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E-Book

Spiritualität und die Wissenschaft

Das gegenwärtige Orientierungsdilemma

AutorH. W. Reichelt
VerlagGRIN Verlag
Erscheinungsjahr2010
Seitenanzahl193 Seiten
ISBN9783640572977
FormatPDF/ePUB
Kopierschutzkein Kopierschutz
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis14,99 EUR
Fachbuch aus dem Jahr 2010 im Fachbereich Theologie - Sonstiges, , Sprache: Deutsch, Abstract: Die vorliegende Arbeit beruht in vielen Teilen auf meiner Magisterarbeit (Religionswissenschaft), die ich im April 2009 an der Katholischen Fakultät der Universität Wien vorgelegt habe, wobei ich ganz bewusst einige Passagen, die zu bearbeiten man mir empfohlen hatte, weggelassen habe, da sie meinen Intentionen widersprachen. Einige wesentliche Kapitel habe ich jedoch hinzugefügt, da sie meines Erachtens zu einem besseren Verständnis für den Wandel der Sicht von Spiritualität und der Wissenschaft in der Gegenwart beitragen könnten und auch den m. E. nur scheinbar grundlegenden Zwiespalt zwischen spiritueller Weltsicht und den Glauben an ein naturwissenschaftliches Weltbild aufzuzeigen imstande sind. Allerdings sind sich Theologen Religionswissenschaftler, Psychologen, Philosophen und Soziologen heute noch uneins hinsichtlich einer umfassenden Definition der Spiritualität, da sie meist nur ihr eigenes Fachgebiet verteidigen und andere Meinungen kaum gelten lassen, da sie nicht erkennen, dass es eben neben ihrer Wissenschaft auch andere, in vieler Hinsicht für den Menschen ebenso wichtige Wissenschaften gibt, die diese unsere Welt in einem ganz anderen Blickwinkel erscheinen lassen. [...]

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Leseprobe

Spiritualität und die Wissenschaft

 

Das gegenwärtige Orientierungsdilemma

 

1. Einleitung


 

In der europäischen Gegenwartsgeschichte hat sich nach zwei mörderischen Weltkriegen und dem Aufbegehren der Studenten 1968 ein tief greifender weltanschaulicher Wandel in Europa vollzogen, der die Spätmoderne und die heute oft als Postmoderne bezeichnete Welt der Gegenwart so nachhaltig beeinflusst hat. Der entscheidende Paradigmenwechsel in den Wissenschaften führte zu einer allgemeinen Skepsis gegenüber allen früheren Werten und Vorstellungen und auch zu einer zunehmenden Verunsicherung und Orientierungslosigkeit vor allem in der europäischen Gesellschaft. Der Individualisierungsschub, der auch als ein Produkt der wohlfahrtsstaatlichen Modernisierung aufgefasst werden kann, hat die in die Industriegesellschaft eingebauten Lebensformen zunächst enttraditionalisiert[1]. Die moderne sozial abgesicherte Arbeitsmarktgesellschaft hat nicht nur die ehemaligen Grundlagen der Klassengesellschaft gründlich zerstört, wodurch sich nicht nur die sozialen Klassen und Schichten allmählich aufgelöst haben, sondern auch die Kleinfamilie als solche eliminiert. Die Kernfamilie mit ihren traditionellen „Normalbiographien“ ist heute kaum mehr vorhanden, da sie den neuen partnerschaftlichen Lebensentwürfen[2] Platz machen musste. Mit dem Verlust des traditionellen Bewusstseins der überkommenen Denk-, Lebens- und Arbeitsformen müssen infolge dessen auch die Mechanismen der Angst- und Unsicherheitsbewältigung, die in dem sozial-moralischen Netzwerk (Familie, Ehe, Männer- und Frauenrollen) ehedem noch funktioniert haben, versagen. Gleichzeitig wird aber die Lebensbewältigung den emanzipierten Individuen selbst abverlangt, was zu sozialen und kulturellen Erschütterungen und psychischen Verunsicherungen führt und damit eine ganz neue Herausforderung für die gesellschaftlichen Institutionen, hinsichtlich Ausbildung, Beratung, Therapie und Politik darstellt. Die Vergewaltigung der realen Welt durch eine fortschreitende Technisierung und auch die Globalisierung haben überdies zu einem ungeahnten Fortschrittsglauben geführt, nämlich zu einem Glauben an die Allmacht der Wissenschaft und Technik sowie zu einem Glauben an die Möglichkeit einer rein wissenschaftlichen (materialistischen) Erklärung der Welt und des Phänomens des Lebens. Aber die Wissenschaft kann uns heute auch nicht mehr so wirklich überzeugen angesichts der widersprüchlichen Vielstimmigkeit ihrer Experten.

 

Auf dem Markt des menschlichen Fortschrittes haben zwar die Europäer und der USA bislang noch ihr kulturelles Monopol verteidigen können. Allerdings muss ein kognitiver, spiritueller, ethischer, sozialer, und politischer Fortschritt in Zukunft nicht unbedingt mit den Gesellschaften Hand in Hand gehen, die heute noch über große finanzielle Ressourcen und damit über entsprechende Machtmittel verfügen. Man findet auch geistig hoch differenzierte und bewunderungswürdige Kulturen, die sich trotz ihrer heute vielleicht noch rudimentären Technik und aus europäischer Sicht tristen hygienischen und sozialpolitischen Verhältnissen eine durchaus lebenswerte Umwelt geschaffen haben, die oft mehr Lebenszufriedenheit und spirituelle Ausgeglichenheit beschert als das rastlose Treiben in den Großstädten[3] der westlich orientierten Welt.

 

Es ist für die Menschen unserer Zeit sicherlich kein Geheimnis, dass wir in den Industriestaaten in einer heute globalisierten, herzlosen, rein kommerziell ausgerichteten Medienwelt (einschließlich Internet) leben, in der Tatsachen verfälscht, Lügen verbreitet und Meinungen nach Gutdünken weltweit manipuliert werden können. Der alles beherrschende Medienmarkt entwirft vielfach Schreckensszenarien, die eine sich selbst gefährdende Zivilisation vorhersieht und berichtet von der Ratlosigkeit der Gesellschaft angesichts der sich auflösenden Strukturen der Industriegesellschaft. Infolge der Flexibilisierung der Arbeitswelt und der ökonomischen Rationalität haben sich sicherlich die früheren Sozialstrukturen schon weitgehend aufgelöst und auch neue Partnerschaftsideale geschaffen und aus wirtschaftlichen Gründen die Single-Existenz gefördert. In der Politik und der Wirtschaft geht scheinbar nichts mehr ohne Korruption[4] und jeder müsste eigentlich wissen, dass die Umwelt in allen Weltgegenden entweder zerstört oder durch Abfall und Industrieabgase verunreinigt und belastet wird. Der durch CO2 –Emissionen angeheizte Treibhauseffekt der weltweit betriebenen Industrieanlagen hat schon jetzt zu einer beachtlichen Erderwärmung geführt, die einerseits Unwetter mit Überschwemmungen und andererseits Dürreperioden in ehemals fruchtbaren Gebieten zur Folge hat, wobei das Ausmaß der Folgeschäden noch in keiner Weise abzuschätzen ist. Die Ausdünnung der Ozonschicht, die die schädliche UV- Strahlung des Sonnenlichtes absorbiert, hat durch den Ausstoß gasförmiger Halogenverbindungen ein beängstigendes Ausmaß angenommen. Der Siegeszug des Industriesystems hat die Belastbarkeit der Natur schon bei weitem überschritten, weshalb auch die Naturzerstörung nicht länger auf die „Umwelt“ abgewälzt werden kann, weshalb es in naher Zukunft zu globalen sozialen, politischen, ökonomischen und kulturellen Spannungen kommen wird. Man kann sich also heute schon durchaus fragen, ob wir auf dieser „unheilen“ und rastlosen Welt überhaupt noch Zeit und irgendwo eine Nische der Stille, der Besinnung und damit der Spiritualität finden könnten. Es scheint daher berechtigt zu sein, die Urgründe dieser als unselig empfundenen Entwicklung in einem Streifzug durch die Entwicklungsgeschichte der Wissenschaften und der Philosophie aufzuspüren und nachzuzeichnen. Der mehrfache Paradigmenwechsel in der modernen Wissensentwicklung, die schon im späten 18. Jahrhundert einsetzende Säkularisierung, die Abnabelung von traditionellen kirchlichen Institutionen, der um sich greifende Liberalismus, der sich später zu einem krassen, egozentrischen Individualismus und Libertinismus ausgewachsen hat, sind m. E. sichere Anzeichen einer weitgehenden „Entsakralisierung“ unserer Lebenswelt. Aber nicht nur die Raffgier des kapitalistischen Systems, der individuelle Egoismus, die Beliebigkeit, die zunehmende Gewaltbereitschaft, die allgemeine Sexualisierung des Alltags, die anhaltende Menschenverachtung, sondern auch, global gesehen, die einseitigen Interessen der Wirtschaftsmächte und die machtpolitischen Intentionen einzelner Staaten und die immer rücksichtslosere Ausbeutung unseres Planeten lassen, aus heutiger Sicht zumindest, nichts Gutes für die nähere Zukunft erwarten. Genauso wie sich der Kommunismus - Marxismus totgelaufen hat, müsste man nicht auch schon das kapitalistische System und der mit diesem verbundene, bisher ungebrochene Besitz- und Fortschrittswahn angesichts der Weltwirtschaftskrise in vieler Hinsicht als gescheitert betrachten? In der Geschichte der Menschheit - soweit wir es wissen - hat es zwar niemals ein „goldenes Zeitalter“ gegeben, doch haben die Menschen immer schon von einem solchen geträumt, es aber daher in die Zukunft oder in eine graue Vorzeit verlegt[5].

 

Besonders in den reichen Industrieländern haben die Menschen ihre spirituellen und mentalen Kräfte des Heils und der „Heilung“ längst über Bord geworfen und sie durch eine mechanisierte, vorwiegend wissenschaftlich ausgerichtete, technisierte Medizin und durch industriell erzeugte, aber teure[6] Medikamente ersetzt. Da es aber scheinbar Anzeichen gibt, dass sich die Menschen auch wieder ihrer spirituellen Fähigkeiten bewusst werden, könnte man annehmen, dass auch die heilenden Kräfte der Spiritualität und der Natur wieder entdeckt werden. Uralte Methoden der Heilkunst, die ja in vielen Ländern der Erde (Indien, China, Tibet, Brasilien, in vielen Ländern Afrikas und Südamerikas) bis heute noch hoch im Kurs stehen und nach wie vor praktiziert werden, kommen auch in den hoch entwickelten Industrieländern wieder in Mode (Akupunktur, Moxibuston, Qi Gong, Tuina, Homöopathie, Raiki, Schamanismus, Tai Qi, Ayurveda etc.). Allerdings muss man auch den Konkurrenzkampf[7] zwischen der als „alternativ“ (komplementär) bezeichneten Heil-„kunst“ und der modernen, wissenschaftlichen Medizin abwarten, der sicher eine gewisse Zeit andauern wird, aber vielleicht zu einer neuen, möglicherweise holistischen[8] Auffassung des Heilens und der Heilung führen wird.

 

Obwohl sich die traditionellen Kirchen heute in einem ständigen Rückzugsgefecht aufreiben und immer mehr Anhänger an neue, religiöse und spiritistische, oder auch wissenschaftlich-agnostisch ausgerichtete Gruppierungen verlieren, sollte man sich doch auch die Vorstellung bewahren, dass die griechisch-römische Antike, das jüdisch-christliche Erbe, ebenso wie der Einfluss früher arabischer Gelehrter dem europäischen Kontinent und somit der westlichen Zivilisation, zumindest bis heute, die wissenschaftliche und politische Vormachtstellung vor allen anderen Ländern dieser Erde eingeräumt, gesichert und bewahrt hat. Allerdings hat der rasante Aufschwung der Wissenschaftsentwicklung auch erst vor ungefähr vierhundert Jahren in der europäischen Welt stattgefunden, und wenn heute die vorherrschende eurozentrische Sichtweise (Überheblichkeit?) zu verwerfen ist und die abendländischen, christlichen Wurzeln zunehmend verleugnet werden, sollte man doch in...

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