1. Lebensübergänge im Spiegel der Natur verstehen
Wenn das Alte nicht mehr und das Neue noch nicht trägt
Alle Lebensübergänge gehen mit grundlegenden Veränderungen einher, und zwar sowohl seelisch, geistig und körperlich als auch materiell, räumlich und sozial. Sie fordern, Abschied von einer alten Identität zu nehmen, um in eine neue hineinzuwachsen. Diese tiefe Wandlung ist wie Sterben und Neu-geboren-Werden und konfrontiert uns mit Auflösung, Unsicherheit, Nichtwissen und einer vielleicht noch fragilen Zugehörigkeit zum eigenen Leben. Es sind krisenhafte Zeiten, in denen unser Gleichgewicht empfindlich aus der Balance geraten kann.
Den Raum des Vertrauten verlassen
Bevor wir in einen Übergang geraten, fühlen wir uns sicher und vertraut in dem, was wir sind und wie wir leben. Das Leben scheint geordnet, vieles ist selbstverständlich. Rollen, Werte, Identitäten und selbst ungeliebte Beziehungsmuster sind verlässlich. Wir haben uns eingerichtet im Leben, haben unsere Netze geknüpft, in denen wir uns sicher bewegen, und sind enge Bindungen eingegangen. Tief verankerte Zugehörigkeiten tragen uns.
Aber da alles Leben dem universellen Grundmuster des Wandels folgt, steht irgendwann Veränderung an. Jedes Lebewesen und auch jede Lebensphase durchläuft die gleichen Zyklen des Wandels von Entstehen, Wachsen, Blühen, Reifen, Zerfallen und Sterben. Lebensthemen gehen zu Ende, Freundschaften tragen nicht mehr in der gewohnten Weise.
Einige Übergänge im Leben können wir freiwillig und selbstbestimmt entscheiden, wie Berufswechsel oder Hochzeit. Viele ereignen sich jedoch ohne unser Zutun, ob wir wollen oder nicht, weil sie unweigerlich und unaufschiebbar zum Leben dazugehören. Sie werden durch die natürlichen Entwicklungsprozesse und lebenszyklischen Ereignisse wie Erwachsenwerden, Elternschaft und Altern angestoßen. Sie können auch durch einschneidende Lebensereignisse plötzlich ausgelöst werden, etwa durch:
- Verlusterlebnisse: Trennung, Krankheit, Tod, Arbeitsplatzverlust, Unfall,
- berufliche Veränderungen: Arbeitsplatzwechsel, Rollenwechsel, Abschluss von Ausbildungen, Selbstständigkeit, neue Kolleginnen und Kollegen, Burnout,
- bei Kindern die Geburt von Geschwistern, Trennung der Eltern, Schulwechsel,
- traumatische Erlebnisse, Retraumatisierung, Konflikte (innere, familiäre, soziale, berufliche, spirituelle, finanzielle u. a.)
- Umzüge, Enttäuschungen durch nahestehende Menschen,
- deutliche Veränderungen im sozialen Status wie Eintritt in und Austritt aus Organisationen, Gründung einer Familie.
Diese Übergänge werden zum Teil als gravierender empfunden als die lebenszyklischen Übergänge wie Heirat oder Elternschaft. Einschneidend ist ein Übergang für Menschen meist dann, wenn Vertrautes stark in Frage gestellt wird. Es ist ein großer Unterschied für die Bewältigung von Lebensübergängen, ob wir eine Veränderung und ihren Zeitpunkt selbst wählen können, weil wir uns innerseelisch reif dafür fühlen, oder ob sie von außen konfrontierend in unser Leben einbricht. Bei Paaren kommt es immer wieder vor, dass bei dem einen der innere Loslösungsprozess zum Zeitpunkt der Trennung bereits abgeschlossen ist, während die andere völlig davon überrascht wird. Selbst wenn wir Entscheidungen selbst treffen konnten, hängt der gelungene Übergang davon ab, wie wir auch in Zukunft Ja zu der vergangenen Entscheidung sagen.
Diese äußeren Situationen wecken uns auf, die alte Identität neu zu überdenken und uns neu zu orientieren. Vieles, was bisher gelebt wurde, wird fragwürdig und löst sich in seiner bisherigen Selbstverständlichkeit auf. Die Frage taucht auf, was im Leben wirklich wesentlich ist und was trägt.
Auch wenn erwünschte Übergänge unerfüllt bleiben oder anders verlaufen als ersehnt – etwa sich auszusprechen, bevor eine wichtige Person stirbt, mit der eigenen Berufung Geld verdienen zu können oder den geliebten Menschen zu heiraten – erfordert dies Anpassungsprozesse und die Neufindung eigener Wertesysteme.
Nicht immer sind es Erlebnisse aus der äußeren Welt, die einen Wandlungsprozess einleiten. Er kann auch davon losgelöst von innen heraus geschehen. Erleben wir zu viel Stillstand und eingefahrene Routine, erfüllen wir nur noch Pflichten, schalten wir seelisch ab durch zu viel Fernseh- oder Internetkonsum, kann eine heilsame Erschütterung in unser Leben treten, um seelischer Entwicklung Raum zu geben. Dann zieht es uns förmlich in die Wandlung hinein. Unsere Identität ruft nach innerem Wachsen und äußerer Veränderung und möchte sich erweitern. Denn im Kern sehnen wir uns nach unserer eigenen Wahrhaftigkeit, danach, wir selbst zu sein und in der Fülle der eigenen Kraft zu leben. Wir fühlen uns von der größeren Dimension unseres Seins »gerufen«.
Im Übergang kann es uns zu etwas Neuen hinziehen oder von etwas Altem wegdrängen. Vielleicht möchten wir eigentlich lieber im alten Zustand verweilen, wenn dies nur möglich wäre. Wir können mit dem Lebensstrom mitfließen oder uns gegen ihn wehren, fühlen uns gespannt auf das Neue oder verloren. Manchmal wollen sich unsere Wünsche einfach nicht verwirklichen, so sehr wir uns anstrengen mögen. Und auch das fordert ein großes Loslassen von uns, zu dem wir nicht immer bereit sind.
Mitten im Übergang
In Lebensübergängen stellt sich uns nicht nur die Aufgabe, Gewohntes, Vertrautes, uns lieb Gewordenes loszulassen, sondern auch den Menschen, der wir waren, zu verabschieden. Die Identität wandelt sich, wir verlieren sogar Halt in dem, was wir geworden sind. Dadurch erhält die Sinnfrage eine zentrale Bedeutung: Warum bin ich hier auf der Welt? Wofür lohnt es sich, jeden Morgen aufzustehen? Wie soll ich meine Lebenskraft einsetzen?
Beziehungen, Berufung, Lebensumfeld, selbstverständliches Sein und Selbstwirksamkeit werden neu überprüft. Entscheidungen und Ablösung von Menschen stehen an. Es kommt zum Abbruch eines sicheren Lebensentwurfes. Die innere Gewissheit, zum Leben dazuzugehören und darin einen sicheren Platz zu haben, wird erschüttert. Gefühle von Verlust, Angst, Zweifel, Wut, Hin-und-Her-Gerissensein, aber auch von Zuversicht und Neugier auf das Neue katapultieren das Ich immer tiefer in die Frage, wo der eigene Platz im Leben ist, was sich überholt hat und was neu gelebt werden will. Eine neue Art von Selbstverständnis, Eigenständigkeit, die ureigene Lebensaufgabe und Entfaltung hin zum Kern der eigentlichen Persönlichkeit werden zu existentiellen Themen.
In diesem Prozess werden Schichten unseres Seins abgeblättert und wir erleben eine tiefe Sinn- und Bedeutungsverschiebung. Wir fühlen uns in einer Art Niemandsland, einem unbehausten Provisorium, bei dem wir uns weder zum Alten noch zum Neuen zugehörig fühlen. Wir sind es kaum gewöhnt, einen solchen Zustand des Dazwischen auszuhalten im Vertrauen darauf, dass sich hinter all den vielen Schichten ein unverletzter Kern zeigen kann.
In diesem Zwischenraum stirbt alles Müssen, Sollen, und die Hüllen um die eigene Essenz fallen ab. Das, was wir für unser Ich gehalten haben, wird langsam aufgelöst. Dahinter kann die Angst verborgen sein, wenn wir das alte Ich opfern, das sich bisher so souverän in der Gesellschaft bewegt hat, dass dann nichts mehr übrig bleibt. Dieses Absterben des alten Ichs, die Trauer, dass das eigene Leben vielleicht nicht entsprechend den eigenen Potenzialen entfaltet wurde, ist Teil der eigenen Individuation. Innere Leere, das Gefühl von Wertlosigkeit, Entfremdung und Entwurzelung verweisen auf das Bedürfnis der Seele nach Ganzwerdung, Heimat und Zugehörigkeit.
Die Unsicherheit darüber, ob ein Übergang gelingt, kann uns an den alten Zustand binden. Altes und Neues ringen miteinander um einen erfüllenden Lebensentwurf. Fallen wir zurück hinter den Impuls der Seele, uns weiterzuentwickeln, enttäuschen wir das, was sich in uns entfalten will.
Der Übergang in eine neue Lebensphase fällt oft dann schwer, wenn scheinbar Unversöhnbares unsere Lebensenergie bindet. Wie gut wir vom Alten abgelöst sind oder wie sehr wir noch am Alten hängen, hat Auswirkungen auf unsere innere Stabilität.
Entscheidend in der Schwellenphase ist dabei, welche Erfahrungen wir sammeln konnten, mit kritischen Veränderungen selbstwirksam umzugehen, ob wir uns mit unseren Kraftquellen verbinden und auf genügend innere, finanzielle und soziale Ressourcen zurückgreifen können. Wenn wir uns getragen fühlen von guten Freundinnen und Freunden, sind Verluste eher zu verschmerzen. Auch unsere Verletzlichkeit und Sensibilität spielen eine Rolle. Können wir flexibel mit neuen Situationen umgehen, uns offen auf Neues einstellen und Wagnisse mutig eingehen, dann wird uns der Übergang leichter fallen.
Um zu neuen Ufern aufzubrechen, brauchen wir oft eine Erschütterung. Ist sie nicht groß genug, werden neue äußere Einflüsse vom alten System unterdrückt. Ist sie groß genug, werden in dem entstehenden Lebensübergang große Potentiale an Kreativität bereitgestellt, damit sich unser seelisches System an die veränderte Situation anpassen kann. In diesem Sinne müssen wir aus dem bisher Bewährten herausgeschleudert werden, damit kreative Prozesse das Neue initiieren können. Im Kippen und Schwanken zwischen Altem und Neuem wird dabei so lange ein Mittelpunkt umkreist, dem wir uns allmählich in einer Spiralbewegung nähern, bis wir das eigene Zentrum erreichen, das zum Ort schöpferischer Wandlung wird.2 Reifungsprozesse zur Neuwerdung durchlaufen – ebenso wie auch die seelische Entwicklung – unterschiedliche...