Diabetes – und jetzt? Eine Einführung
Den Diabetes mellitus kannte man schon im Altertum. Selbst-verständlich ist heute das Wissen über die Krankheit unendlich viel grösser und die medizinischen Behandlungsmöglichkeiten sind sehr gut. Das Wichtigste ist jedoch die Erkenntnis, dass man im Fall des Typ-2-Diabetes der Krankheit nicht hilflos aus-geliefert ist, sondern ihr aktiv entgegenwirken kann.
Diabetikerin, Diabetiker – was bedeutet das?
Sie hatte es geahnt, die 53-jährige Frau O., dass etwas nicht in Ordnung war. Aber auf die Diagnose eines Diabetes mellitus war sie überhaupt nicht vorbereitet. Sie verlässt die Arztpraxis dank ihrer sehr kompetenten Hausärztin dennoch ziemlich gefasst.
Frau O. fühlte sich seit einigen Wochen vermehrt müde und unerklärlich lustlos. Ihr früher guter Schlaf wurde regelmässig unterbrochen, weil sie dringend auf die Toilette musste. Erfreulich war immerhin, dass sie in dieser Zeit drei Kilo ihres seit Langem deutlichen Übergewichts losgeworden war. Allerdings gab auch dies nicht Anlass zu ungetrübter Freude. Sie hatte nämlich gar nicht versucht, abzunehmen, und wusste, dass ungewollter Gewichtsverlust nicht immer Gutes verheisst.
Diagnose und erste Massnahmen
Frau O. sucht ihre Hausärztin auf und schildert ihr die Probleme. Der Ärztin ist schnell klar, in welche Richtung sie abklären muss, zumal sie auch Frau O.s betagten Vater betreut, der seit ein paar Jahren immer wieder leicht erhöhte Blutzuckerwerte hat.
Das Resultat der Blutzuckermessung bestätigt ihren Verdacht: Der Wert liegt mit 14,7 mmol/l1 deutlich zu hoch. Die Diagnose eines Diabetes mellitus ist damit bereits gesichert. Auch wenn die Hausärztin die richtigen Worte findet, ist Frau O., die von den leicht erhöhten Blutzuckerwerten ihres Vaters nichts weiss, zunächst schockiert. Ihre ersten Gedanken sind «Insulin spritzen» und «eine Diät befolgen».
Die Ärztin sieht das allerdings nicht so dramatisch. Sie bleibt völlig ruhig und stellt Frau O. sogar in Aussicht, anfänglich nicht einmal Tabletten nehmen zu müssen.
Sie empfiehlt ihrer Patientin als Erstes, ab sofort gänzlich auf Süssgetränke zu verzichten und die Menge der Stärkebeilagen (Kohlenhydrate) zu den Mahlzeiten zu halbieren. Zudem ermuntert sie Frau O., so regelmässig wie möglich etwa 30 Minuten pro Tag zu Fuss unterwegs zu sein.
Bevor die für Frau O. leider denkwürdige Arztkonsultation abgeschlossen wird, vereinbaren die beiden Frauen noch einen Aktionsplan für die nähere Zukunft. Die Ärztin betont, dass dies alles keine Notfallmassnahmen seien:
▪Nochmalige Konsultation zur Durchführung einer körperlichen Untersuchung. Dabei möchte die Ärztin auch die Füsse kontrollieren.
▪Anmeldung zur Ernährungsberatung. Es sollen vorerst die Prinzipien einer diabetesgerechten Ernährung besprochen werden. Frau O. wird auch konkrete Menüpläne bekommen. Später soll das Augenmerk dann auf eine leicht kalorienreduzierte Kost gelegt werden, damit sie das Gewicht langsam reduzieren kann.
▪Anmeldung bei einer Diabetesfachfrau zur Instruktion der Blutzuckerselbstmessung. Die Hausärztin möchte Frau O. von Anfang an aktiv in die Therapiekontrolle mit einbinden. Es sind keine Routinemessungen vorgesehen.
▪Frau O. soll sich überlegen, welche Form von regelmässiger körperlicher Aktivität ihr Spass machen könnte. Wahrscheinlich wird sie als Erstes ein Probetraining bei der Nordic-Walking-Gruppe besuchen, die seit längerer Zeit im Dorf aktiv ist.
▪Die Hausärztin sieht vor, nach Normalisierung der Blutzuckerwerte weitere Laborkontrollen durchzuführen. Sie möchte vor allem Bescheid wissen über die Nierenfunktion, die Leberwerte und die Blutfette. Die Resultate sind aber aussagekräftiger, wenn sie nicht jetzt, bei noch unbehandeltem, erhöhtem Blutzucker, gemessen werden.
▪Vereinbaren eines Termins mit dem Augenarzt zur Kontrolle des Augenhintergrundes, um sicher zu sein, dass der bisher nicht bekannte Diabetes keine Schäden angerichtet hat
Frau O. verlässt die Praxis ihrer Hausärztin nicht glücklich, aber ziemlich angstfrei. Sie weiss, dass die richtigen Massnahmen zur Kontrolle des Diabetes eingeleitet worden sind, und ist froh, dass nichts notfallmässig geschehen muss. Entsprechend kann sie sich auch Zeit nehmen, den Diabetes Schritt für Schritt kennenzulernen.
Was ist Diabetes mellitus?
Der Begriff ist aus einem altgriechischen (diabainein = hindurchfliessen) und einem lateinischen Wort (mellitus = zuckersüss) zusammengesetzt und bedeutet «zuckersüsser Durchfluss». Schon im Altertum stellte man nämlich fest, dass es eine Krankheit gibt, bei der Betroffene einen süssen Urin haben. Weil der Diabetes mellitus heute extrem häufig ist, nimmt man es mit der korrekten Bezeichnung oft nicht sehr genau. Man begnügt sich, über den «Diabetes» zu sprechen. Das bei uns früher verwendete Wort «Zuckerkrankheit» ist hingegen nicht mehr gebräuchlich.
Als Diabetes mellitus wird jeder Zustand bezeichnet, bei dem der Zuckerspiegel (Glukose) im Blut über ein bestimmtes Niveau ansteigt. Dafür verantwortlich ist das Insulin, ein in den Betazellen der Bauchspeicheldrüse (Pankreas) produziertes Hormon. Damit ein Diabetes entstehen kann, muss ein Mangel an Insulin auftreten oder eine Situation, in der Insulin vermindert wirkt, eine Insulinresistenz (mehr dazu ab Seite 29).
Insulin wirkt wie ein Schlüssel. Seine wichtigste Aufgabe ist es, die Türen der Zellen zu öffnen, damit der in den Blutgefässen transportierte Zucker dort eintreten und als Treibstoff genutzt werden kann.
INFO Der Diabetes mellitus ist immer das Resultat eines Insulinmangels oder einer Insulinresistenz. Beide können auch gleichzeitig vorhanden sein.
PRÄDIABETES ODER DIABETES?
Von einem erhöhten Glukosegehalt des Blutes wird definitionsgemäss gesprochen, wenn der Zuckerspiegel nüchtern über 5,6 mmol/l liegt. Die Diagnose Diabetes wird gestellt bei einem Blutzucker nüchtern über 7,0 mmol/l. Bei Werten zwischen 5,6 mmol/l und 7,0 mmol/l spricht man von einem Prädiabetes oder von einer gestörten Glukosetoleranz. Ist der Blutzucker zwei Stunden nach einer Mahlzeit auf einen Wert von über 11,1 mmol/l erhöht, liegt ebenfalls ein Diabetes mellitus vor.
Ein Diabetes kann auch diagnostiziert werden durch die Messung der durchschnittlichen Glukosekonzentration während der vergangenen zwei bis drei Monate. Liegt der Wert des HbA1c oder Glykohämoglobins (siehe Seite 65) bei 6,5 % oder höher, ist die Diagnose gesichert. Bei Werten zwischen 5,7 und 6,4 % braucht es weitere Abklärungen.
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Diabetes ist weltweit auf dem Vormarsch
Es mag ein geringer Trost sein, aber mit Ihrem Diabetes sind Sie nicht allein. Es gibt heute weltweit über 415 Millionen Menschen mit Diabetes. Bis 2030 sollen es nach Schätzungen der Internationalen Diabetesföderation (IDF) gar über 550 Millionen Betroffene sein. Diese rasante Zunahme hat viel zu tun mit unserer Lebensweise: Überall dort, wo es zunehmend Autos, Fernseher, Fast Food und Süssgetränke gibt, erkranken Menschen häufiger an Diabetes.
Um einem störenden Missverständnis bereits jetzt vorzubeugen: Selbstverständlich braucht es auch und in erster Linie eine genetische Veranlagung, um Diabetiker, Diabetikerin zu werden. Es trifft nicht einfach diejenigen mit einem besonders gesundheitsschädigenden Lebensstil. Zumindest in vielen zivilisierten Ländern ist der grösste Teil der Bevölkerung körperlich weniger aktiv als frühere Generationen und das Angebot an – oft industriell verarbeiteten – Lebensmitteln ist praktisch unbegrenzt. Ohne entsprechende Erbanlagen bleiben trotzdem viele Menschen von Stoffwechselstörungen verschont.
INFO Am meisten Diabetiker gibt es weltweit mit über 100 Millionen in China, in Indien sind es fast 70 Millionen, in den USA fast 30 Millionen und in Russland und Brasilien je rund 13 bis 14 Millionen. Insgesamt sind heute über 8 % der Weltbevölkerung von Diabetes betroffen. Prozentual gibt es erhebliche Unterschiede. Diese sind genetisch bedingt. Speziell gefährdet sind Menschen im Nahen Osten, in China, Indien und Sri Lanka. Sie haben bei gleicher Grösse und gleichem Gewicht einen höheren Anteil an Körperfett als zum Beispiel Europäer, was den Typ-2-Diabetes begünstigt.
Absolute «Weltmeister» bezüglich Diabeteshäufigkeit sind Urvölker (In-digene), etwa die Pima-Indianer in Arizona, die Nauruer in der Südsee oder die Aborigines in Australien. 50 % der...