1. Mein Vater, der General
Rudolf Bamler, mein Vater, wurde 1896 in Kossebau, einem Straßendorf in der Altmark, geboren. Er blieb das einzige Kind des evangelischen Landgeistlichen Johannes Bamler. Seine Mutter war die Tochter eines Landarztes. Großvater Johannes hatte die grob-markanten Gesichtszüge eines Nussknackers und sah streng aus, war jedoch ein herzensguter Mensch. Als Mann Gottes erzog er seinen Sohn selbstverständlich zu Glauben und Gottesfurcht – mit äußerst mäßigem Erfolg, wie sich später herausstellen sollte. Wohl auch deswegen, weil er in seinem Herzen Bauer blieb, der sonntags mit tiefem Bass von der Kanzel herab diejenigen Bauern zusammenstauchte, die ihre Felder nicht ordentlich bestellten. Das wirkte, denn Opa Bamler war ein großer, kräftiger Mann und eine Institution im Dorf. Mein Großvater war aber nicht nur Pfarrer und Bauer, sondern auch Lehrer und Rektor in Neuwedell und Osterburg. Die häusliche Erziehung bei Bamlers richtete sich vor allem darauf, dem Jungen eine umfassende humanistische Bildung zu vermitteln.
Nachdem Rudolf zwei Jahre die Dorfschule in Kossebau besucht hatte, nahm ihn sein Vater aus der Schule, um ihn selbst zu unterrichten, denn er wollte sichergehen, dass sein Sohn die Aufnahmeprüfung zum Gymnasium besteht. 1907 schaffte er dies und wurde darauf in das Königliche Gymnasium, wie das Friedrich-Ludwig-Jahn-Gymnasium in Salzwedel damals hieß, aufgenommen.
Im März 1914, also noch vor Ausbruch des Ersten Weltkriegs, absolvierte mein Vater die Abschlussprüfung mit »Gut« und besaß nun die Hochschulreife. Doch er wählte nicht die akademische Laufbahn. Vielmehr entschied er sich für den Offiziersberuf. In seinem Lebenslauf von 1950 begründete er diesen Schritt mit »der klaren Überzeugung, mit ihr meinem Volke am besten dienen zu können«. Dass diese Überzeugung mehr als naiv war, sollte sich bald zeigen. Doch patriotische Gefühle allein waren wohl kaum ausschlaggebend für meines Vaters Berufswahl: Seine Eltern lebten von dem nicht gerade üppigen Pfarrersgehalt. Eine Offizierslaufbahn konnte man, im Gegensatz zu einem Hochschulstudium, kostenlos haben. Der Offiziersanwärter Bamler jun. sparte dem Dorfpfarrer Bamler sen. eine Menge Geld. Wohl auch aus diesem Grunde waren meine Großeltern mit dem Schritt ihres Sohnes einverstanden.
Und so fand er sich noch im März als Offiziersanwärter im Feldartillerieregiment 59 in Köln wieder. Am 2. August 1914 war Schluss mit der preußisch-planmäßigen Offiziersaubildung, denn der Erste Weltkrieg brach aus, und mein Vater wurde als Unteroffizier an die Westfront versetzt. Den Krieg überstand er als Oberleutnant.
Die Niederlage des Kaiserreichs konnte Rudolf Bamler, ein unpolitischer Soldat, zur damaligen Zeit nicht richtig einschätzen. Und so bemühte er sich, wie viele »heimatlose« Frontsoldaten, um neue Verwendung im Militär der jungen Republik. Die erste fand er in Wildeshausen bei Oldenburg: Er leitete die Demobilisierung seines Regiments. Das tat er bis in den April 1919.
Sein alter Batteriechef holte ihn schließlich nach Berlin. Neuer Dienstherr war nun Gustav Noske, der sich »Volksbeauftragter für Heer und Marine« nannte. Der Sozialdemokrat Noske, der für den jungen Offizier ein Repräsentant der neuen Zeit war, erlangte als »Volksbeauftragter« traurige Berühmtheit bei der Niederschlagung des Spartakusaufstandes (»Meinetwegen! Einer muss den Bluthund machen!«) und im Zusammenhang mit der Ermordung von Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht. Doch die politischen Ereignisse, die sich in der Hauptstadt abspielten, fanden bei meinem Vater kaum Beachtung, denn er war damals, wie er später bekannte, an Politik wenig interessiert. Das entsprach seinem Berufsbild eines Offiziers: Der hatte zu dienen, nicht zu räsonieren! Diskussionen und Debatten waren für ihn typisch politische, vollkommen unsoldatische Verhaltensweisen. Es musste viel geschehen, bis Rudolf Bamler eines Besseren belehrt wurde – letztlich waren es seine Erfahrungen im Zweiten Weltkrieg und die sowjetische Kriegsgefangenschaft, die ihm die Augen öffneten. Doch davon später.
Im Januar 1921 wurde Rudolf Bamler zum 3. Artillerie-Regiment nach Frankfurt an der Oder versetzt. Und damit beginnt meine Geschichte, denn in Frankfurt lernte er meine Mutter Mary Wehmer kennen. Sie war Arzttochter und ausgebildete Krankenschwester. Mein Vater begegnete ihr auf einem Maskenball. Rudolf, ein junger Oberleutnant, war nicht von Adel. Aber um ihn standesgemäß einzuführen, wurde er als »Oberleutnant von Bamler« vorgestellt – eben ein Maskenball!
1924 heirateten die beiden auf Schloss Wulkow. Besitzer dieses würdigen Ortes war Mutters Cousin Richard Wehmer, hier durchlief meine Mutter eine Hauswirtschaftslehre.
Hochzeit auf Wulkow 1924: Mary Wehmer und Rudaolf Bamler, die Eltern von Jochen Bamler (Archiv Bamler)
Der Dienst in Kaserne und Stall – damals wurden Kanonen noch von Pferden gezogen – dürfte nicht sehr abwechslungsreich gewesen sein. Die wenigen Höhpunkte waren die Winterabschluss-Besichtigung im Frühjahr, die Jagdritte nach den Manövern im Herbst und das Kasinofest am Tag der Heiligen Barbara, der Schutzpatronin der Artillerie, im Dezember. In Frankfurt machte mein Vater auch die Bekanntschaft Reinhard Gehlens, denn beide dienten im selben Regiment. Gehlen sollte später den Nachrichtendienst »Fremde Heere/Ost« leiten und nach dem Krieg sich und sein Wissen dem US-Geheimdienst anbieten. Er setzte auf den Antikommunismus der größten westlichen Siegermacht und täuschte sich nicht. So entstand die »Organisation Gehlen«, aus der 1956 der Bundesnachrichtendienst (BND) werden sollte. Da der Name Gehlen hin und wieder in unserem Elternhaus fiel, weiß ich, dass mein Vater nichts als Verachtung für den »kleinen Herrn Gehlen« empfand. Warum das schon damals so war, kann ich nicht sagen.
Dass ich in Berlin und nicht in Frankfurt geboren wurde, ist der Kommandierung Oberleutnant Bamlers zur Ausbildung im Generalstabsdienst bei der 3. Division in Berlin zu danken. Diese absolvierte er von 1925 bis 1927. Danach war er Hauptmann und hatte den Weg zum General betreten, denn diese Generalstabsausbildung war die dafür erforderliche höhere Weihe, in deren Anschluss er in die militärische Abwehr des Heeres versetzt wurde. Er wurde Referent und später Gruppenleiter in der 3. Abteilung »Fremde Heere« des Reichswehrministeriums. Sein Dienstsitz befand sich am Tirpitz-Ufer im Tiergarten am Rande des Landwehrkanals. Der Gebäudekomplex, der als Bendlerblock bekannt ist, beherbergt heute die Gedenkstätte Deutscher Widerstand.
Diese erste Verwendung im Reichswehrministerium dauerte bis Ende 1932, also gut fünf Jahre. Chef der Abwehr war seinerzeit Ferdinand von Bredow. Im Zuge des sogenannten Röhm-Putsches wurde auch er am 30. Juni 1934 von der SS ermordet. Warum genau, ist nicht belegt. Aber es wird vermutet, dass er als Chef des militärischen Geheimdienstes über kompromittierendes Material verfügte, das einigen Nazi-Größen, etwa Hermann Göring, hätte schaden können.
In den Verantwortungsbereich von Hauptmann Rudolf Bamler fiel die Bearbeitung der französischen und spanischen, später dann auch der britischen und amerikanischen Streitkräfte. Da mein Vater ein sprachbegabter Mensch war, obendrein ein kreativer und disziplinierter Arbeiter, blieben Erfolge nicht aus, und er wurde sowohl von seinem Chef als auch von seinen Kollegen geschätzt. Das weiß ich lediglich »aus zweiter Hand«. Denn gesprochen wurde in unserem Hause über Derartiges überhaupt nicht. Mein Vater trug eine Uniform und ging jeden Morgen zur Arbeit. Wenn er befördert wurde, kriegten wir das nicht mit, denn es wurde nicht besonders gefeiert. Rudolf Bamler strahlte eine ruhige, unauffällige Autorität aus, unaffektiert. Ohne Pose und Gehabe, vielmehr durch sein Können, sein Wissen und seinen respektvollen Umgang beeindruckte er die Mitmenschen – wohl am meisten mich, seinen Sohn.
Dass unser Vater keinem bürgerlichen Beruf, sagen wir als Arzt oder Rechtsanwalt, nachging, merkten wir Kinder natürlich, denn unsere Familie führte das Zirkusleben eines Berufsoffiziers. Meine Mutter hatte durch die Heirat mit einem Offizier viel zu bewältigen: ständige Umzüge, neue Wohnungen, ebenso häufiger Wechsel des Bekanntenkreises, neue Schulen für uns Kinder. Sie hat das alles mit Engagement und guter Laune bewältigt.
Mutter Mary Bamler mit den Kindern Annemarie und Jochen, Aufnahme Mitte der 30er Jahre (Archiv Bamler)
Wir sind wirklich viel umgezogen: Berlin, Königsberg, wieder Berlin, Wien, Danzig. Das hat uns nicht geschadet. Im Gegenteil. Wir lernten viele interessante Menschen kennen, ihre Sitten und Gebräuche. Auf der Strecke geblieben allerdings sind Freunde fürs Leben. Bevor wir solche Freundschaften schließen konnten, waren wir wieder weg.
Mein Vater war zwar präsent, aber eigentlich kaum da. Die Familie bildete eine Gemeinschaft, die meine Mutter gestaltete. Schulische Angelegenheiten und mitunter notwendige Strafen – wir Kinder heckten ja immer wieder etwas aus – fielen in den Kompetenzbereich unserer Mutter. Die Erziehung der Kinder – 1928 wurde meine Schwester Annemarie geboren – war ihre Sache. Ich kann mich vor allem an ihren Humor und ihr Verständnis für uns erinnern. Sie musste sich oft beherrschen, um nicht über unsere Streiche zu lachen. »Auf die Idee muss man erst mal kommen!« sagte sie oft verblüfft und nicht ohne Anerkennung. Als ich einer ungeliebten Nachbarin, die sich ständig über meine Schwester und mich beschwerte, den Schminkspiegel mit Matsch aus unserem Buddelkasten bewarf, musste ich den Schaden zwar »mit die Hände« beseitigen. Doch bei der...