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Sichere Kinder brauchen starke Wurzeln

Wegweiser für den Umgang mit bindungsbeeinträchtigten Kindern und Jugendlichen

AutorThomas Köhler-Saretzki
VerlagSchulz-Kirchner Verlag GmbH
Erscheinungsjahr2016
Seitenanzahl68 Seiten
ISBN9783824809547
FormatePUB/PDF
KopierschutzWasserzeichen/DRM
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis8,99 EUR

Kinder brauchen Wurzeln und Flügel! Wie aber reagieren Kinder und Jugendliche, deren angeborenes Bindungssystem in den ersten Lebensjahren durch das Erleben von Unsicherheit, Angst und Hilflosigkeit verletzt wurde? Entwickeln sich diese Kinder und Jugendlichen mit ihren negativen Bindungserfahrungen anders als Kinder, die positive Erfahrungen gemacht haben? Wie kann ich als Familienmitglied, als Freund oder als Fachkraft unterstützen und helfen? Welche Umgangsmöglichkeiten gibt es? Dieser Ratgeber - gibt Antworten und Anregungen auf diese und weitere Fragen. - informiert über Erscheinungsformen der Bindungsstörung in Kindheit und Jugend sowie Möglichkeiten bei der Förderung und Behandlung von bindungsbeeinträchtigten Kindern und Jugendlichen. - zeigt auf, wie Eltern, Freunde, Lehrer und Fachkräfte ein Kind mit Bindungsstörung im täglichen Leben, aber auch bei der Behandlung begleiten können. - empfiehlt Verhaltensweisen im Umgang mit bindungsunsicheren Kindern. - macht Hoffnung, dass es nie zu spät ist, einem Menschen positive Bindungserfahrungen zu vermitteln.

Dr. Thomas Köhler-Saretzki, arbeitete nach dem Studium der Psychologie in Wuppertal viele Jahre in einer stationären Einrichtung der Kinder- und Jugendhilfe. Schwerpunkt dieser Tätigkeit war neben der psychologischen Beratung und Führung von interdisziplinären Teams die Diagnostik und Behandlung von Kindern und Jugendlichen mit psychischen Störungen. Anfang 2012 übernahm er die Leitung einer Familienberatung in Köln mit dem Aufgabengebiet Beratung und Therapie von Kindern, Eltern und Paaren. Er promovierte an der Humanwissenschaftlichen Fakultät der Universität Köln zum Thema Heimerziehung und ist Mitglied verschiedener Arbeitskreise und Gremien im Bereich Frühe Hilfen. Dr. Köhler-Saretzki hält Vorträge und Fortbildungen, u.a. zum Thema Bindung, ist Autor eines Buches und verschiedener Fachartikel und veröffentlichte bereits 2007 zum Thema Behandlung eines bindungsgestörten Mädchens in der Kinder- und Jugendhilfe.

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Leseprobe

| Welche Bindungsmuster kann man unterscheiden?

Kinder brauchen keine perfekten Eltern,
Kinder brauchen nur Eltern, die ihr Bestes tun und offen sind.

In einem sehr bekannten Experiment, dem „Fremde-Situationen-Test“, hat die Forscherin Mary Ainsworth, eine Schülerin des berühmten Begründers der Bindungstheorie John Bowlby, drei verschiedene Bindungsmuster beschrieben, die später noch um eine vierte Kategorie ergänzt wurden. Danach unterscheidet man:

Sicher gebundene Kinder mit einem stabilen und angemessenen Bindungsverhalten.

Unsicher-vermeidende Kinder, die ihre Bezugspersonen als zurückweisend erlebten und sich davor schützen, indem sie nicht zeigen, wenn es ihnen aufgrund einer bindungsrelevanten Situation (z. B. bei Trennung) schlecht geht.

Kinder mit einem unsicher-ambivalenten Bindungsmuster, die ihre Bindungspersonen als uneinschätzbar erlebt haben. Trennungen von der Bezugsperson werden kaum verkraftet, die Kinder lassen sich nur schwer beruhigen, sie reagieren extrem gestresst, ängstlich und unreif.

Und schließlich die Gruppe der Desorganisierten, die kein erkennbares Bindungsverhalten, also keine adäquaten Lösungsstrategien, für stressbedingte Bindungssituationen (z. B. Trennung) haben. Sie zeigen punktuell chaotisches, widersprüchliches und unkoordiniertes oder extrem kontrollierendes Verhalten gegenüber der Bindungsperson.

Bis heute geht man also von folgenden Mustern aus, wie Kinder Bindungen zu anderen Personen eingehen können:

Sicher gebundene Kinder (ca. 50-60 % aller Kinder)

„Wenn es mir nicht gut geht, bist Du mein sicherer Ort.

Ich weiß, dass es mir bei Dir gleich besser geht, dann kann ich wieder losziehen und die Welt entdecken.“

schreien und protestieren, wenn sie von ihrer Bezugsperson getrennt werden.

kuscheln sich bei Wiederbegegnung an.

lassen sich trösten und erleben ihre Bezugsperson aufgrund ihrer Feinfühligkeit als sichere Basis und Zufluchtsort.

erkunden ihre Umwelt.

kommunizieren mit ihren Bindungspersonen offen über negative Gefühle.

Sicher gebundene Kinder erleben ihre Mutter als sicheren Zufluchtsort.

Die Bezugspersonen von sicher gebundenen Kindern nehmen feinfühlig die Signale ihres Kindes wahr, interpretieren diese richtig und reagieren darauf prompt und angemessen. Aufgrund dieser verlässlichen Erfahrungen gewinnen die Kinder ausreichend Vertrauen, können bei Bedarf Sicherheit auftanken und sich dann wieder der Exploration ihrer Umwelt zuwenden.

Unsicher-vermeidende Kinder (ca. 25 % aller Kinder)

„Ich werde von Dir abgelehnt, wenn es mir nicht gut geht. Ich versuche diese Enttäuschung durch Spielen in den Griff zu bekommen. Wenn Du wieder da bist, bin ich eigentlich erleichtert, zeige es aber nicht.“

erleben ihre Bezugsperson als zurückweisend.

schützen sich davor, indem sie nicht zeigen, wenn es ihnen nicht gut geht, wenn sie Angst haben oder unter Trennung leiden.

meiden Beziehungen, um nicht zurückgewiesen zu werden.

unterdrücken negative Gefühle gegenüber ihrer Beziehungsperson.

Obwohl unsicher-vermeidende Kinder bei einer Trennung von ihrer Bezugsperson unter enormer Belastung stehen, scheint es von außen so, als ob alles in Ordnung sei. Die Kinder verhalten sich gleichgültig, spielen und erkunden ihre Umwelt und wirken weder verärgert noch verängstigt. Inzwischen weiß man aber, dass die Kinder in diesen Situationen sehr wohl unter Stress stehen. Mit physiologischen Messungen konnte man dies in der Vergangenheit mehrfach nachweisen. Unsicher-vermeidende Kinder konnten kein Vertrauen in die Verfügbarkeit ihrer Bindungsperson entwickeln. Sie haben immer wieder die Erfahrung gemacht, dass ihre Wünsche und Bedürfnisse nicht erfüllt werden, ja sogar auf offene Ablehnung und Zurückweisung stoßen, und sie kein Recht auf Liebe und Zuwendung haben. Über Umwege versuchen diese Kinder aber trotzdem Nähe und Sicherheit in ihrer Beziehung zur Bindungsperson zu erreichen, z. B. über erbrachte Leistungen, für die sie Lob erhalten.

Unsicher-vermeidende Kinder zeigen nicht, wenn es ihnen schlecht geht.

Unsicher-ambivalente Kinder (ca. 15 % aller Kinder)

„Ich kann mich einfach nicht darauf verlassen, dass Du bei mir bleibst. Also tue ich alles, um Dich bei mir zu halten. Es macht mich aber unglaublich wütend, traurig und verzweifelt, dass ich Dir nicht trauen kann.“

erleben ihre Bindungsperson als unberechenbar, was zu Ärger und Wut führt.

verkraften kaum eine Trennung von der Bezugsperson.

lassen sich während der Trennung und auch bei der Wiederbegegnung nur schwer beruhigen.

können daher nicht ausreichend Sicherheit auftanken.

erkunden ihre Umwelt nur eingeschränkt.

wirken oft kleinkindhaft, ängstlich und unreif.

Die Kinder weisen bei einer Trennung übermäßigen Stress und Verunsicherung auf und lassen sich durch eine fremde Person nicht regulieren. Bei der Wiederbegegnung mit ihrer Beziehungsperson zeigen sie einerseits anklammerndes, andererseits abweisendes, teilweise aggressives Verhalten und können sich auch dann kaum beruhigen.

Unsicher-ambivalente Kinder erleben ihre Eltern als unberechenbar.

Die Kinder haben in der Vergangenheit oft die Erfahrung gemacht, dass ihre Bindungsperson nicht zuverlässig, nachvollziehbar und vorhersehbar reagiert und die Zuwendung mit eigenen Mitteln nicht aktiv gesteuert werden kann. Der fortwährende Wechsel von inkonsistentem feinfühligen und abweisenden Verhalten der Bindungsperson führte dazu, dass das Bindungssystem des Kindes immer aktiviert ist. Das Kind kann einfach nicht ermessen, wie sich seine Bindungsperson in bestimmten Situationen verhält, was sie tun und wie sie reagieren wird. Es muss sich permanent innerlich damit auseinandersetzen, in welcher Stimmungslage sich die Bezugsperson gerade befindet, um sich dieser anpassen zu können. Es entsteht eine übermäßige Abhängigkeit und Anhänglichkeit und die Kinder haben einen unverhältnismäßig starken Wunsch nach Nähe und Aufmerksamkeit durch die Bindungsperson. Die Eltern von unsicher-ambivalenten Kindern sind häufig überengagiert, kontrollieren oder verweigern die Autonomieentwicklung ihrer Kinder.

Hinweis:

Sicher gebundene Kinder zeigen ein ausgewogenes Bindungs- und Explorationsverhalten. Unsicher-vermeidende Kinder unterlassen Beziehungen und kompensieren durch Explorieren. Ambivalente Kinder können schlecht erkunden, da sie ständig mit ihrem Bindungsstress beschäftigt sind.

Abb. 2: Zusammenhang zwischen Explorationsverhalten und Bindungsmustern

Unsicher-desorganisierte Kinder (ca. 5–10 % aller Kinder)

„Ich will zu Dir, aber Du machst mir Angst. Ich fühle mich hilflos und weiß nicht, was ich tun soll“.

Und es gibt noch eine vierte Gruppe, die von der Forscherin Mary Main zeitlich später beschrieben wurde und die die bereits vorhandenen Muster ergänzt. Dabei handelt es sich um Kinder mit einem sogenannten desorganisierten Bindungsverhalten, was einen Zusammenbruch der drei organisierten Muster darstellt.

Diese Kinder

besitzen kein von außen erkennbares Bindungsverhalten.

zeigen in Trennungssituationen häufig bizarre, unerwartete und nicht vollendete Verhaltensweisen.

zeigen bei...

Blick ins Buch
Inhaltsverzeichnis
Inhaltsverzeichnis7
Vorwort zur Reihe9
Einleitung11
Janne, 14 Jahre12
Was versteht man eigentlich unter Bindung?14
Welche Bindungsmuster kann man unterscheiden?17
Sicher gebundene Kinder (ca. 50-60% aller Kinder)18
Unsicher-vermeidende Kinder (ca. 25% aller Kinder)18
Unsicher-ambivalente Kinder (ca. 15% aller Kinder)19
Unsicher-desorganisierte Kinder21
Was sind Bindungsstörungen?23
Kinder mit einer reaktiven Bindungsstörung (ICD-10 F94.1)23
Kinder mit einer reaktiven Bindungsstörung mit Enthemmung(ICD-10 F94.2)24
Wie entstehen Bindungsstörungen?27
Welche Herausforderungen treten häufi ggleichzeitig auf?29
Was kann man tun,was sollte man vermeiden?31
Wie können Eltern und Angehörige mit bindungsgestörtenKindern und Jugendlichen umgehen?32
Was bedeutet das für Sie im Einzelnen?32
Fachkräfte der (stationären) Jugendhilfe37
Berater und Therapeuten54
Schlusswort und Resümee62
Literatur64
Glossar65
Adressen66

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