ZWEITER RAUM
Ich rannte auf dunklen Wegen. Ich kannte kein Licht, ich kannte keinen Klang und auch kein Empfinden. Dies ist die Passage zum Erwachen entlang des Weges der Mysterien.
Eines Tages, eines Tages wachst du auf und weißt was dir fehlt. Vorher konntest du dir noch nicht einmal vorstellen, dass dir etwas fehlen könnte, aber jetzt weißt du es zutiefst und mit vollkommener Sicherheit: ein Sinn. Ich rannte also auf dunklen Wegen.
Der Geist jagte im Traum Räumen hinterher, die weiter als ein Kontinent waren – Vorahnungen, Befürchtungen, Darstellungen von Geschmack und Dingen, die seit viele Leben vergessen sind. Suchte ich Freude? Die Glückseligkeit dessen, der sich immer und ewig jung glaubt? Die Allmächtigkeit, die Kraft, die in einem nur entsteht, wenn es eine Niederlage gab?
Ich spazierte in meiner Zelle. Kannte dabei jeden Stein, jeden Schimmel, jeden Schatten zwischen den Steinen. Ich war nur lebendig, weil ich es dachte. Und dieser kalte, massive, unergründbare, dort Richtung Himmel hohe Käfig verhöhnt mich, weil ich nicht fliegen kann.
Ich habe keine Federn, fürchte den Himmel und streife auf der Erde: Dies ist der erste Raum, dem meine Spezies begegnet. Nun sammle ich Bruchstücke aus meinen Träumen. Ich erinnere das Wasser und auch den Durst, Regen, den Schlamm vermischt mit meinen Exkrementen hier auf dem Boden des Käfigs.
Territorium: Ich verteidige es, jegliche eindringende Kreatur wird sofort verjagt oder unterdrückt.
Auch die Grashalme. Außer einen. Aber das ist ein besonderer Halm: Er kann tanzen, auch wenn der Wind nicht da ist. Er fasziniert mich. Warum fasziniert er mich? Er ist anders. Anders als seine Spezies. Wie in jenem Traum von gestern...
Gestern? Wie gestern von heute und von dem gleichen morgen unterscheiden?
Hier gibt es weder Tag noch Nacht, bloß ein zufälliges Mildern des grauen Lichtes, das auf meine Welt niederscheint.
Ich sehe auch Lichter dort oben. Aber ich kann sie nicht unterscheiden, verstehe nicht, ob es weit entfernte Fenster eines Hochhauses sind oder Sterne oder Lampen, die in dem Gewölbe eines Tunnels scheinen.
Ehrlich gesagt sage ich „hohe“ Lichter, aber ich weiß von mir selbst noch nicht einmal, ob ich ganz klein oder groß bin. Ich habe kein Maß der Dinge.
Dennoch kann ich schreiben, auch wenn ich nicht verstehe wie. Ich kann lesen, das spüre ich, aber ich habe hier nichts, das gelesen werden könnte. Ich habe einen Körper, den ich nicht genau definieren kann. Ich weiß, dass ich Dinge weiß, für die ich keinen Beweis habe. Ich laufe und weiß wie, erinnere mich aber nicht wann oder wer mir das beibrachte.
Ich kann sprechen, glaube ich – Aber das tue ich mit mir selbst in meinem Geist. Wie weiß ich diese Dinge? Wie weiß ich, dass ich weiß? Ich habe mich dabei wiedergefunden in diesem Ich zu leben: der Käfig, die hohen Gitterstäbe, die meine Welt definieren.
Wenn ich geradeaus gehe, weiß ich nicht wie, aber nach wenigen Schritten befinde ich mich, zumindest glaube ich das, wieder am Ausgangspunkt. Aber immer dieser vermaledeiten Stäbe vor mir.
Ich habe keinen Namen, aber kenne die Worte, die ich benutze und weiß von Dingen, die ich nicht sehen kann. Ich weiß, dass die Welt existiert, spüre, dass es die Kontinente gibt und habe ein ausreichendes Bild von ihnen vor Augen. Ich kenne sogar die Namen von viele Orten wie z.B. Sizilien, Mexiko oder Australien. Es sind Namen von Orten, die ich nicht kenne.
Genau genommen weiß ich diese Dinge und erinnere mich nicht daran jemals etwas gelesen zu haben. Aber ich weiß, dass ich lesen kann, falls ich die Gelegenheit dazu haben sollte. Dennoch ist der Kontrast in mir groß: Ich bin noch nie aus diesem Ort herausgekommen. Und hinter den Stäben sehe ich bloß diesen unendlichen grauen Nebel. Aber wer bin ich?
Ich habe sicherlich einen Namen, aber ich erinnere mich an keinen Namen für mich. Amnesie?
Ich weiß aber viele Namen: Maria, Antonio, Adam, Latinor, Hera. Ich erinnere, kann aber nicht greifen. In meinem Geist ist alles solange klar bis ich versuche es zu fassen zu kriegen: In dem Moment wird Nebel daraus, der sich im Nebel verliert, bereit ein wenig weiter – dort wo ich es nicht zu fassen versuche – wieder aufzutauchen.
Trotz allem sind diese Dinge nur merkwürdig, wenn ich darüber nachdenke. Sonst finde ich sie normal.
Sie entkommen mir, aber ich suche sie in ihren Einzelheiten, als wäre es für mich sehr wichtig ihre Beschaffenheit herauszufinden.
Was für merkwürdige Sätze ich hier komponiere! Ist es der Hunger, der Durst, die Verrücktheit? Ich habe an Essen gedacht und das ist dabei herausgekommen und erschienen: Eine dampfende Suppe, gekochtes Gemüse, Fleisch oder Fisch, Obst. Es verändert sich jedes Mal, wenn es hier in diesem Käfig auftaucht.
Aber warum halten sie mich hier? Wenn ich das bloß wüsste! Habe ich bestimmte Gesetze gebrochen? Habe ich etwas Schlimmes getan? Ich erinnere mich nicht, aber denke wirklich, dass nicht. Auch wenn mir die Dinge entwischen, wenn ich sie direkt anschaue, antwortet mir hier in meinem Geist eine leise Empfindung.
Aber was für eine Art Bewusstheit ist die meine?
Ich bin nackt und glaube nicht, dass ich jemals Kleider getragen habe oder welche gesehen habe, auch wenn ich genau weiß was sie sind. Ich habe die Vorstellung von Knöpfen, von Stoff und von Farben und dennoch erinnere ich sie nicht, weil ich weiß, dass ich nie welche gesehen habe. Ich trage in mir die Archetypen der Formen: Ich weiß was Dinge sind, die ich nicht direkt kenne.
Gut: auch Brot. Ich habe das Brot vergessen – Es ist immer frisch. Und mir ist nie kalt. Ich schlafe auch nie. Ich weiß was Schlaf ist, Traum, ich weiß, dass man sich auf ein Bett legen muss, die Decke hochzieht und die Augen schließt. Dann kommt der Schlaf, das Vergessen seiner selbst, die Vergessenheit...
Ich habe nie geschlafen, wirklich nie. Ich empfinde dieses Bedürfnis nicht und es würde mir auch nicht gelingen. Ich weiß es und aus. Ich weiß auch, dass viele der Dinge, die ich tue oder nicht tue, in Bezug auf das, was ich kenne und die Ideen, die ich bewahre, absurd sind: Ich weiß, dass es auf der Welt keinen Käfig für Lebendige gibt wie den meinen. Noch erscheint Essen einfach so.
Und auch nicht das Grau oder das Gras in einem einzigen Halm, das für mich eine sonst nicht zu hörende Melodie tanzt. Aber ich bin auch nicht taub: Ich höre meinen Atem und könnte meine Stimme hören, wenn ich doch nur reden wollte.
Ich lebe also hier, ich weiß nicht warum und nicht wie lange schon.
In einem Limbus – genau, daran erinnert mich diese Situation. Ich weiß dennoch, dass ich lebe, berühre mich und fühle mich so fest wie die Stäbe, wie der Boden unter mit, wie das Essen, das mich ernährt.
Ich weiß noch nicht einmal wer ich bin: Kann ein Name, ein Klang mir eine Identität geben?
Ich kenne die Bedeutung von Dingen, die ich nicht berühre: Ich habe Konzepte, abstrakte Ideen von Dingen, von denen ich weiß, dass sie irgendwo existieren könnten, in einer anderen Welt als der meinen.
Ich besetze sicherlich eine Ebene des Realen, vielleicht eine Echo-Welt in Bezug auf die Realität.
Aber was ist real? Das, was ich denke oder das, was ich mir vorstelle zu denken? Ich weiß zum Beispiel, dass nur der Reiche es sich erlauben kann auf Reichtum zu verzichten. Der Arme hat nichts zu verlieren, oder eher nichts zu tun. Und was bedeutet dieser Gedanke? Absolut nichts.
Ich denke Worte, die Klänge in meinem Geist sind, aber ich weiß nichts anderes.
Ich denke Liebe und weiß nicht was sie ist, welche Bedeutung dieses Wort hat. Ich weiß auch nicht wie ich gemacht bin. Wie kann ich mir dann jemanden mir Ähnlichen, aber des anderen Geschlechts vorstellen? Und warum?
Ich bin verwirrt. Das ist meine Beschaffenheit: Bei der Vorstellung von Inkonsistenz kann mir der Gedanke nicht entkommen. Er ist schon das Material an und für sich und daher für mich zu fassen. Ein Schritt weiter, also.
Es ist niemals Nacht, es ist niemals Tag. Und der Halm, von dem ich weiß, dass er aus Gras ist, tanzt langsam, biegsam, ohne jemals Wind zu spüren, ohne Jahreszeiten, ohne jegliche Zeit.
Und ich bin weder jung noch alt. Ich spaziere in meinem Käfig, meinem Zu Hause und finde mich immer dort wider wo ich losgegangen bin.
Essen. Vielleicht ist viel Zeit vergangen seit meiner letzten Mahlzeit. Ich nehme nicht zu. Meine Körperfunktionen sind aktiv, aber ich weiß nicht wie oft. Und nach einer Weile verschwinden meine Exkremente aus dem Käfig so wie die Teller, von denen ich esse und das Silberbesteck. Woher weiß ich, dass es sich um Silberbesteck handelt?
Ich weiß es, weil ich es so erinnere. Und ihr alle, die ihr so pingelig ob der Dinge seid, die ich kenne oder nicht: Was wisst ihr über euer Leben?
Ich erzählte wie die Teller, und auch meine Exkremente, plötzlich verschwinden: Einen Moment zuvor sind sie da, dann fixiere ich sie und sie sind nicht mehr da.
Wie viel Zeit wird jetzt wohl vergangen sein? Und wie könnte ich das herausfinden? Ich habe keine Uhren. Das Licht verändert sich einem mysteriösen Bild folgend, das ich nicht kenne. Ist die Unterscheidung zwischen dem Wahren und dem Falschen vielleicht nur in meinen Gedanken?
Bin ich dir, mein schweigender Gesprächspartner, der du glaubst außerhalb meines Käfigs zu sein, Spiegel?
Es gibt nie neue Tatsachen, wenn nicht in meinen Gedanken: Gibt es eine dünne, unsichtbare Kette, die ich als Stäbe sehe, vor mir? Ich würde vielleicht gern raus: Ich glaube, dass ich Gefangener...