Kapitel 1
Grundlagen gezielter Wahrnehmung
1.1 Der Ein-druck
Es ist eine interessante Tatsache, daß der Mensch schnell aufeinanderfolgende Reize nicht als eine Folge von Stimuli sondern als ein Gesamtbild wahrnimmt. Dies können Sie testen, indem Sie im Dunkeln mit einer brennenden Zigarette experimentieren: Wenn Sie einen Kreis »zeichnen«, indem Sie die Zigarette langsam bewegen, dann sehen Sie die kreisförmige Bewegung. Führen Sie dieselbe Bewegung jedoch blitzschnell aus, dann nehmen Sie nur noch die Gestalt (den Kreis selbst) wahr. Am leichtesten fällt diese Beobachtung, wenn Sie bei dem Versuch in einen Spiegel sehen.
Dieses Phänomen erklärt sich durch die Tatsache, daß das Gehirn ständig bemüht ist, Erkennbares zu suchen, Ordnung in (scheinbare) Unordnung zu bringen, Unvollständiges zu vervollständigen, etc. Allerdings geschieht dies so schnell, daß wir uns dieser Prozesse nicht bewußt werden. Deswegen haben Sie bei dem Experiment die Gesamtfigur »Kreis« wahrgenommen.
Ebenso ergeht es uns, wenn wir eine Person kennenlernen oder wiedertreffen. Wiewohl sich auch hier blitzschnell eine Fülle von Informations-Einheiten1 aneinanderreihen, erleben wir bewußt nur das Gesamtbild. Wir sprechen davon, daß die Person einen Eindruck hervorruft, nota bene: einen Ein-Druck, wiewohl dieser »eine« Eindruck tatsächlich aus zahllosen aneinandergereihten Teil-Ein-Drücken besteht.
So registrieren wir beim Anblick einer Person z. B. Körperbau, Haltung, Mimik, Gestik nacheinander, empfinden diesen Prozeß jedoch als »gleichzeitig«, weil er so schnell abläuft. Sollte die Person in dem Augenblick gerade sprechen, so würden wir auch den Tonfall, die Sprachmelodie, den Sprachrhythmus, die Lautstärke, etwaige mundartliche Färbungen und vieles mehr in unser Gesamtbild, unseren »einen« Eindruck mithineinnehmen. Ein guter Beobachter vermag noch wesentlich mehr beim »ersten« Blick zu registrieren, z. B. einen Fleck auf der Bekleidung, eine besonders klare Aussprache, daß die Person eine Rasur nötig hätte oder nervös mit dem Feuerzeug spielt und vieles mehr.
Da dieser Gesamteindruck sich nicht aus einem einzigen, sondern aus vielen verschiedenen Teil-Informationen zusammensetzt, erhebt sich die Frage, welcher (Teil-)Eindruck nun »wirklich« der erste war. Manche Autoren gehen davon aus, der aller-erste Eindruck müsse vom Körperbau ausgehen, während andere an diese Stelle die Haltung einer Person setzen. Wieder andere glauben, die Mimik (insbesondere die Augen) wirkten am schnellsten auf einen Beobachter. M. E. ist diese Fragestellung jedoch müßig, eben weil die Aufeinanderfolge so schnell vor sich geht, daß wir sie nicht klar beschreiben können. Das heißt, die Reihenfolge dieser Teil-Eindrücke ist (zumindest noch) nicht exakt feststellbar. Ob Sie nun den Körperbau einer Person eine Nanosekunde vor der Haltung registrierten, oder umgekehrt, halte ich daher für eine akademische Frage.
1.2 Körperbau und Haltung
Eine andere Frage könnte allerdings für die tägliche Praxis wichtig sein, nämlich: Trägt die Wirkung, die der Körperbau einer Person hat, mehr zum Gesamteindruck bei, als die Haltung, oder umgekehrt? Auch hier ist die Diskussion in Fachkreisen noch rege im Gange. Ich persönlich neige zu der Auffassung, daß diejenigen Informationen höheren praktischen Wert besitzen, die sich schneller verändern (bzw. die wir noch am ehesten selbst beeinflussen können). Da dies offensichtlich auf die Haltung zutrifft, werden wir diesen Gedankengang der Körperbau-These vorziehen. Außerdem gilt zu bedenken, daß das »Wissen« um den Körperbau eine Art von Pygmalion-Effekt (s. Einleitung) auf sich selbst bezogen, auslösen kann. So kannte ich z. B. in Amerika einen Mann, den wir Billy S. nennen wollen. Er war ein Anhänger von KRETSCHMERs Theorie über den Zusammenhang von Körperbau und Charakter (51).
Laut dieser Theorie meinte Billy S. nun, daß er fröhlich und gesellig zu sein hatte, da er ein ausgeprägter Pykniker war. In Wirklichkeit aber litt er unter dieser Beschreibung1, die er als Forderung betrachtete. Er hat sie akzeptiert, weil sie seiner Meinung nach »wissenschaftlich« (d. h. für ihn ausschlaggebend) war. Das heißt, Billy litt nicht, weil er ein Pykniker war, sondern weil die KRETSCHMERsche Definition im Widerspruch zu seinem Wesen stand. Da er jedoch glaubte, ein Wissenschaftler wisse mehr über seinen »Typ«, als er selbst je wissen könnte, lebte er in einem ständigen Konflikt, weil es ihm so schwerfiel, das »geforderte« Verhalten auch zu leben.
Es muß darauf verwiesen werden, daß KRETSCHMERs »Definitionen« natürlich keinerlei Forderungen beinhalten. Das Problem entstand erst, weil Billy S. diese Beschreibung als Forderung auffaßte. Damit bewahrheitete sich aber auch derjenige Teil von KRETSCHMERs Typenlehre, der da aussagt, daß Pykniker auch zu Traurigkeit und Stimmungsschwankungen neigten. Inwieweit diese zweite Aussage einen Aspekt eines jeden Pyknikers darstellt oder inwieweit Billy S. ihn auf wies, weil er der ersten Aussage Glauben schenkte, läßt sich schwerlich feststellen.
Jedenfalls ist Billy S. ein gutes Beispiel für das Dilemma eines Menschen, der »sich mit seiner Definition verwechselt«, wie WATTS es nennt (87). Ob diese »Definition« nun durch Forderungen der Erziehung (sei soundso!) oder durch Erwartungen, die wir selbst an uns richten, zustande kommt, das Resultat ist das gleiche: Eine innere Zerrissenheit, mangelnde Harmonie, vage oder stark ausgeprägte Gefühle der Unlust, des Versagens, der Unzufriedenheit, kurz: Konflikte.
1.3 Selbsterkenntnis
Als Billy S. den Kursus belegte, in dem er mit der KRETSCHMERschen Typenlehre konfrontiert wurde, war er übrigens nicht auf der Suche nach mehr Selbsterkenntnis, sondern er suchte mehr Wissen über andere. Dies zeigt, daß man sich Themen der angewandten Menschenkenntnis nicht zuwenden kann, ohne gleichzeitig mehr über sich und seine eigenen Signale zu erfahren. Deswegen halte ich es für besonders wichtig, noch einmal ausdrücklich zu betonen, daß unsere Informationen keine »absoluten Wahrheiten«, bzw. daß selbst Informationen, die Sie selbst für richtig halten, keine Forderungen darstellen. Ein Mensch hat nicht fröhlich zu sein, nur weil er dick ist und weil wir glauben, ein Gesetz entdeckt zu haben, welches Dicksein mit Fröhlichkeit korreliert!
Trotzdem gehen wir davon aus, daß unsere Informationen (vorläufig) »richtig« sind. Aber, wie HUMEs berühmtes Induktionsproblem so wunderbar aufzeigt: Wir können nie davon ausgehen, daß irgend etwas jemals wirklich sicher »bewiesen« werden kann. Was für den Sonnenaufgang gilt, gilt natürlich auch für körpersprachliche Signale (s. Einleitung).
1.4 Gesetze der Körpersprache
Nehmen wir einmal an, Sie hätten durch Erfahrungen bzw. theoretische Abhandlungen gelernt: »Zusammengepreßte Lippen bedeuten, daß die Person (im Augenblick) nichts aus der Umwelt herein- bzw. nichts in die Umwelt hinauslassen möchte.«
Tausende von Beobachtungen in der Vergangenheit, in denen ein verpreßter Mund vielleicht wirklich ein Sich-Abschließen-gegen-die-Umwelt bedeutete, beweisen jedoch nichts über die Person, deren verpreßter Mund Ihnen morgen oder übermorgen auffallen wird!
Die Wichtigkeit dieses Gedankengangs kann nicht klar genug herausgestellt werden (s. Einleitung). Denn die nach HUME unzulässige Schlußfolgerung eben dieser Art führte z. B. dazu, daß ARISTOTELES davon ausging, die klügsten Menschen hätten die kleinsten Köpfe, während vor ca. 200 Jahren GALL das Gegenteil behauptete. Hierzu sagt ZEDDIES (94):
»Aus der GALLschen Zeit stammt… die irrige, noch heute gehörte Meinung …, daß der ›Geist‹, d.h. hier soviel wie Intelligenz, sich in der hohen Stirn auspräge. Das Genie muß sich durch eine besonders hohe Stirn von den ungeistigen Menschen unterscheiden, die ›hohe Stirn‹ gilt danach geradezu als untrügliches Zeichen ›hohen Geistes‹ … Der Arzt H. KRUKENBERG hat einmal darauf hingewiesen, wie die Lehre von GALL und die Auffassung seiner Zeit von der Bedeutung des sich in der … (Schädel)form ausprägenden ›Geistigen‹ sogar die Künstler beeinflußt hat. Während GOETHE, wie man auf Silhouetten und besonders auf dem 1777/78 erschienenen Bild noch deutlich feststellen kann, eine zurückliegende, fliehende Stirn hatte, haben ganz besonders wohlwollende Portraitisten GOETHE in seinen letzten Lebensjahren mit einer so mächtigen Stirn begabt, daß sein Kopf geradezu als der ›Typus eines Wasserkopfes‹ gelten könnte.« (S. 17/18)
Nun erhebt sich vielleicht die Frage danach, wie sinnvoll Theorien zur angewandten Menschenkenntnis (hier: zur Körpersprache) angesichts der vorangegangenen Diskussion denn nun »wirklich« seien. Antwort: Zwar ist die Wahrscheinlichkeit, daß ein verpreßter Mund auch morgen dieselbe Information des Sich-Abschließens beinhaltet sehr hoch, aber ganz »sicher« kann man nie sein. Deswegen ist äußerste Vorsicht geboten, wenn es darum geht, gewisse Regelmäßigkeiten der körpersprachlichen Ausdrucksformen zu »Gesetzen« machen zu wollen. Wie MAGEE in seiner wunderbaren Einführung zu POPPERS Denken (58) feststellt, ist das Wort »Gesetz« zweideutig (und zwar in fast allen Sprachen, mit denen ich mich bisher beschäftigt habe!)....