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E-Book

Sich selbst verlieren und alles gewinnen

Ein Physiker greift nach den Sternen

AutorMarkolf H. Niemz
VerlagKreuz
Erscheinungsjahr2015
Seitenanzahl192 Seiten
ISBN9783451803192
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis7,99 EUR
Wir leben in einer Welt, in der wir uns gut orientieren können. Doch wenn es um tiefere Fragen des Lebens geht, sind wir oft ratlos. Prof. Markolf Niemz, Physiker und Bestsellerautor, zeigt mit seiner klaren Sprache, woran es liegt. Wir arrangieren uns mit zahlreichen Illusionen, weil sie so hartnäckig sind: die Illusion vom materiellen Glück, von der individuellen Freiheit und von einem personalen Ich. Was im Alltag taugt, erweist sich aber als Ballast, wenn wir über Gerechtigkeit nachdenken, über den Sinn von Leben und Tod oder gar über einen allmächtigen Gott. Markolf Niemz lädt uns ein, die Illusionen zu verlieren, um alles zu gewinnen.

Prof. Dr. Markolf H. Niemz ist Physiker und hat einen Lehrstuhl für Medizintechnik an der Medizinischen Fakultät Mannheim der Universität Heidelberg. Seine Forschungen zur Lasermedizin wurden 1995 von der Heidelberger Akademie der Wissenschaften mit dem Karl-Freudenberg-Preis ausgezeichnet. Niemz studierte Physik und Bioengineering in Frankfurt, Heidelberg und San Diego. Er war Research Fellow an der Harvard Medical School mit einem Stipendium der Deutschen Forschungsgemeinschaft. Seine Bücher sind Bestseller und beleben den Dialog zwischen Wissenschaft und Religion. Seine Lesungen und Vorträge sind regelmäßig ausgebucht.

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Leseprobe

Illusion oder Wirklichkeit?


Kennen Sie dieses unwirkliche Gefühl: Sie sehen etwas und sind dennoch fest davon überzeugt, es könne gar nicht sein? Für optische Täuschungen gibt es zahlreiche Beispiele, aber ein wesentlich intensiveres Erlebnis ist die gefühlte Illusion. In wenigen Sekunden dürfen Sie mit Ihrem eigenen Körper die Hartnäckigkeit einer Illusion spüren.

Experiment Nr. 1


Überkreuzen Sie bitte den Zeigefinger und den Mittelfinger Ihrer rechten Hand (wie in Abbildung 1), und berühren Sie mit beiden Fingerkuppen gleichzeitig Ihre Nase! Wie viele Nasen fühlen Sie: eine oder zwei? Bitte wiederholen Sie das Experiment vor einem Spiegel, falls Sie unsicher sind.

Abb. 1: Illusion beim Fühlen

Die Illusion ist perfekt, wenn Sie wie fast alle Testpersonen zwei Nasen fühlen, obwohl Sie doch wissen, dass Sie nur eine Nase haben. Wie ist das möglich? Die Ursache für die Sinnestäuschung ist das Überkreuzen der beiden Finger. Ihr Gehirn geht davon aus, dass Ihr rechter Mittelfinger ein Objekt stets rechts von Ihrem rechten Zeigefinger ertastet. Mit dem Überkreuzen der Finger überlisten Sie Ihr Gehirn, und es meldet Ihnen folgerichtig zwei Nasen.

Was lernen wir aus diesem Experiment? Es verdeutlicht auf sinnliche Weise, wie tückisch so eine Illusion sein kann. Spätestens vor dem Spiegel können die meisten Menschen Illusion von Wirklichkeit unterscheiden, weil sie neben dem Tastsinn noch über einen Sehsinn verfügen. Wenn auch Sie zu diesen glücklichen Menschen gehören, die sehen können, dann stellen Sie sich bitte noch einmal vor den Spiegel und schauen zu, wie Sie mit gekreuzten Fingern Ihre Nase fühlen. Jetzt konkurrieren nämlich Ihr Tastsinn und Ihr Sehsinn miteinander. Wer wohl gewinnt? Vertrauen Sie Ihren Augen mehr als Ihren Fingern?

Experiment Nr. 2


Doch auch Ihre Augen lassen sich täuschen. Betrachten Sie dazu bitte bei hellem Licht Abbildung 2. Schweifen Sie mit Ihrem Blick langsam über die Muster und beschreiben Sie, was Sie wahrnehmen. Ich vermute, dass Sie wie die meisten Testpersonen beobachten werden, wie sich die kreisförmigen Muster drehen, obwohl sie doch fest fixiert sind. Wie ist das möglich? Ein Spiegel kann uns hier nicht weiterhelfen. Die Illusion entsteht durch die Kombination verschiedener Helligkeiten. Die Rezeptoren im Auge sind so verschaltet, dass die dargebotene Schattierung im Gehirn den Eindruck von sich drehenden Mustern erzeugt.

Abb. 2: Illusion beim Sehen

Experiment Nr. 3


Offensichtlich dürfen wir weder unseren Fingern noch unseren Augen vollends vertrauen. Sollten wir mehr auf unsere Ohren hören? Bei blinden Menschen ist der Hörsinn häufig besser ausgeprägt als bei sehenden Menschen, weil sie ihn stärker beanspruchen und entsprechend trainieren. Es ist ein Beleg dafür, dass sich unsere Wahrnehmung schärfen lässt. Wenn Sie mögen, dürfen Sie gerne noch ein drittes Experiment durchführen. Falls Sie über einen Zugang zum Internet verfügen, können Sie die Illusion hören. Falls nicht, werden Sie eine optische Entsprechung kennenlernen.

Abbildung 3 zeigt ein System mit Musiknoten, die von links nach rechts immer höher werden. Der Zuhörer hat den Eindruck, dass die Klangfolge kontinuierlich ansteigt, obwohl der erste Klang (ganz links) und der letzte Klang (ganz rechts) identisch sind. Eine Hörprobe können Sie unter dem folgenden Link abrufen:

www.kreuz-verlag.de/niemz_sich_selbst_verlieren

Die Illusion beruht darauf, dass jeder Klang aus mehreren Einzeltönen besteht, deren Lautstärke variiert. Letztere ist in Abbildung 3 als Helligkeit gekennzeichnet: Je blasser eine Note ist, umso leiser klingt sie. Durch eine geschickte Kombination aus Lauterwerden und Leiserwerden entsteht beim Zuhörer die Illusion einer kontinuierlich ansteigenden Klangfolge. Der US-amerikanische Psychologe Roger Shepard hat sie erstmals beschrieben.1

Abb. 3: Illusion beim Hören

Diese akustische Illusion lässt sich auch optisch veranschaulichen: Abbildung 4 zeigt links 13 Treppenstufen, die den aufsteigenden Musiknoten in Abbildung 3 entsprechen. Die Illusion einer endlosen Treppe rührt daher, dass Sie die tatsächliche Höhe der hinteren (schwarz gezeichneten) Stufen überhaupt nicht einsehen können. Eigentlich müsste die Treppe ansteigen wie in Abbildung 4 rechts. Bei der Klangfolge in Abbildung 3 entsteht die Illusion durch einen ähnlichen Effekt: Weil stets mehrere Noten zeitgleich erklingen, lässt sich einem gehörten Klang keine eindeutige Tonhöhe zuordnen. Lediglich die Gesamtlautstärke ist eindeutig, und diese bleibt von Klang zu Klang konstant.

Abb. 4: Endlose Treppe (Illusion und Wirklichkeit)

Dass ich Sie diese drei kleinen Experimente habe durchführen lassen, hat einen einfachen Grund: Am eigenen Körper durften Sie erfahren, wie leicht sich Ihre Wahrnehmung täuschen lässt und wie trügerisch Ihre Vorstellung von der Wirklichkeit sein kann. Auch auf das Riechen und Schmecken sollten wir uns nicht hundertprozentig verlassen. Denken Sie nur an künstliche Aromen, mit denen viele unserer Lebensmittel aufgeputscht werden. Mit fünf Sinnen erleben wir die Wirklichkeit in Raum und Zeit, und doch scheint es, als könnten wir sie nicht vollständig erfassen.

Das Wort »Illusion« stammt vom lateinischen illudere ab (auf Deutsch etwa: ins Spiel werfen). Gemeint ist damit, dass unser Gehirn aufgrund einer Sinneswahrnehmung oder eines Gedankens eine Annahme »ins Spiel wirft«, die nicht zwingend der Wirklichkeit entspricht. Schon die alten Griechen waren Meister der Illusion. Der größte Tempel auf der Akropolis in Athen, der Parthenon, scheint ein Meisterwerk der Perfektion zu sein, doch der Schein trügt. Tatsächlich ist nicht eine einzige Linie dieses Bauwerks gerade. Damit der Betrachter vom Boden aus den Eindruck eines senkrecht bis in den Himmel reichenden Tempels gewinnt, haben sich die antiken Baumeister gleich mehrere Tricks einfallen lassen: Das Bauwerk steht auf einem gekrümmten Fundament, und die Säulen sind nach innen geneigt. Abbildung 5 zeigt links (nicht rechts!) die vom Betrachter wahrgenommene Illusion und rechts die in Wirklichkeit vorhandene, hier etwas übertriebene Krümmung des Tempels.

Abb. 5: Der Parthenon (Illusion und Wirklichkeit)

Viele Illusionen beruhen darauf, dass die Sinne bewusst mit einem Trick getäuscht werden. Das gilt auch für die drei Experimente, die Sie eben durchgeführt haben. Doch nicht allein unsere Sinneswahrnehmung ist fehlerhaft. So manche Illusion entsteht durch unreflektierte Gedanken im Gehirn. Ein typisches Beispiel sind Vorurteile. Die Annahme, dass Frauen nicht einparken können, widerspricht der Wirklichkeit und ist darum eine Illusion. Ich hatte eine Fahrlehrerin, und sie konnte einparken.

Auch der Aberglaube ist eine Illusion. Die Vorstellung, dass die Zahl 13 immer Unglück bringt, entspricht nicht der Wirklichkeit. Mein Erstlingswerk Lucy mit c schaffte es als erstes deutsches Buch im Eigenverlag auf die Bestsellerliste – auf Platz 13! Das war mein Sprungbrett als Schriftsteller, obwohl ich in der Schule nie eine Leuchte im Deutschaufsatz war. Folglich erweist sich sogar eine bekannte Lebensweisheit als Illusion: »Was Hänschen nicht lernt, lernt Hans nimmermehr.« Mein zweiter Vorname ist Hans. Wir lernen, solange wir leben.

Illusionen haben es an sich, dass sie nicht leicht von der Wirklichkeit zu unterscheiden sind. Eine Illusion lässt sich als solche entlarven, wenn wir versuchen, eine andere Perspektive einzunehmen, indem wir beispielsweise noch einen weiteren Sinn zu Rate ziehen. Beim ersten Experiment war dies der Blick in den Spiegel. Ein Muster im zweiten Experiment hört sofort auf, sich zu drehen, wenn Sie versuchen, es mit Ihrem Zeigefinger zu berühren. Und die aufsteigende Klangfolge im dritten Experiment erweist sich spätestens im Kontext mit seiner optischen Entsprechung als eine Illusion. Daraus können wir eine wichtige Erkenntnis ableiten: Auch gedankliche Illusionen wie Vorurteile und Aberglaube lassen sich abbauen, indem wir uns bemühen, die Perspektive zu wechseln. Dies fällt nicht immer leicht, weil es mitunter bequem ist, sich mit seinen Illusionen zu arrangieren. Schon Albert Einstein wusste: »Es ist leichter, einen Atomkern zu spalten als ein Vorurteil.«2

Zum Aufbau des Buches


Ich bin fest davon überzeugt, dass viele unserer Annahmen über die Wirklichkeit falsch sind. In diesem Buch wage ich den Versuch, die vielleicht bedeutendsten Illusionen aufzudecken. Weil eine Weltsicht oft stark von Illusionen geprägt ist, halte ich es für sinnvoll, sich diese frühzeitig bewusst zu machen. Wer will schon erst beim Sterben erfahren, dass er sein ganzes Leben lang Illusionen aufgesessen ist?

Im ersten Teil werde ich drei fundamentale Illusionen unter die Lupe nehmen: die absolute Zeit, den absoluten Raum und das personale Ich. Die Erkenntnis, dass die Zeit und der Raum nur Illusionen sind, geht auf Albert Einstein und seine Relativitätstheorie zurück. Doch auch das Ich ist wohl nicht das, wofür viele Menschen es halten.

Im eingeschobenen Essay Weg bin ich beschreibe ich die Euphorie bei meinem ersten wissenschaftlichen Experiment. Als neugieriger Physiker gebe ich mich meinem Fach hin, vergesse alles um mich herum und bin einfach weg. In einem solchen Erlebnis zeigt sich das wahre Ich.

Der zweite Teil befasst...

Blick ins Buch

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