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Soziale Kompensation mit Hinblick auf Chancengerechtigkeit im Vergleich zwischen John Rawls 'Theorie der Gerechtigkeit' und Amartya Sens 'Verwirklichungschancen-Ansatz'

AutorMarkus Fischer
VerlagGRIN Verlag
Erscheinungsjahr2008
Seitenanzahl69 Seiten
ISBN9783638023788
FormatPDF/ePUB
Kopierschutzkein Kopierschutz/DRM
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis23,99 EUR
Bachelorarbeit aus dem Jahr 2007 im Fachbereich Politik - Politische Theorie und Ideengeschichte, Note: 2,0, Ernst-Moritz-Arndt-Universität Greifswald, 34 Quellen im Literaturverzeichnis, Sprache: Deutsch, Abstract: Für die moderne Gesellschaft kann es nicht ausreichend sein, den formalen Schein zu wahren, es ginge gerecht zu, wenn dies bedeutet, so viele Güter und Mittel wie möglich nach unten zu verteilen. Es ist im Sinne der Chancengerechtigkeit nicht richtig, dass sich jeder mit seinem Leben zufrieden geben kann, weil es ihm durch Umverteilungen besser geht als ohne, wenn er niemals die Chance hatte seine Ziele verfolgen zu dürfen. Wenn die Chancengerechtigkeit einen positiven Begriff von Freiheit benutzt, dann vor allem aus dem Grund, dass es für ein Leben in Würde notwendig ist, nicht allein auf Hilfe anderer angewiesen zu sein, sondern die Chance zu erhalten, sein Leben selbstbestimmt zu führen. Wenn sich bestimmte soziale Ungleichheiten systematisch über Generationen fortpflanzen, dann bedeutet negative Freiheit nichts anderes, als die Verteidigung von Privilegien gegenüber weniger Privilegierten oder allgemeiner gesagt: die Verteidigung eines beliebigen gesellschaftlichen Zustands. Die 'basal equality' der Chancengerechtigkeit wäre also die Freiheit des Individuums, sich gemäß seiner Wünsche und Fähigkeiten ausleben zu können. Dies wäre eine ungleiche oder anders gesagt komplexe Gleichheit: Eine Form sozialer Kompensation, die berücksichtigt, dass menschliches Wohlbefinden auch jenseits des Materiellen entsteht, aber auch zur Kenntnis nimmt, dass der Selbstverwirklichung Grenzen gesetzt sind. Grenzen, die im Individuum selbst und in der gesellschaftlichen Struktur liegen. Nötig ist also ein differenzierter Ansatz zur Beurteilung menschlichen Wohlbefindens, wie ihn Sen vorschlägt und die Schaffung gerechter gesellschaftlicher Grundstrukturen, wie sie Rawls fordert.

Studium der Journalistik an der Universität Leipzig und Politik, Wirtschaft, Recht und Philosophie an der Universität Greifswald. Seit 2013 in Berlin Journalist und Autor für Wirtschaft-, IT- und Verbraucherthemen.

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Leseprobe

3.  John Rawls „Theorie der Gerechtigkeit“


 

3.1 Das Ziel der Gerechtigkeit


 

Für John Rawls ist die Grundstruktur einer Gesellschaft „Hauptgegenstand der Gerechtigkeit“.[52] Unter Grundstruktur versteht er die Gesamtheit der Sozial- und Wirtschaftsgesetzgebung.[53] Entsprechend ist für ihn die Gerechtigkeit „die erste Tugend sozialer Institutionen“.[54] Das liegt vor allem an seiner Vorstellung „daß sich das Wohl eines Menschen bestimmt als der für ihn vernünftigste langfristige Lebensplan“.[55] Nach Rawls ist der Mensch glücklich, „wenn seine Pläne vorankommen, wenn seine wichtigeren Ziele sich erfüllen, und wenn er sicher ist, daß dieser gute Zustand fortdauern wird.“[56] Wichtig dabei ist, dass die Verfolgung der eigenen Lebenspläne nach seiner Ansicht vor allem von dem richtigen Umgang mit den zu Verfügung stehenden Grundgütern abhängt.[57], welche ihrerseits die Grundstruktur bestimmen. Denn es sind letztlich die Grundgüter, die „im allgemeinen für die erfolgreiche Ausführung solcher Pläne nötig [sind].“[58]

 

Unter dem Begriff der Grundgüter fasst Rawls eine Reihe sozialer und natürlicher Resourcen zusammen. Soziale Grundgüter sind Rechte, Freiheiten, Chancen, Einkommen und Vermögen die „gleichmäßig zu verteilen [sind], soweit nicht eine ungleiche Verteilung jedermann zum Vorteil gereicht“.[59] Natürliche Grundgüter sind z.B. Gesundheit und Lebenskraft, Intelligenz und Phantasie, die nur mittelbar von der Grundstruktur beeinflusst werden.[60]

 

Rawls versteht es als Ziel seiner Theorie der Gerechtigkeit „einen vernünftigen Gerechtigkeitsbegriff für die Grundstruktur der Gesellschaft zu formulieren.“[61] Für ihn hängt die Gerechtigkeit einer Gesellschaft im Wesentlichen davon ab, „wie die Grundrechte und –pflichten und die wirtschaftlichen Möglichkeiten und sozialen Verhältnisse in den verschiedenen Bereichen der Gesellschaft bestimmt werden.“[62] Nur eine gerechte Verfassung und gerechte wirtschaftliche und soziale Institutionen können eine gerechte Gesellschaft formen.[63] Aus dem Ideal einer wohlgeordneten Gesellschaft folgt unmittelbar, dass sie sich nicht auf Zwang gründen kann, sondern auf die Einsicht ihrer Mitglieder zu den Grundsätzen der Gerechtigkeit angewiesen ist. Die Gesellschaft muss bei ihren „Mitgliedern den entsprechenden Gerechtigkeitssinn wecken.“[64] Unter dem Gerechtigkeitssinn versteht Rawls den wirksamen „Wunsch, nach den Gerechtigkeitsgrundsätzen und damit unter dem Gesichtspunkt der Gerechtigkeit zu handeln.“[65] Auch wenn die Mitglieder sich nicht über die Grundregeln des gesellschaftlichen Lebens einig sind, „sehen [sie] die Notwendigkeit bestimmter Grundsätze für die Festsetzung der Grundrechte und –pflichten und der als gerecht betrachteten Verteilung der Früchte und Lasten der gesellschaftlichen Zusammenarbeit, und sie sind bereit solche anzuerkennen.“[66]

 

Angelika Krebs ordnet die Theorie der Gerechtigkeit dem moderat, pluralistischen Egalitarismus zu, da die Theorie einerseits wenigstens zwei grundlegende Prinzipien anerkennt, neben der Gleichheit auch den Wohlstand, was sie pluralistisch macht und andererseits der Wohlfahrt im Zweifel den Vorzug gibt, was sie als moderat egalitaristisch auszeichnet.[67]

 

3.2 Der Urzustand und die Wahl der Grundsätze


 

Rawls Theorie der Gerechtigkeit steht in der Tradition der Vertragstheorien wie beispielsweise jene von Thomas Hobbes oder John Locke. Im Gegensatz zu den klassischen Vertragstheorien gibt es bei Rawls jedoch keinen ursprünglich anarchischen Zustand, einen sogenannten Naturzustand, der einem Ideal eines geordneten gesellschaftlichen Zustands durch einen Gesellschaftsvertrag gegenübergestellt wird. Das Gegenstück zum Naturzustand ist Rawls original position (ursprüngliche Entscheidungssituation oder Urzustand). Sie ist als ein fiktiver Zustand konzipiert, in den jederzeit gedanklich eingetreten werden kann. Die Menschen, die in den Urzustand treten sind Mitglieder einer bereits entwickelten Gesellschaft. Es sind also nicht Sicherheitserwägungen oder Selbsterhaltungsnot, die die Menschen bewegen, sondern Gerechtigkeitsbedürfnisse. Der Urzustand ist der angemessene „Ausgangszustand, der gewährleistet, daß die in ihm erzielten Grundvereinbarungen fair sind.“[68] Eine wichtige Voraussetzung für den Gesellschaftsvertrag ist, dass er im Konsens beschlossen wird, damit er von den beteiligten Parteien auch befolgt wird.  „Im klassischen Kontraktualismus [...] wurde diese Einmütigkeitsbedingung aufgrund des Grenzsituationscharakters des Naturzustands erfüllt.“[69] Die Menschen im Naturzustand sind zur Zustimmung zum Gesellschaftsvertrag praktisch gezwungen, da es keine vernünftige Alternative gibt. Rawls hingegen muss einen Zustand konstruieren, der die „individuellen Interessenlagen“ auf ein „einmütigkeitsförderliches Maß reduziert.“[70] Diese Aufgabe übernimmt der Schleier des Nichtwissens (veil of ignorance), der den Menschen gerade genug Wissen über sich selbst und die gesellschaftlichen Verhältnisse überlassen soll, so dass sie Gerechtigkeitsgrundsätze beschließen können, aber gerade so viel Wissen nimmt, dass sie keine aufeinandergerichteten Interessen verfolgen können.

 

Der Urzustand ist von gewissen Rahmenbedingungen abhängig, die die menschliche Zusammenarbeit möglich und nötig machen. Die Menschen kennen diese Bedingungen. Sie müssen einerseits wissen, dass es knappe Güter gibt, um die sich Konflikte ranken, dass sie auf einem gemeinsamen Territorium leben werden und dass sie über ähnliche geistige und körperliche Fähigkeiten verfügen, so dass keiner allein die Macht an sich reißen kann.[71] Andererseits müssen sie um gewisse Eigenschaften wissen. Sie wissen, dass sie konkurrierende Ansprüche auf natürliche und gesellschaftliche Hilfsmittel haben, dass sie individuelle Lebenspläne verfolgen und individuelle Vorstellungen vom Wohl haben[72], außerdem unterschiedliche politische, religiöse, philosophische und gesellschaftliche Anschauungen. Sie kennen ihre natürliche  Situation, dass ihre kognitiven Fähigkeiten begrenzt sind, dass sie oft von Angst, Voreingenommenheit und Eigeninteresse geleitet werden.[73] Die Menschen haben Kenntnis von allgemeinen Tatsachen über die menschliche Gesellschaft und deren Organisation (u.a. Politik und Wirtschaft), außerdem kennen sie die Gesetze der Psychologie[74] und sie wissen, dass sie Zeitgenossen sind[75]. Wichtig ist auch, dass sie aneinander desinteressiert sind, also dass sie weder Liebe noch Hass füreinander empfinden.[76] Dies soll u.a. die Bildung von Interessengruppen verhindern.

 

Eine der wichtigsten Voraussetzungen für den Urzustand ist, dass es sich um vernünftige Menschen handelt. Vernünftige Menschen im Urzustand gehen davon aus, „daß sie gewöhnlich lieber mehr als weniger gesellschaftliche Güter haben wollen [, da sie] ganz allgemein versuchen müssen, ihre Freiheiten zu schützen, ihre Möglichkeiten auszuweiten und ihre Mittel zur Verfolgung ihrer Ziele [...] zu vermehren.“[77] Rawls formuliert ganz allgemein das Ideal des rationalen Menschen: „[Ein] vernunftgeleiteter Mensch [hat] ein widerspruchsfreies System von Präferenzen bezüglich der ihm offenstehenden Möglichkeiten. Er bringt sie in eine Rangordnung nach ihrer Dienlichkeit für seine Zwecke; er folgt dem Plan, der möglichst viele von seinen Wünschen erfüllt und der eine möglichst gute Aussicht auf Verwirklichung bietet.“[78] Rawls fügt hinzu, dass der vernünftige Mensch frei von Neid sein muss und dass nicht nur aus moralischen Gründen weil „durch Neid alle Menschen im allgemeinen schlechter dastehen“[79], sondern vor allem aus praktischen Gründen der Stabilität: denn aneinander desinteressierte Menschen wollen möglichst hohe gesellschaftliche Positionen unabhängig von den Positionen anderer, sie sind nicht neidisch auf die Positionen ihrer Mitmenschen und versuchen deshalb, wie schon gesagt, nicht das Streben der anderen zu behindern. Sie versuchen nicht „sich einander Gutes oder Schlechtes anzutun.“[80]

 

Neben den starken Voraussetzungen bezüglich der Vernünftigkeit der im Urzustand befindlichen Personen sind jene Dinge vom besonderen Interesse, die vom Schleier der Unwissenheit verdeckt werden.

 

Die Menschen im Urzustand wissen nicht, welchen zukünftigen Platz sie in der Gesellschaft einnehmen werden, also welcher Klasse sie zugehören oder welchen Status sie genießen werden. Sie haben keine Vorstellung vom Guten oder von den Einzelheiten ihres vernünftigen Lebensplanes, auch kennen sie nicht die Verhältnisse ihrer eigenen Gesellschaft oder ihre Generationenzugehörigkeit[81]. Die Menschen kennen ihre natürlichen Gaben nicht, sie wissen also weder, ob sie besonders intelligent, noch ob sie besonders kräftig sind. Ebenso sind sie sich der Besonderheiten ihrer Psyche oder ihrer Neigungen nicht bewusst und sie...

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