"Der Wert eines Staates besteht schließlich in dem Welt der Individuen, welche ihn bilden." –
J. S. Mill.
"Wir vertrauen zuviel auf Systeme und achten zu wenig auf die Menschen." –
B. Disraeli.
Hilf dir selbst, so hilft dir Gott!" – das ist ein alterprobtes Sprichwort, welches das Resultat reicher menschlicher Erfahrungen in wenige Worte zusammenfaßt. Der Geist der Selbsthilfe ist die Wurzel aller echten individuellen Entwicklung und stellt auch in dem Leben der Gesamtheit die wahre Quelle nationaler Kraft und Gesundheit dar. Hilfe, die von außen kommt, hat nicht selten eine schwächende Wirkung; aber Selbsthilfe kräftigt in jedem Fall den, der sie übt.
Was für einzelne Menschen oder ganze Klassen gethan wird, raubt denselben bis zu einem gewissen Grade den Antrieb und die Notwendigkeit selbständigen Handelns; und wer allzusehr geleitet und beherrscht wird, muß mit Notwendigkeit mehr und mehr in einen Zustand verhältnismäßiger Hilflosigkeit geraten.
Selbst die besten Gesetze vermögen nicht, dem Einzelnen thatkräftige Hilfe zu leisten. Das Höchste, was sie für ihn thun können, besteht vielleicht darin, daß sie ihm gestatten, sich frei zu entwickeln und seine individuelle Lage zu verbessern. Aber die Menschen sind zu allen Zeiten zu dem Glauben geneigt gewesen, ihr persönliches Glück und Wohlergehen könne eher durch Staatseinrichtungen als durch ihr eigenes Verhalten gesichert werden. Aus diesem Grunde hat man den Wert der Gesetzgebung als eines Mittels zur Beförderung des menschlichen Fortschritts häufig sehr überschätzt. Daß man den millionsten Teil einer Legislatur bilden hilft, indem man in einem Zeitraum von drei oder fünf Jahren einmal seine Stimme für ein oder zwei Personen abgiebt – das kann selbst bei gewissenhaftester Erfüllung dieser Pflicht nur einen geringen aktiven Einfluß auf das Leben und den Charakter eines Menschen ausüben.
Außerdem zeigt es sich mit jedem Tage deutlicher, daß die Funktionen der Regierung eher negativ und einschränkend als positiv und schöpferisch sind, da sie hauptsächlich in Schutzmaßregeln zerfallen – zur Sicherung des Lebens, der Freiheit und des Eigentums. Weise und wohlangewandte Gesetze werden es den Menschen ermöglichen, die Früchte ihrer geistigen oder körperlichen Arbeit in Sicherheit und mit verhältnismäßig kleinen persönlichen Opfern zu genießen: aber keine noch so strengen Gesetze können den Trägen fleißig, den Verschwender sparsam, den Trunkenbold nüchtern machen. Solche Wandlungen sind nur vermöge individueller Anstrengung, Sparsamkeit und Enthaltsamkeit zu bewirten – nicht durch größere Rechte, sondern durch bessere Sitten.
Die Regierung eines Volkes erweist sich gewöhnlich nur als ein Spiegelbild der Individuen, aus denen sich dasselbe zusammensetzt. Eine Regierung, die über dem Volke steht, wird unvermeidlich auf das Niveau desselben herabgezogen: während eine solche, die einen niedrigeren Standpunkt einnimmt, schließlich emporgehoben wird. Nach der Ordnung der Natur muß sich der Gesamtcharakter einer Nation ebenso notwendig in angemessenen Gesetzen und Regierungsformen ausdrücken, als der Wasserspiegel immer wieder in seine wagerechte Lage zurückkehrt. Ein edles Volk wird eine edle Regierung, ein unedles und verderbtes aber eine unedle haben. In der That liefert die Erfahrung allgemein den Beweis, daß der Wert und die Bedeutung eines Staates weit weniger von seiner Regierungsform als von dem Charakter seiner Bewohner abhängt. Denn das Volk ist nur eine Gesamtheit individueller Existenzen, und die Civilisation selbst ist nur der Inbegriff all der persönlichen Bildung der Männer, Frauen und Kinder, aus denen die Gesellschaft besteht.
Der nationale Fortschritt ist die Summe individueller Tüchtigkeit, Energie und Rechtschaffenheit – wie der nationale Verfall aus individueller Trägheit, Selbstsucht und Lasterhaftigkeit hervorgeht. Was wir gewohnt sind, als große sociale Übel zu bezeichnen, erweist sich in den meisten Fällen nur als eine Folge der verderbten Lebensweise einzelner Personen: und wenn wir uns auch bemühen, jene Übel vermittelst der Gesetze zu beseitigen und auszurotten, so werden sie doch immer wieder in irgend einer anderen Form üppig emporsprießen, sofern es nicht gelingt, die Beschaffenheit des individuellen Lebens und Charakters zu verbessern. Wenn diese Ansicht richtig ist, so folgt daraus, daß die höchste Vaterlandsliebe und Menschenfreundlichkeit nicht in einer Abänderung der Gesetze oder Umwandlung der Staatseinrichtungen, sondern darin besteht, daß man die Menschen in hilfreicher Weise aneifert, sich durch freie und selbständige individuelle Thätigkeit zu erheben und zu vervollkommnen.
Es kann für einen Menschen von verhältnismäßig geringer Bedeutung sein, wie er von außen her regiert wird: während alles davon abhängt, wie er sich selbst innerlich beherrscht. Der bedauernswerteste Sklave ist nicht der, welcher unter einem Despoten steht – so groß dieses Übel auch sein mag; sondern jener, welcher in den Banden seiner eigenen moralischen Unwissenheit, Selbstsucht und Lasterhaftigkeit liegt. Nationen, die solchergestalt Sklaven in ihrem Inneren sind, können nicht durch einen bloßen Wechsel ihrer Herren oder Verfassungen befreit werden, und so lange der verhängnisvolle Irrtum herrscht, daß die Freiheit nur von der Regierungsform abhänge oder darin bestehe: so lange werden solche Veränderungen – mit welchen Opfern sie auch erkauft sein mögen – ebensowenig praktische und dauernde Resultate liefern als die flüchtigen Bilder einer Zauberlaterne. Der individuelle Charakter allein bildet die solide Grundlage der Freiheit, und in ihm allein liegt auch die einzige zuverlässige Bürgschaft der socialen Sicherheit und des nationalen Fortschritts.
John Stuart Mill behauptet sehr richtig, daß "selbst der Despotismus seine schlimmsten Wirkungen noch nicht hervorgebracht habe, so lange es noch eine Individualität unter ihm gebe, und daß anderseits alles, was die Individualität vernichte, Despotismus sei – unter welchem Namen es auch gehen möge."
In Bezug auf den menschlichen Fortschritt tauchen immer von neuem alte Irrtümer auf. Die einen wünschen einen Cäsar herbei; die anderen rufen nach einer Vertretung der Nationalitäten, noch andere nach Parlamentsakten. Auf einen Cäsar muß man warten, und wenn er gefunden ist: "wohl dem Volke, das ihn anerkennt und ihm folgt!" (Napoleon III.: "Das Leben Cäsars".) Dieser Ausspruch bedeutet in Kürze, daß alles "für," nichts "durch" das Volk geschehen soll – eine Lehre, die, wenn man sie als Richtschnur annimmt, jeder Art von Despotismus schnell den Weg bahnen muß, indem sie das freie Bewußtsein der Völker zerstört. Der Cäsarismus ist menschlicher Götzendienst in schlimmster Form – eine Vergötterung der bloßen Gewalt, die in ihren Wirkungen ebenso erniedrigend ist als es eine Anbetung des bloßen Reichtums sein würde. Weit heilsamer wäre es, wenn man den Nationen den Grundsatz der Selbsthilfe einprägte. Wo dieser richtig verstanden und zur Ausführung gebracht wird, muß der Cäsarismus verschwinden. Diese beiden Principien stehen sich diametral entgegen; was Victor Hugo von Schwert und Feder sagt, gilt auch für sie: " Ceci tuera cela" (Eins tötet das andere).
Die Macht der Volksvertretungen und Parlamentsakte ist auch ein vorherrschender Aberglaube. Es mag hier ein Ausspruch angeführt werden, den William Dargan, einer der aufrichtigsten irischen Patrioten, beim Schluß der ersten Dubliner Gewerbeausstellung gethan hat.
"In Wahrheit," sagt er, "allemal, wenn ich das Wort ›Unabhängigkeit‹ nennen höre, muß ich an mein Vaterland und an meine städtischen Mitbürger denken. Ich habe viel von der Unabhängigkeit reden hören, die wir von einer oder der anderen Seite erlangen könnten, und auch von großen Vorteilen, die wir von Personen erwarten dürfen, welche aus anderen Ländern zu uns kommen. Aber obwohl ich so sehr als irgend einer den großen Nutzen erkenne, der uns aus einem solchen Verkehr erwachsen muß, so bin ich doch zu jeder Zeit innig von der Überzeugung durchdrungen gewesen, daß unsere wirtschaftliche Unabhängigkeit nur von uns selbst abhängt. Ich glaube, daß wir bei einfachem Fleiß und redlicher Sorgfalt in der Nutzbarmachung unserer Kräfte nie bessere Chancen oder glänzendere Aussichten hatten, als wir sie gegenwärtig besitzen. Wir haben einen Schritt vorwärts gethan, aber die Beharrlichkeit ist die große Vermittlerin des Erfolgs, und wenn wir nur eifrig auf der betretenen Bahn weiterschreiten, so bin ich in meinem Gewissen überzeugt, daß wir uns in kurzer Zeit in einem Zustand befinden werden, der an Behaglichkeit, Glück und Unabhängigkeit hinter dem keines anderen Volkes zurückbleibt." –
Alle Nationen sind das, was sie sind, erst durch das Denken und Schaffen vieler menschlicher Generationen geworden. Geduldige und ausdauernde Arbeiter in allerlei Stellungen und Lagen des Lebens – Ackerbauer und Bergleute, Erfinder und Entdecker, Fabrikanten, Mechaniker und Handwerker, Dichter, Philosophen und Politiker – sie alle haben zu dem großen Resultat beigetragen, indem eine Generation auf den Leistungen der anderen weiterbaute und ein Stockwert auf das andere setzte. Dieses beständige Aufeinanderfolgen edler Arbeiter – der Handlanger der Civilisation – hat dazu gedient, auf dem Gebiete der Industrie, Wissenschaft...