Zygmunt Bauman zufolge leben wir in einer Gesellschaft der Deregulierung, in der nicht mehr die soziale Stabilität, sondern die individuelle Freiheit zum non plus ultra geworden ist. Die traditionellen Lebensmuster haben ausgedient und sind für den spätmodernen Menschen nicht mehr praktikabel; insbesondere gilt dies für die spätmodernen Frauen im Zuge der Kritik an den patriarchalen Zusammenhängen. Alte Autoritäten und Machtstrukturen haben in vielen Bereichen ihre Bedeutung verloren. Der Mensch ist heute zeitlich, örtlich und biographisch aus der Starrheit und Voraussagbarkeit früherer Lebensläufe herausgelöst. Er kann und muss zunehmend selbst entscheiden.
„Erheblich vereinfacht könnte man sagen, das Leben der vormodernen Menschen barg wenig Ungewissheit. In einer Welt, die innerhalb des individuellen Lebenshorizontes praktisch unveränderlich war, erwartete die Bewohner, angesichts ihrer von Geburt an klar vorgezeichneten Lebenswege, wenig Überraschendes.“ 14
Das hat sich in den letzten Jahrzehnten grundlegend geändert. Die westlichen Industriestaaten sind keine Mangelgesellschaften mehr. Der tägliche Kampf ums Überleben mit dem sich frühere Generationen auseinandersetzen mussten, ist überwunden. In den spätmodernen Industriestaaten leben breite gesellschaftliche Gruppen auf einem hohen materiellen Niveau.
„Es gibt - bei allen sich neu einpendelnden oder durchgehaltenen Ungleichheiten - ein kollektives Mehr an Einkommen, Bildung, Mobilität, Recht, Wissenschaft, Massenkonsum.“ 15
Der Soziologe Ulrich Beck spricht von einem Fahrstuhl-Effekt. Der Effekt beschreibt das Resultat eines Lebens, das sich durch eine längere Lebenszeit, weniger Erwerbsarbeitszeit und mehr finanziellen Spielraum auszeichnet. Dieser Freisetzungsschub des Individuums verändere nicht primär die Erwerbsarbeit, sondern vor allem die Lebensbedingungen außerhalb dieser. 16
Für das Individuum bieten sich heute eine Reihe verschiedenster Gestaltungsmöglichkeiten. Viel mehr Menschen als früher haben die Möglichkeit ihr Leben in eigener Regie nach den persönlichen Bedürfnissen und Interessen auszurichten. Beck bezeichnet dies als eine Individualisierung und Diversifizierung der Lebenslagen. Die verschiedensten Lebensstile existieren heute nebeneinander. Eng verbunden mit der Individualisierung ist der Individualismus. Im Fremdwörterlexikon findet sich unter Individualismus folgender Eintrag:
„Anschauung, die dem Individuum, seinen Bedürfnissen den Vorrang vor der Gemeinschaft einräumt [...] individualistische, besonders auf die Entfaltung der eigenen Persönlichkeit ausgerichtete Haltung, die dem Gefühl der Zugehörigkeit zu einer Gemeinschaft wenig Raum läßt.“ 17
Welche verschiedenen Formen des Individualismus kann man in der spätmodernen Gesellschaft differenzieren?
Schroer unterscheidet bei dem Phänomen des Individualismus drei Hauptauffassungen. Zum einen meint es einen weit verbreiteten Egoismus und Hedonismus, der solidaritätsstiftende Zusammenhänge zunehmend auflöst. Diesem sich ganz dem Genuss verschreibenden Sozialcharakter gehe es in erster Linie um
eine Nutzenmaximierung. Individualismus beschreibt zweitens eine Herauslösung aus traditionellen Gemeinschaften und wird in diesem Kontext daher stärker als Befreiung erlebt. Drittens und letztens gibt es die Auffassung, dass das Individuum den gesellschaftlichen Entwicklungen ohnmächtig gegenübersteht. In diesem Zusammenhang spricht Schroer nicht von einer steigenden Individualität, sondern im Gegenteil, von dem „Ende des Individuums“ 18 .
„Von dieser Seite wird geltend gemacht, daß nur dem Anschein nach die Individuen immer selbständiger in ihren Entscheidungen und Handlungen würden, in Wahrheit aber das Individuum durch übermächtige Systeme und bürokratische Strukturen nahezu vollständig determiniert sei.“ 19
Das Individuum treffe keine eigenen Entscheidungen mehr, sondern reagiere lediglich auf die vorgegebenen Muster einer allmächtigen Kulturindustrie, die die Auflösung des Individuums bewirke.
Wie reagieren die Menschen in dieser vermeintlichen Multioptions-Gesellschaft auf die Chance der Selbstgestaltung, oder negativ formuliert, auf die Qual der Wahl? Die Welt der Gegenwart erscheint zunehmend als ein unendlich wachsender Supermarkt und der Alltag wird für das spätmoderne Individuum zu einem Multiple Choice Problem. Schnell kann dabei das beunruhigende Gefühl aufkommen, die falsche Wahl getroffen zu haben. Die vielfältigen Lebensoptionen zwingen jeden, sich ständig neu zu positionieren und zu definieren. Gemeinverbindliche leitendende Verhaltensmuster fallen weg. Dieser zunehmende Wegfall von Stabilitätsfaktoren zwingt das Individuum, eigene Stabilisatoren zu entwickeln.
„Die Biographie der Menschen wird aus traditionellen Vorgaben und Sicherheiten, aus fremden Kontrollen und überregionalen Sittengesetzen herausgelöst, offen, entscheidungsabhängig und als Aufgabe in das Handeln jedes einzelnen gelegt.“ 20
Natürlich gab es auch schon früher, vor der Moderne, selbstverantwortliches Handeln; dieses ist keine Erfindung der spätmodernen Gesellschaft, doch findet es unter einer veränderten Prämisse statt. Denn nicht Stabilität und Ewigkeit sind heute wichtige Direktiven, sondern die Norm der Revidierbarkeit.
17 Duden. Deutsches Universal Wörterbuch A-Z. Dudenverlag. Mannheim 1996, 759.
„Nach dem neuen Leitbild wird der gesamte Lebenslauf entworfen als fortlaufende Reihe von Entscheidungen, die immer wieder neu gefällt, bestätigt oder korrigiert werden müssen.“ 21
Wie reagieren die spätmodernen Menschen auf den Zugewinn an Freiheit? Welche Fähigkeiten brauchen sie, um mit und in der Freiheit zurecht zu kommen? Die neu gewonnene Freiheit muss strukturiert werden, sonst wird sie zur Belastung. Der Philosoph Wolfgang Welsch beschreibt dies als eine „radikale Pluralität“ 22 . Das heißt, die Menschen müssen selbst versuchen, „Zusammenhang in zusammenhangslosen Zeiten zu stiften, Stabilisatoren für die eigene Existenz zu konstruieren und einen Lebenssinn zu finden.“ 23
Das ist offensichtlich keine einfache Aufgabe. Denn ganz genau betrachtet basieren die spätmodernen, freien Gesellschaften auf Voraussetzungen, die der Mensch im Laufe seiner Sozialisation erst erlernen muss: Sie gründen auf einem System der Selbstverbote und Instinktunterdrückungen, auf zivilisierenden Werten, Normen und Regeln.
Der Mensch muss sich disziplinieren, um in der Zivilisation leben zu können. In einer freien Gesellschaft müssen sich alle anderen Werte der individuellen Freiheit unterordnen.
Daher verwundert es nicht, dass einige an dieser Problemstellung scheitern. Im Folgenden möchte ich deshalb gezielt auf die negativen Seiten der Individualisierung eingehen, wie zum Beispiel den Verlust an Geborgenheit. Joachim Fest nennt sogar einen ganzen Katalog negativer Konsequenzen:
„Sinnverlust, Mehrdeutigkeit, Vereinzelung und Daseinsunsicherheit gehören zur Gegenwart und sind der Preis für die gegen alle Vergangenheit ungemein erweiterten Entscheidungsspielräume und Beteiligungschancen jedes Einzelnen. Sie sind nur der Preis dafür.“ 24
Weitere Symptome sind in aller Munde: Stress, Erschöpfung, Entfremdung, Isolation, Entgrenzung, aggressives und selbstzerstörerisches Verhalten, Suchten oder psychosomatische Krankheiten.
20 Beck/Beck-Gernsheim: Das ganz normale Chaos der Liebe. Suhrkamp. Frankfurt a. M 1990, 12.
Viele Menschen der Gegenwart, vor allem Großstädter, haben einen hohen, persönlichen Freiheitsspielraum, können ihre Lebenssituation flexibel verändern und einen ganz eigenen, individuellen Weg verfolgen. Auf diesem Weg fühlen sie sich aber zusehends allein. Die Kehrseite individueller Unabhängigkeit und Selbstverwirklichung stellen mangelnde Verlässlichkeit sozialer Beziehungen sowie ein Verlust an Geborgenheit dar.
„Viele Bewohner von Großstädten teilen die emotional negativ getönte Haltung von der ‚verlorenen Gemeinschaft’, obwohl sie in multiplen Netzwerken leben, die ihnen vielfältige soziale Zugangsmöglichkeiten und Unterstützung vermitteln.“ 25
Das hochmobile spätmoderne Individuum ist offensichtlich, trotz der vielfältigen losen Assoziationen zu verschiedenen Gruppen, Subkulturen und Institutionen, kein Mitglied einer Solidargemeinschaft. Oft gehört es keiner Gruppe mit starker Integrationskraft an. Treffend spricht Keupp daher von der „Verlorenen Gemeinschaft“ 26 . Anfänglich bildeten stabile, überschaubare Gemeinschaften den Rahmen des menschlichen Lebens. So war das ganze Haus, die Großfamilie, mit der Verwandtschaft, den Mägden und Knechten als ökonomische und menschliche Funktionseinheit sehr übersichtlich....