstelle von »Selbstheilungskräften« auch von »Selbstheilung« gesprochen. Gerade bei diesem Begriff denken Skeptiker schnell an Esoterik, Scharlatanerie oder sogar Hokuspokus. Davon sind Selbstheilungsprozesse im eigentlichen Sinne allerdings weit entfernt. Tatsächlich könnte der Begriff »Selbstheilung« etwas entrümpelt werden. Denn so, wie er mitunter verwendet wird, kann er auch Tür und Tor für unrealistische Erwartungen oder unseriöse Heilungsversprechen öffnen. Die Selbstheilungskräfte, wie sie hier verstanden werden, sind nicht abhängig von außergewöhnlichen Fähigkeiten – weder aufseiten der Behandelnden noch aufseiten der Patienten. Vielmehr sind sie in jedem von uns von Natur aus angelegt und gehören zu unserer Grundausstattung. Vom Gehirn gesteuert, sorgt dieser innere Arzt überhaupt erst dafür, dass wir als Organismus überleben.
»Am schönsten sieht man es eigentlich«, so Gerald Hüther, Professor für Neurobiologie an der Psychiatrischen Klinik der Universität Göttingen, »wenn man eine Verletzung hat, eine Wunde, man hat sich geschnitten, und dann kann der Arzt im Grunde genommen nur möglichst kompetent dafür sorgen, dass das wieder heilen kann. Aber heilen muss es allein.«
Selbstheilung in diesem Sinne bedeutet, dass unser Körper die Fähigkeit besitzt, Störungen von innen und von außen immer wieder auszugleichen und auf diese Weise Gesundheit herzustellen. Diese Fähigkeit zur Selbstregulation und Selbstorganisation ist uns im Laufe der Evolution mitgegeben worden. Sie dient schlicht und einfach dazu, unser Überleben zu sichern und Fortpflanzung zu ermöglichen. Damit das gelingt, müssen Eindringlinge unschädlich gemacht, Verletzungen mit Hilfe unserer inneren Apotheke »behandelt«, Gefahren abgewendet und auch Mangelzustände behoben werden. Wie aber funktioniert das?
Wie das Gehirn auf uns aufpasst
Alle Abläufe in unserem Körper werden durch Regelsysteme organisiert. Dazu gehören unter anderem das Herz-Kreislauf-, das Hormon-, das Immun- und das vegetative Nervensystem, das auch als »peripher« oder »autonom« bezeichnet wird und das den Körper über den Handlungsnerv Sympathikus und den Ruhenerv Parasympathikus durchzieht. Die Überwachung all dieser Systeme übernimmt das Gehirn. Genauer gesagt spielen dabei ältere, tieferliegende Bereiche eine entscheidende Rolle. Sie umfassen den Hirnstamm in Verbindung mit Hirnarealen, die auch »emotionales Gehirn« oder limbisches System genannt werden. Dieses »Gehirn im Gehirn«[1] sorgt dafür, dass alle unbewussten physiologischen Prozesse reibungslos ablaufen und eine Balance im Körper hergestellt wird. Es regelt unter anderem unsere Atmung, den Flüssigkeits- und Wärmehaushalt, Blutdruck, Herzrhythmus und Schlaf. Das emotionale Gehirn bringt aber auch die Libido hervor und überlebenswichtige Emotionen wie zum Beispiel Angst, die ja dazu da ist, uns bei Gefahren zu warnen.
Die wichtigste und grundlegende Aufgabe unseres Gehirns, so Gerald Hüther, sei es also nicht, zu denken. Vielmehr besteht sein eigentlicher Job darin, das Problem zu lösen, wie es uns am besten am Leben erhalten kann. Indem es als oberste Schaltzentrale alle lebenswichtigen Prozesse in unserem Körper steuert, stellt es in jedem Moment unser inneres Gleichgewicht wieder her. Dieses innere Gleichgewicht ist jedoch kein statischer Zustand, zu dem wir immer wieder zurückkehren, wie ich von Gerald Hüther am Rande eines Kongresses in Kassel erfahre. Da sich unser Gehirn und Körper im Verlaufe unseres Lebens entwickelt und verändert, kann das Gleichgewicht nur auf Basis dieser Veränderungen hergestellt werden. Was unser Gehirn anstrebt, ist also ein Selbstorganisationsprozess, der in Bewegung bleibt und sich an den jeweiligen Gegebenheiten immer wieder neu ausrichtet.
Körper und Gehirn – eine Einheit
Körper und Gehirn stehen bei all diesen Prozessen in viel engerer Verbindung, als lange Zeit angenommen wurde, betont der Neurowissenschaftler Antonio Damasio.[2]
Über Jahrhunderte galt das Postulat der strikten Trennung von Geist und Körper, das der Philosoph René Descartes (1596–1650) aufgestellt hatte. Mittlerweile haben sich Wissenschaft und Medizin von diesem Postulat verabschiedet. Heute ist davon auszugehen, dass Gehirn und Körper untrennbar miteinander verknüpft sind und damit auch körperliche, geistige und psychische Prozesse in engster Beziehung miteinander stehen.
Der Begriff »Geist« führt leicht zu Verwirrrung, da er sowohl in der Wissenschaft als auch unter Laien sehr unterschiedlich verwendet wird. Im Grunde weiß niemand, was der Geist eigentlich ist, zumindest gibt es keinerlei Einigung darüber. Mal werden seelische und mentale Prozesse darunter zusammengefasst. Mal werden Psyche und Geist nebeneinandergestellt und ergänzend verwendet. Zudem wird der Geist auch spirituell oder esoterisch interpretiert. In diesem Buch stelle ich Geist und Psyche ebenfalls nebeneinander, um die im allgemeinen Sprachgebrauch häufige und allgemeinverständliche Verwendung aufzugreifen. Unter Geist verstehe ich mentale Prozesse wie unter anderem Denken, Vorstellungen, Bewusstsein, unter Psyche eher gefühlsbezogene Aspekte. Letztendlich aber sind Geist und Psyche miteinander verwoben und lassen sich nicht scharf voneinander abgrenzen. Das zeigt sich beispielsweise bei inneren Einstellungen und Haltungen, von denen immer wieder die Rede sein wird.
Bereits im Mutterleib legt das Gehirn in Form neuronaler Verschaltungen eine »Karte« vom Körper an. Anhand der Signale, die es vom wachsenden Körper erhält, entwickelt es sich weiter. Es »lernt« also, wie der Körper beschaffen ist und wie er am besten organisiert, gelenkt und gesteuert werden muss.
»Deshalb«, erklärt Hüther, »kommt jeder Mensch mit einem Hirn zur Welt – und das ist unglaublich interessant –, das so organisiert ist, dass es genau zu diesem Körper passt. Es weiß also, worauf es ankommt, damit alles im Körper gut funktioniert.«
Sobald Änderungen oder Störungen auftreten, wird die Karte vom Körper im Gehirn aktualisiert. Dabei stehen beide in ständigem, regem Austausch miteinander und nutzen dafür chemische Botenstoffe über die Blut- und neuronale Signale über die Nervenbahnen. Oder wie es Damasio ausdrückt: »Der Körper sagt dem Gehirn: so bin ich gebaut, und in diesem Zustand befinde ich mich jetzt. Das Gehirn sagt dem Körper, was er tun muss, um in Balance zu bleiben.«[3] Das Gehirn braucht vom Körper somit immer wieder grundlegende Informationen, um die körperlichen Prozesse mit Hilfe der Regelsysteme steuern zu können. Dieses »Lebensmanagement« (Damasio) ist ein dynamischer Prozess, da wir wiederholt inneren und äußeren Reizen und Störungen ausgesetzt sind, mit denen sich Hirn und Körper auseinandersetzen müssen.
Im Falle der Wunde sendet der Körper die Information an das Gehirn, dass dringend Reparaturen vorgenommen werden müssen. Unter der Aufsicht der obersten Schaltzentrale sorgt er dafür, dass gefährliche Keime abgewehrt werden, sich die Blutgefäße verengen und das Blut gerinnt, damit wir nicht verbluten. Die Wunde kann verheilen. Genauso verhält es sich bei Infektionen: Das körpereigene Immunsystem leitet – gesteuert vom Gehirn – alle notwendigen Abwehrstrategien ein, um die Angreifer außer Gefecht zu setzen und unser Wohlbefinden wiederherzustellen. Damit wir überleben, müssen darüber hinaus auch einige wichtige Grundbedingungen in unserem Körper erfüllt sein. Dazu gehören unter anderem bestimmte Sauerstoff- und CO2-Mengen, eine bestimmte Temperatur und die Versorgung mit Hauptnährstoffen wie Zucker, Fetten oder Proteinen. Gerät dieses Gleichgewicht, das sich innerhalb bestimmter Schwankungsbreiten bewegt, aus den Fugen, merken wir es sofort. Aber woran?
Die Signale unseres Körpers
Was wir als Unwohlsein empfinden, hat viel damit zu tun, was unser Körper an das Gehirn meldet. Schwankt der Blutzuckerspiegel? Gab es eine Verletzung? Ist der Blutdruck zu niedrig oder der Adrenalin- oder Cortisolspiegel aufgrund von Stress zu hoch? Wir spüren dann je nach Zustand Schmerzen, Entspannung oder Anspannung, Erschöpfung oder Energiezuwachs – kurz Wohlsein oder Unwohlsein. Unsere Gefühle, ob angenehm oder unangenehm bis schmerzhaft, zeigen uns an, ob unser Lebensmanagement gerade gut oder weniger gut funktioniert.[4] Die tieferliegenden Bereiche des Gehirns kennen den Körper eben sehr gut. Sie sind aber auch mit übergeordneten Arealen...