5. Sicherung Produktionsarbeit in Deutschland
„Sicherung von Produktionsarbeit“ (SiPro) ist eine Initiative des Verbandes der Metall- und Elektroindustrie Baden-Württemberg e.V. (Südwestmetall), um die globale Wettbewerbsfähigkeit der Mitgliedsunternehmen am Standort Baden-Württemberg zu sichern und weiter auszubauen. Es geht im Kern darum, firmenspezifische Rahmenbedingungen zu schaffen, um auch einfache Tätigkeiten und einfache Produkte am Standort Baden-Württemberg wettbewerbsfähig zu erhalten. Denn die Erfahrungen von Verlagerungen einfacher Tätigkeiten ins Ausland zeigen, dass diese häufig höherwertige Tätigkeiten nachziehen. Hierzu werden für die arbeits- und tarifpolitischen Herausforderungen Lösungsansätze beschrieben und gemeinsam mit den Sozialpartnern und mit Unterstützung der Wissenschaft und den Experten umgesetzt und evaluiert.
5.1. Ausgangslage für „SiPro“
Die ersten Gedanken zu „Sicherung von Produktionsarbeit“ entstanden in den Jahren 2003 bis 2006, u.a. vor dem Hintergrund der Verlagerung vieler tausender Arbeitsplätze in Niedriglohnländer. Davon betroffen waren im Wesentlichen sogenannte „einfache“ Arbeitsplätze, die sich hinsichtlich der Arbeitsaufgaben durch geringere Anforderungen an die Beschäftigten auszeichneten und teuer bezahlt werden mussten. Insbesondere standen kurzzyklische Montagearbeitsplätze, nicht nur in den großen Konzernen, sondern auch verstärkt bei den kleinen und mittelständischen Unternehmen (KMU), auf dem Prüfstand. Sehr oft konnten diese Arbeitsplätze, zum einen wegen der erwähnt hohen Lohnkosten und der vergleichsmäßig geringen Produktivität und zum anderen durch die gleichzeitige Anreicherung von nicht wertschöpfenden Tätigkeiten aus Instandhaltung und Planung, dem globalen Wettbewerbsdruck nicht mehr Stand halten. Die von Kunden geforderte Nähe zu ausländischen Märkten und die dazu notwendige Lieferflexibilität im Rahmen von „Just in Time“ beschleunigten das Abwanderungsverhalten.
Die zu hohen Lohnstückkosten in Deutschland waren der am häufigsten benannte Grund der Unternehmen für Arbeitsplatzverlagerungen. Zwar war es durch eine ausgewogenere Tarifpolitik in den Jahren 2000 bis 2006 und insbesondere durch das in der so genannten „Pforzheimer Vereinbarung“ Bekenntnis zur Unterstützung betriebsspezifischer Lösungen gelungen, diesen Standortnachteil positiv zu beeinflussen. Dennoch bestand weiterhin massiver Handlungsbedarf, da Deutschland sich im weltweiten Lohnstückkosten-Vergleich immer noch im oberen Bereich befand.
Der Trend von Arbeitsplatzverlagerungen hatte sich in den letzten Jahren etwas abgeschwächt, zum einen durch die positive Entwicklung der Lohnkostensituation, zum anderen aber auch durch die gute wirtschaftliche Lage der Baden-Württembergischen Metall- und Elektroindustrie, die inzwischen wieder tausende von neuen Arbeitsplätzen geschaffen hatte und zukünftig im Rahmen der Digitalisierung weitere neue Arbeitsplätze schaffen würde. Dennoch waren nach wie vor Abwanderungsbestrebungen von einfachen Arbeitsplätzen und einfachen Massenprodukten zu erkennen, die bei einem Abflachen der Konjunktur und ungünstigeren Lohnkostenentwicklungen wieder an Fahrt gewinnen könnten.
Wie wichtig der Erhalt von Produktionsarbeit und damit auch einfacher Arbeitsplätze in Deutschland ist, hat im Übrigen der Ausgang der letzten Wirtschaftskrise gezeigt! Deutschland ging aus der Krise gestärkt heraus, gerade wegen des im internationalen Vergleich hohen Anteils an Produktionsarbeit. Heute, nach der Krise, sind viele Länder bemüht mit staatlichen Unterstützungsprogrammen ihren Produktionsanteil wieder anzuheben. Einer reinen Dienstleistungsgesellschaft scheint in der Krise die Substanz zu fehlen.
Es ist ein Trugschluss zu glauben, dass nur einfache Arbeitsplätze von den Verlagerungen in Niedriglohnländer betroffen sind. Dies zeigen viele Beispiele deutscher Unternehmen in Asien. Die Verlagerung einfacher Arbeitsplätze zieht zwangsweise, aufgrund der vor Ort erforderlichen Rahmenbedingungen, die für das Funktionieren eines Produktionswerkes notwendig sind, auch Tätigkeiten mit anspruchsvolleren Anforderungsprofilen nach. Dies können beispielsweise Tätigkeiten produktionsnaher Dienstleitungen, aber auch aus Planung, Engineering, Entwicklung und Forschung sein, die vor Ort, beispielsweise für die permanente Optimierung der Produktionsprozesse und der Produkte, unabdingbar sind.
In der Gewissheit, dass es nicht nur bei der Verlagerung von „einfachen“ Tätigkeiten bleibt, muss sich ein Arbeitgeberverband frühzeitig mit dieser Situation kritisch auseinandersetzen. So initiierte der Geschäftsbereich Arbeitspolitik des Verbandes der Metall- und Elektroindustrie Baden-Württemberg e.V. im Jahr 2003 einen Expertenkreis, bestehend aus Praktikern für Prozess- und Arbeitsorganisation von großen als auch mittleren und kleinen Unternehmen, die nach eingehender Analyse der Situation die erforderlichen Erfolgsparameter für den Erhalt des Produktionsstandortes Deutschland abgeleitet haben. Die zentralen Fragen waren:
Wie muss eine Arbeitspolitik aussehen, die Produktionsarbeitsplätze und produktionsrelevante Dienstleistungen in Deutschland sichert?
Welche arbeitspolitischen Rahmenbedingungen müssen geschaffen werden, um die Beschäftigungs- und Leistungsfähigkeit der Mitarbeiter langfristig zu erhalten?
Gibt es langfristig Chancen für „einfache Arbeit“ oder „einfache Produkte“ in Deutschland?
Im Rahmen einer Bestandsaufnahme in den Jahren 2003 bis 2006 kamen die Experten zu folgenden Feststellungen:
1. Feststellung: | Ohne Produktionsarbeit gibt es in Deutschland keine Wohlstandsbasis |
Ohne „einfache“ Produktionsarbeitsplätze gibt es die für Deutschland typischen produktionsnahen Arbeitsplätze in Instandhaltung, Werkzeugbau, IE etc. für Facharbeiter und Ingenieure ebenfalls nicht. Ein Großteil der hochproduktiven Dienstleistungen muss „industrienah“ stattfinden. Die Konstruktion, Planung und Entwicklung sowie andere administrative Bereiche folgen auf Dauer der Produktion. Der Kunde aber auch die Politik erwartet marktnahe Produktion, Service und Entwicklung. Die Herstellung einfacher Produkte ist in Deutschland zunehmend nicht mehr wettbewerbsfähig.
2. Feststellung: | Das Produktivitätsniveau in Deutschland ist zur Sicherung der Arbeitsplätze nicht ausreichend. |
Gemessen an den Arbeitskosten ist die Produktivität in Deutschland zu gering. Die Lohnstückkosten gehören zu den höchsten der Welt. Standortentscheidungen für Produktion fallen zunehmend an Hand der Kenngrößen Produktivität und Kosten sowie der Marktnähe. Selbst ausgereifte Serienprodukte erreichen am Standort Deutschland oft nicht das erforderliche Produktivitätsniveau um die Wettbewerbsfähigkeit zu gewährleisten. Innovationen sind der Garant für den Erhalt des Standortes. Werden Innovationspotenziale in der Zukunft nicht stärker genutzt, ist unser Wohlstandsniveau auf die Dauer nicht zu erhalten. Oft erhalten nur noch die Namen der Weltmarken den Standort. Der Standort Deutschland kann zunehmend nur noch durch Mischkalkulationen (Inland/Ausland) gehalten werden.
3. Feststellung: | Nicht einzelne Arbeitsplätze konkurrieren, sondern Prozessketten und –netzwerke. |
Kein Einzelarbeitsplatz in Deutschland ist international konkurrenzfähig. Nur das Netzwerk der Prozesse, verbunden mit ihrer Infrastruktur, kann in Produktivitätsvergleichen bestehen. Dazu kommt ein regional unterschiedliches Angebot an Arbeitskräften. Der hohe Qualifikationsstand in Deutschland ist langfristig keine Standortgarantie, insbesondere in den akademischen Tätigkeiten. Globale Unternehmensstrukturen und beispielsweise virtuelle Arbeitsteams erfordern eine hohe Flexibilität und Mobilität bei den Beschäftigten.
Die vergleichsweise starke industrielle Position in Baden-Württemberg beruht auf der großen Anzahl industrieller „Cluster“ mit einer Vielzahl von Spezialzulieferern und Kooperationsbeziehungen1. Dieses Netzwerk der Wettbewerbsfähigkeit unterliegt aber auch der Gefahr, bei einzelnen Totalausfällen (z.B. Verlagerung eines kompletten Werks) zu zerbrechen. In der deutschen Metall- und Elektroindustrie gingen im ersten Halbjahr 2005 35.000 Arbeitsplätze verloren2. In erheblichem Umfang wurden Produktionsbereiche oder Betriebe ins Ausland verlagert, ohne dass im Inland in adäquatem Umfang neue entstanden. Erfreulicherweise setzt sich dies auf Grund des stärkeren Wachstums nicht fort. Dünnt das Netzwerk aus, sinkt seine Belastbarkeit.
5.2. Die Thesen
In der Folge wurden nun in den Expertenrunden Thesen abgeleitet und formuliert, welche auf den Ergebnissen der Bestandsaufnahme 2006...