Einleitung
DIE ERDE ist in Bedrängnis und ruft nach uns. Mit Erdbeben und Tsunamis, Stürmen und Überflutungen, noch nie dagewesener Hitze und Dürre signalisiert sie uns, wie extrem sie sich mittlerweile im Ungleichgewicht befindet. Es gibt bereits Hinweise darauf, dass sich ihr Ökosystem als Ganzes sogar einem »Kippunkt« oder einem »Zustandswandel« nähert, an dem es zu unumkehrbaren Veränderungen mit unvorhersehbaren Konsequenzen kommt.
Manche von uns – Gruppen wie Einzelpersonen – hören diesen Ruf und reagieren auf diese Zeichen mit Ideen und Handlungen, die unsere kollektive Aufmerksamkeit auf unsere nicht nachhaltige, materialistische Lebensweise lenkt und darauf, wie dieser Lebensstil zur ökologischen Zerstörung, zu einer vermehrten Umweltverschmutzung und dem Raubbau an den Arten beiträgt. Doch traurigerweise entspringt diese Reaktion zu einem großen Teil genau derselben Denkweise, die dieses Ungleichgewicht verursacht hat: nämlich der Überzeugung, dass wir von der Welt getrennt seien – von einer Welt, die irgendetwas »da draußen« darstellt und ein Problem ist, das wir lösen müssen.
Doch die Welt ist keineswegs ein Problem, das es zu lösen gilt, sondern ein lebendes Wesen, zu dem auch wir gehören. Sie ist ein Teil unserer selbst, und wir sind ein Teil ihrer leidenden Ganzheit. Solange wir nicht unserer Vorstellung von der Abgetrenntheit auf den Grund gehen, kann es keine Heilung geben. Und der tiefste Teil unserer Abgetrenntheit von der Schöpfung besteht darin, dass wir ihre heilige Natur vergessen haben, die auch unsere eigene heilige Natur ist. Als unsere monotheistische westliche Kultur damit begann, die vielen Schöpfungsgötter und -göttinnen zu verdrängen, die heiligen Haine zu fällen und Gott in den Himmel zu verbannen, traten wir in einen Kreislauf ein, der uns eine Welt hinterlassen hat, die auf eine für indigene Völker undenkbare Weise bar alles Heiligen ist. Die natürliche Welt und die Menschen, die ihre Weisheit weitertragen, wissen, dass die Schöpfung und ihre vielen Bewohner heilig sind und zusammengehören. Unsere Abtrennung von der natürlichen Welt mag uns die Früchte der Wissenschaft und Technologie beschert haben, aber sie hat uns auch jeder instinktiven Verbindung mit der spirituellen Dimension des Lebens beraubt – der Verbindung zwischen unserer Seele und der Seele der Welt sowie des Wissens, dass wir alle Teil eines einzigen lebendigen und spirituellen Wesen sind.
Genau diese Ganzheit ruft nun nach uns und bedarf unserer Antwort. Sie bedarf unserer Rückkehr zu unseren eigenen Wurzeln und unserer Verwurzelung; unserer Beziehung zum Heiligen in der Schöpfung. Nur von einem Ort der heiligen Ganzheit und Verehrung aus können wir mit der Heilungsarbeit beginnen, die darin besteht, die Welt wieder ins Gleichgewicht zu bringen.
Dieses Buch ist eine Sammlung von Antworten auf den Ruf der Erde. Jede davon stellt eine unterschiedliche Reaktion auf diesen Ruf dar und bietet ihre eigene Art der Achtsamkeit und der Erinnerung daran, was heilig ist – so, wie wir alle antworten müssen, und zwar jeder auf seine ganz eigene Weise, damit wir hier wieder präsent sein und die Erde sowohl in unserem Herzen und unserer Seele als auch mit unserem Verstand und unseren Händen halten können.
Diese Antworten werden nicht als Lösung eines Problems angeboten, denn die Welt ist kein Problem, sondern ein lebendes Wesen in Not. Die Anzeichen des globalen Ungleichgewichts – die Tsunamis, die Zerstörung der Korallenriffe – stellen mehr als nur physische Symptome dar. Wie Thich Nhat Hanh schreibt, sind sie »Glocken der Achtsamkeit«, die uns dazu aufrufen, aufmerksam zu sein, aufzuwachen und zuzuhören. Die Erde braucht unsere Aufmerksamkeit. Sie braucht uns, damit wir ihr helfen, ihren Körper zu heilen, dem wir durch unsere Ausbeutung Schaden zugefügt haben, und auch zur Heilung ihrer Seele, die durch unsere Entweihung verletzt worden ist, weil wir ihre heilige Natur vergessen haben. Nur, wenn wir uns daran erinnern, was heilig ist, können wir die Aufmerksamkeit auf unsere gegenwärtige Zwangslage richten.
Die verschiedenen Beiträge können als unterschiedliche Beschreibungen dieser Reise betrachtet werden, die wir jetzt aus unserer seelenlosen, materialistischen Ödnis in ein Land unternehmen müssen, das reich an Sinn und Bedeutung ist und einen heiligen Daseinszweck hat; ein Land, das den Namen und Ort eines jeden seiner Myriaden von Bewohnern kennt. Auf dieser Seite hier, wo sich unsere Welt jetzt befindet, führen wir alle unsere separaten Leben und sind im Inneren unseres verängstigten individuellen Selbst isoliert. Auf der anderen Seite spüren wir jedoch die Muster der gegenseitigen Wechselbeziehungen, die uns nähren und unterstützen; wir können als einzelne, lebendige Gemeinschaft vertraut miteinander verkehren; wir spüren die geheimnisvolle Magie einer Welt, die von heiligen Bedeutungen und einem heiligen Daseinszweck erfüllt ist. Nur von diesem anderen Ufer aus können wir darauf hoffen, unsere Welt zu heilen und ihr dabei zu helfen, sich von diesem Albtraum des Materialismus zu befreien, der ihre zerbrechliche und zauberhafte Schönheit zerstört. Nur dann können wir wieder zu unserem uralten Erbe als Wächter der Erde zurückkehren.
Die Beiträge dieses Buches stellen eine Reihe unterschiedlicher Perspektiven in Bezug auf das Erwachen dar, dass sich vor Beginn dieser Reise vollziehen muss. So hören wir zum Beispiel von Häuptling Oren Lyons, dem Glaubenshüter des Schildkröten-Stammes der Nation der Onondaga, dessen Worte von der Autorität und dem Wissen eines der gegenwärtigen Weisheitshüter des Landes getragen sind – jener Menschen, die unsere Aufmerksamkeit wieder auf die Vorrangstellung des Naturgesetzes richten; von Pater Thomas Berry, dessen Stimme zu den ersten gehört, die uns einen großen Teil unseres gegenwärtigen Verständnisses der spirituellen Ökologie vermittelt haben, und der große Trauer darüber geäußert hat, dass es den europäischen Siedlern in Nordamerika nicht gelungen ist, die Herrlichkeit des Landes und der Spiritualität seiner Völker zu erkennen und der die verzweifelte Notwendigkeit einer Wiedererlangung unseres Gefühls für das Staunen und die Verehrung zum Ausdruck bringt; vom buddhistischen Zen-Mönch Thich Nhat Hanh, der uns dazu drängt, aufzuwachen, die Zeichen zu erkennen, die uns die Erde in ihrer Not schickt und eine neue, auf Freundlichkeit und Mitgefühl beruhende Lebensweise zu kultivieren. Wir begegnen einer Vielzahl unterschiedlicher Betrachtungsweisen, die aus den buddhistischen, keltischen, christlichen, persischen und indischen Traditionen sowie aus jenen der amerikanischen Ureinwohner und der Sufi stammen; wir schauen durch die Brille der Systemtheorie, des heiligen Landes, des Gebrauchs der Vorstellungskraft, der Heiligkeit der Nahrung, der Welt der Archetypen und einer neuen Geschichte von einem lebendigen, intelligenten Universum. Wir hören die Stimmen und Visionen eines afrikanischen Stammeshäuptlings, eines Bauern und beliebten Dichters, einer katholischen Nonne, die sich auf eine erdbasierende Spiritualität gründet, eines Franziskanermönchs, eines amerikanischen Schamanen, eines indischen Arztes und Aktivisten, eines Wildnisführers und vieler anderer mehr.
Als Herausgeber bin ich all jenen zutiefst zu Dank verpflichtet, die ihre Stimme in diese Sammlung von Antworten auf eine sowohl spirituelle als auch materielle Weltkrise eingebracht haben. Sie alle sprechen auf unterschiedliche Weise dieselbe Botschaft aus: die Notwendigkeit zur Wiedererlangung unserer natürlichen Spiritualität, des der Natur innewohnenden Geistes. Nur wenn unsere Füße wieder lernen, auf heilige Weise zu gehen, und unsere Herzen erneut die wahre Musik der Schöpfung hören, können wir die Welt wieder ins Gleichgewicht bringen.
Zugleich ist zwischen diesen Zeilen jedoch auch eine Warnung zu finden – manchmal verborgen,, manchmal offen ausgesprochen. Wenn wir weiterhin die Heiligkeit allen Lebens ignorieren und die Kluft zwischen Geist und Materie nicht wieder überbrücken, wird unser Planet immer mehr aus dem Gleichgewicht geraten. Wenn die Seele ihrer spirituellen Verbindung beraubt wird, beginnt das Leben, wie wir es kennen, auseinanderzufallen und zu sterben. Dieser Prozess hat in geringem Maße bereits begonnen, doch wir wissen nicht, wie rasch er sich beschleunigen wird und wann wir den »Kippunkt« erreichen werden. Wir müssen dringend wieder unsere Funktion als Wächter der physischen und heiligen Welt beanspruchen. Wir müssen uns daran erinnern, warum wir hier sind. Um Wendell Berry zu zitieren:
»Für die Erde zu sorgen, ist unsere älteste, würdigste und schließlich auch vergnüglichste Verantwortung. Unsere einzige gerechtfertigte Hoffnung besteht darin, zu hegen, was noch von ihr verblieben ist, und ihre Erneuerung zu fördern.«
LLEWELLYN VAUGHAN-LEE,...