Bewusstheit trainieren
Viele Dinge des Alltags erledigen wir mehr oder weniger automatisch, und auch unser Denken läuft meist unbewusst ab, über unsere Gefühle und Empfindungen, Einstellungen und Handlungen sind wir uns oft nicht im Klaren – sie liegen sozusagen im Schatten. Doch ein Leben im Gleichgewicht sieht anders aus: Es erfordert, innezuhalten und Distanz zu sich selbst einzunehmen – sich selbst zu beobachten. Der Lohn sind Selbst-Bewusstheit, also ein Leben bei Licht, sowie ein sinnvoller Umgang mit unserer Energie und damit Ausgeglichenheit.
Den inneren beobachter beleben
Wie geht es mir heute körperlich? Was berührt, bereichert, beglückt mich? Worüber ärgere ich mich heute aber auch? Welche Erwartungen habe ich an mich, welche an andere Menschen? Wurden sie erfüllt, oder blieben sie unerfüllt? Und wie habe ich auf alle diese Empfindungen reagiert?
Jedes Mal wenn wir uns auf solche oder ähnliche Fragen Antworten geben können, sind wir uns unserer selbst bewusst und dürfen als Dank etwas über unsere inneren Einstellungen erfahren. Wir werden Seiten an uns kennenlernen, die unser Gleichgewicht fördern, und solche, die uns eher aus der Balance bringen. Voraussetzung dafür ist, dass wir unseren inneren Beobachter zum Leben erwecken. Diese innere Instanz ist wesentlich für jegliche geistigseelische Weiterentwicklung, für unsere Persönlichkeitsbildung.
Selbst-Bewusstheit im Sinne des inneren Beobachters meint nichts anderes als die Fähigkeit, sich seiner selbst – seiner eigenen Gedanken, Gefühle und Handlungen – bewusst zu werden, sich aus der Distanz des Beobachters heraus zu betrachten.
»Es gibt Bekanntes, und es gibt Unbekanntes. Dazwischen gibt es Türen.«
William Blake | englischer Dichter (1757–1827)
Selbsterkenntnis ist der erste Schritt zu mehr Gleichgewicht
»Was ist für Sie die wichtigste Fähigkeit für ein glückliches und erfolgreiches Leben?« Diese Frage stellte ein Student dem erfolgreichen Hochschulprofessor, Managementvordenker und Bestsellerautor Peter Drucker. Der damals bereits über 90-Jährige antwortete mit einer schon aus der Antike überlieferten Empfehlung: »Erkenne dich selbst!« Denn Selbsterkenntnis ist eine Schlüsselkompetenz für menschliche Entwicklung und damit auch für Ausgeglichenheit, Gesundheit und Erfolg.
Für die Shaolin-Mönche bedeutet das Bewusstsein darüber, was wir denken, fühlen, spüren und wie wir uns verhalten, den ersten entscheidenden Schritt hin zu mehr Energie und Gleichgewicht. Deshalb zielt auch die erste der acht Shaolin-Strategien darauf. Selbsterkenntnis bedeutet lebenslanges Lernen über sich selbst. Durch gezieltes Training können wir diesen Lernprozess unterstützen.
Beobachten, ohne zu werten
Wie ein Außenstehender, der mit einem Fernglas auf die Phänomene in der Welt schaut, betrachtet der innere Beobachter die Erscheinungen unserer Innenwelt. Entscheidend dabei ist: Er tut dies, ohne sie zu bewerten! Diese nicht wertende Selbstbeobachtung der eigenen Gedanken, Gefühle und Handlungen unterstützt uns dabei, Hinderliches zu erkennen, um es loszulassen und Förderlichem Platz zu machen.
Der nicht wertende innere Beobachter hilft uns also, unbewusste negative und positive Gedanken aufzuspüren.
In einem zweiten Schritt können wir dann lernen, uns von den Gedanken, die unsere Energie und unser Gleichgewicht schwächen, willentlich zu verabschieden. Wir sind dann in der Lage, einfach selbst zu entscheiden, ob wir diese negativen Gedanken noch weiter denken wollen oder nicht. Mit anderen Worten: Wir erlangen im positiven Sinne mehr Kontrolle über unser Denken.
Wie fein und detailliert das Fernglas unseres inneren Beobachters das Innere abzubilden vermag, ist eine Frage der Übung. Das Ziel lautet also, dieses Auflösungsvermögen zu verbessern und uns sensibler dafür zu machen, welche Signale uns unser Unbewusstes sendet.
Weisheitsgeschichte
Ein Schüler war für seinen besonderen Eifer bekannt. Er übte und trainierte Tag und Nacht und wollte seine Übungen nicht einmal zum Essen oder Schlafen unterbrechen. So wurde er immer dünner und dünner, und auch die Erschöpfung nahm zu. Der Meister rief ihn zu sich und riet ihm, langsamer vorzugehen und nicht zu viel von sich zu verlangen. Das aber wollte der Schüler nicht hören. »Warum hast du es so eilig?«, wollte der Meister von ihm wissen. »Ich strebe nach Glück«, entgegnete der Schüler. »Da habe ich keine Zeit zu verlieren.« – »Und woher weißt du, dass das Glück vor dir läuft, sodass du ihm hinterherlaufen musst?«, fragte ihn da der Meister. »Es könnte doch auch sein, dass es hinter dir ist und dass du nichts weiter tun musst, als innezuhalten und dessen gewahr zu werden.«
Beobachten und benennen
Wenn es uns gelingt, den inneren Beobachter für längere Zeit aufrechtzuerhalten, dann werden wir erkennen, dass unser Leben nichts anderes ist als ein Kommen und Gehen von Sehreizen, Geräuschen, Gerüchen, Geschmäcken, Körperempfindungen, Gedanken und Gefühlen. Diese sieben Geisteszustände setzen – gemäß buddhistischer Lehre, gemäß Shaolin, gemäß aktueller Hirnforschung – unser Erleben zusammen. Sie bilden somit unser »Selbst«. Der wechselnde Fluss dieser sieben Zustände ist »leben«. Alles andere ist ein Produkt unserer Gedankenwelt, ein Konstrukt unserer Vorstellungen, eine Projektion unseres Verstands.
Der Schlüsselfaktor für die Anwesenheit des inneren Beobachters ist die Fähigkeit des »Benennen-Könnens«. Gelingt es uns, das, was wir sehen, hören, riechen, schmecken, spüren, fühlen oder denken, zu benennen, ist die Instanz des inneren Beobachters aktiv. Unsere Bewusstheit ist »online«. Können wir die Wahrnehmungen dieser sieben Kategorien nicht benennen, ist unser »innerer Beobachter« nicht aktiv. Wir befinden uns dann auf einer weniger weit entwickelten Ebene von Bewusstheit.
Wenn es Ihnen gelingt, sich beim Atmen oder beim Denken zu beobachten, dann haben Sie erfolgreich Ihren inneren Beobachter trainiert!
Übung Innehalten und beobachten
- Richten Sie Ihre Aufmerksamkeit für eine kurze Zeit auf Ihre Atmung. Beobachten Sie, wie Sie ein- und ausatmen, beobachten Sie die kleinen unscheinbaren Bewegungen, die die Atmung begleiten. Beobachten Sie, wie die Atemluft an den Nasenöffnungen ein- und wieder ausströmt. Versuchen Sie auch die kleine Atempause wahrzunehmen, die zwischen Aus- und Einatmen liegt. Tun Sie dies für ein paar Atemzüge.
- Richten Sie nun den Fokus auf Ihre Gedanken und beobachten Sie genau, was Ihnen gerade durch den Kopf geht. Verweilen Sie für ein paar Momente in dieser Selbstbeobachtung. Machen Sie sich zunächst nur klar, dass Sie denken, und nehmen Sie dann die Gedankeninhalte wahr. Sehr wichtig ist dabei, dass Sie ihre Gedanken nicht bewerten, sondern einfach kommen und gehen lassen.
- Versuchen Sie nun, zusätzlich wahrzunehmen, was Sie sehen, hören, riechen, schmecken, spüren und fühlen. Beobachten Sie auch hier, ohne zu werten oder etwas verändern zu wollen.
Das Gedankenkarussell
Denken hat ganz grundsätzlich den evolutionären Nutzen, unser Überleben zu sichern. Deshalb denken wir, das ist der Hauptgrund. Das bedeutet, dass wir unser bewusstes Denken darauf richten, unser Leben zu organisieren und zu planen – das sind auf die Zukunft gerichtete Gedanken –, oder aber, ungelöste Probleme und schwierige Situationen zu analysieren und zu reflektieren – das ist auf die Vergangenheit gerichtetes Denken.
Schwieriger Kontakt mit der Gegenwart
Eher selten beschäftigt sich das Denken mit der Gegenwart. Aus diesem Grund machen es uns Gedanken auch so schwer, die Kraft des Jetzt, die Frische des Moments zu erleben. Weil aber Erleben stets nur im gegenwärtigen Moment stattfindet, verlieren wir durch Denken den Kontakt zum unmittelbaren Erleben, zu uns und zu unseren Mitmenschen. Und letztendlich verlieren wir dadurch auch den Kontakt zu unseren Energiequellen – und damit unser Gleichgewicht.
Zusätzlich zu den bewussten Gedanken aber denken wir sogar noch permanent alles Mögliche, ohne uns dessen bewusst zu sein. Dieses unbewusste gedankliche Hintergrundrauschen nehmen wir in der Regel gar nicht wahr. Es ist wie mit einem alten Kühlschrank, an dessen Brummen im Hintergrund wir uns längst gewöhnt haben. Und auch dieses Denken dreht sich um »Probleme lösen« oder »Zukunft sichern«, ist also auf Vergangenheit oder Zukunft gerichtet.
Doch woher kommen diese unendlich vielen Gedankenschleifen genau? Was treibt das Gedankenkarussell an? Wie entstehen daraus Gefühle? Und in welche Körperreaktionen und Handlungen mündet das?
Die erste Quelle der Gedanken
Die erste Quelle der Gedanken sind die Bewertungen unserer Wahrnehmungen, die wir über die fünf Sinneskanäle Sehen, Hören, Riechen, Schmecken und...