Wo ich sein möchte
Vor einigen Jahren habe ich meine Heimat entdeckt. Sie liegt nicht im Lande Utopia. Sie hat einen Namen. Man kann ihn auf jedem Atlas finden. Es geht immer nach Westen, bis zur Küste des Stillen Ozeans, den ich vor zehn Jahren auf der östlichen Route erreichte. Seitdem ich den Ort gefunden habe, zu dem ich gehöre, hat mich ein Fluchttrieb erfaßt. Ich sitze im Innern einer Zentrifuge, die mich nach außen schleudert, weg vom Zentrum an die Peripherie. Schon immer war ich unterwegs, um meine Heimat zu suchen. Nie habe ich mich zu Hause gefühlt in der zwischen Neckar und Rhein gelegenen Industriestadt, in der ich geboren bin. Ich will nicht zurück ins Siebenzwergeland, wo Häuser, Bäume und Straßen, riesenhaft für das Kind, mit jedem Erwachsenenjahr zusammenschrumpfen. Mein Elternhaus wurde im Krieg zerstört. Ich werde nicht noch einmal durch das gekachelte Treppenhaus mit den bunt eingelegten Glasfenstern gehen. Ich werde mein Alter nicht am Mahagonisekretär mit Familienpapieren verbringen.
Nie habe ich begriffen, aus welchem Grund man sich nicht Heimat und Eltern wählen darf, weshalb es Daten gibt, die nicht zu verändern sind: Name, Tag und Ort der Geburt, Konfession, Alter, Körpergröße.
Meine neue Heimat hat zugleich etwas von Amerika und Asien, von Europa und Mexiko, ein wenig Christentum und Heidentum. Mittelmeer und Schweiz, Schwarzwald und Spanien, Irland und Nordafrika treffen sich am Schnittpunkt des Koordinatensystems. Die Stadt liegt auf der gleichen Höhe wie New York, Sizilien, Kabul, Lahore, Katmandu, Alma Ata und Peking. Es ist mein Breitengrad, der meine Reiseziele verbindet. Auf steilen Hügeln drängen sich Hochhäuser aus Beton, Fliesen und Glas über stuckverzierten Gebäuden mit Erkern und Holzbalkonen aus der Zeit der Jahrhundertwende. Manche Fassaden zerbröckeln schon wieder. Vom anderen Ufer der Bay gleicht die Skyline im Mittagsglast einem Steinbruch. Die Nebel, die vom Ozean herwehen, zaubern sie weg. Nachts geht die Stadt unter, am nächsten Morgen steigt sie aus den Fluten auf. Nichts, was hier gebaut wird, ist für die Ewigkeit bestimmt. Bleiben wird nur das Wasser der Bucht und die Brandung des Ozeans, die gegen die Felsen schlägt.
San Francisco – Kopie eines Originals, das niemand kennt. Jeder Blick erinnert an etwas, was man schon anderswo gesehen hat, aber alles ist neu zusammengesetzt. Traumfarben beherrschen die Szene: blau, vitriolgrün, orange, karmin. Aus dem vulkanischen Erdboden sprießen nachgeahmte Moscheen, Pagoden, Kathedralen, Kastelle. Jeder Besucher der Stadt findet im Riesenspielzeug-Angebot, was ihm gefällt. Ich kenne meine Wohnung, Mietpreis, Quadratmeterzahl. In Gedanken richte ich sie ein: kaum Möbel, alle Schränke eingebaut. Die Fenster Rahmen für die Bucht. Keine Bilder, oder nur eines, mäßig modern, man kann darauf noch einige Gegenstände erkennen. Das Kolorit paßt zu den reinen Farben von Himmel und Wasser draußen. Ein Bücherregal, mehr würde stören. Ich will hier leben wie im Hotel – mit einer Pflanze zusammen, deren Schatten an der Wand entlangwandert mit dem Sonnenstand. In der Nähe des Bodens Sitzkissen und Brücken, so tief, daß sie nicht die schöne Aussicht zerschneiden. Was ich besitze, bewahre ich in schwarzen Kisten auf, die den Würfeln eines Zauberkünstlers gleichen. Ungemütlich, kahl, hell, ohne Zwischentöne soll meine Behausung sein. Das Wasser schimmert in metallischem Eigenglanz durch die Spalten der Jalousien. Irdische Lichter, himmlische Lichter, man kann die Grenze zwischen ihnen kaum unterscheiden.
Man hat mich gewarnt: bald wirst du das satt haben, diese vom Nebelschwamm reingewaschene Kulisse. Das alles ist zu schön, daran hat sich noch jeder den Magen verdorben. Aber die Stadt besteht nicht nur aus weißem Stein, Wasser und Licht und aus dem Grün der Parks und Wiesen. Es gibt auch Blut hier, meist stammt es von Fischen. Am Hafen, auf den Verkaufstischen zappeln sie sich zu Tode. Auf dem großen Steg vor meiner neuen Wohnung haben sie gestern abend einen Tigerhai mit der Angel gefangen und ihm, drei Mann zugleich, den Rachen mit den scharfen Zähnen aufgesperrt, um den Köder-Haken zu retten. Schnell wie ein Vorhang fällt die Nacht vor die Bühne der Bucht mit dem Abschlußbild. Großes Ensemble, alles noch einmal aufmarschiert, in Gala. Felsrücken der Inseln, Häuserketten, Stahlgerüste der Hängebrücken, Segelboote, Zirruswölkchen, feuriges Abendrot. Die Dämmerung ist eher grün als grau, es gibt kein Zwielicht, das Augenflimmern erzeugt.
San Francisco hat keine Geschichte außer der Erdgeschichte, die schon das nächste Feuer unter dem Asphalt und dem Lavaboden des Fruchtlandes schürt. Die historischen Daten der Stadt kann man in einer einzigen Schulstunde auswendig lernen. Mission Dolores, die Kirche in der Nähe des Golden Gate Parks. Jeder Tourist bekommt sie zu sehen. Ich fürchte, sie ist nachgemacht wie fast alles hierzulande. Der Stein sauber gewaschen, die Ornamente und Kapitelle der Säulen flüchtig eingemeißelt, spanische Kopien. Im Kreuzgang des Klosters riecht es nach Knoblauch und ranzigem Öl aus den Küchen der benachbarten Armenquartiere. Abends nimmt der Seewind alle Gerüche mit. Weit draußen, jenseits der Brandung, streut er sie wieder aus.
»Möchte wissen, was hier schön sein soll außer der Lage«, fragt ein Freund, der es dreißig Jahre in Kalifornien ausgehalten hat. Der Nebel, der vom Meer kommt, hat keine Ähnlichkeit mit den grauen, schweflig riechenden Schwaden, die bei uns den Himmel verdüstern. Man glaubt, bei der Wanderung im Gebirge in eine Wolke geraten zu sein, die bald wieder weiterzieht. Alles ist plötzlich unsichtbar. Es gibt keine Himmelsrichtungen mehr, weder Ort noch Stunde, auch nicht das Schwindelgefühl von nordischen Nebelküsten, eher etwas wie Leichtigkeit des Schwebens und Fliegens: paß auf, sonst wirst auch du aufgelöst, ins Nichts verwandelt. Für eine Stunde Wartezeit wirst du belohnt. Der Vorhang des Nebels zerreißt, hinter ihm leuchtet die Bucht. Die Skyline der Stadt ist schärfer umrissen als vorher. Außer der Lage wenig Schönes, dafür an den Rändern der Stadt einiges Echte: Slums im Bungalowformat für alle Völkerschaften, die es nicht zu genügend Geld für ein Haus auf der Hillside gebracht haben. Nicht nur Farbige wohnen in der Nähe der Küste, auch Weiße, die elend und unterernährt sind. Sie halten ehemalige Hippiequartiere in den Haights besetzt. Eines davon habe ich gesehen. Ein Haus von drei Stockwerken, in dem früher Neger gewohnt haben. Ausgeräumte, untapezierte Zimmer mit Matratzen und Lumpen, Krankenlager, Brutstätten für Infektionen. Sterbebetten für Rauschgiftsüchtige, die keine Widerstandskraft mehr haben. Ich habe ein Spital in der Nähe der Elendsquartiere besucht. Das einzig Schöne an ihm waren die Schwestern mit ihren geschweiften Hauben, die an die Tracht spanischer Nonnen erinnerten. Auf den Betten im Krankensaal lagen fast nur junge Leute. Strandgut aus Europa, wie es der Doktor nannte, der mich begleitete. Es gab nur wenige junge Leute aus romanischen Ländern. »Die machen den Schwindel nicht mit«, sagte der Doktor, »haben sich ihren gesunden Sinn für die Realität bewahrt.« Er hatte in seiner Klinik die ganze Welt zu Gast, von jedem Land eine negative Auslese. Er riet mir, im nüchternen Mittagslicht die Straßenpassanten von Downtown anzuschauen. Wie viele Leute gehen hier am Stock! Das reine Altersheim, sieht man ab von der wechselnden Fauna der Touristen. Prostituierte, Zuhälter, Gewaltverbrecher, Schwindsüchtige, Geschlechtskranke. Der Doktor wollte die Bakterien, die hier in der angeblich so reinen Luft herumfliegen, nicht unter dem Mikroskop haben, nicht das Sputum und andere Ausscheidungen der Passanten untersuchen. Wie viele Bürger der Vereinigten Staaten leidet auch er unter dem Wahn, man müsse alles impfen, desinfizieren, sterilisieren, um sich an keiner Seuche anzustecken. Die Bewohner von San Francisco hat er mir kaputtgemacht. Ich weinen ihnen nach wie ein Kind seiner zerbrochenen Puppe. Auf einmal sehen sie wie auf einem mittelalterlichen Totentanz aus, in allen Hautfarben schillernd. Durch das noch blühende Fleisch ahnt man das Skelett, hinter den Augen warten die beinernen Höhlen. Das Licht dieser Stadt ist ein Röntgenlicht. Es legt das Innere frei, es skelettiert nicht nur Eisengerüste. Ich blicke in die zerfaserten Gesichter von Neurotikern und Geisteskranken, wie sie sich an allen Küsten der Welt zusammenfinden. Sie sind nicht fähig, in einem der niedrigen Vorstadthäuschen zu wohnen und jeden Morgen pünktlich zur Arbeit zu fahren. Außer der Lage wenig Schönes, dafür einiges, was sich nicht mit den Gesetzen der Spielstadt verträgt: Häßliches, Altes, Verbrauchtes, Verderbliches, parfümierter Atem des Todes. Am Kiosk vom Union Square werden Lilien fürs Leichenschauhaus feilgeboten, auch Orchideen, klebrig, tierisch, wie man sie hier züchtet. »Sehen Sie sich die Stadt an einem Regentag an«, sagte der Doktor, »die ausgelaugten Gesichter, fleckigen Mauern, schadhaften Schindeldächer, die Schuhe auf dem Asphalt, wie sie altern!«
Er hat sein Ziel nicht erreicht. Wer sagt denn, daß Alter, Krankheit und Feuertod mich abschrecken? Gut, daß es in dieser Stadt nicht nur künstliche Tropengewitter und Platzregen gibt wie im Südsee-Restaurant Tonga des Fairmont-Hotels. »Das Kulturleben hier ist tiefste Provinz«, warnt der Doktor, »das Repertoire unserer Oper besteht aus alten Schinken.« Er weiß nicht, daß ich diese ›alten Schinken‹ liebe, von Don Giovanni über Figaro bis zu Rigoletto, von der Bohème bis zu Tristan und Parzifal. »Ich will kein Kulturleben«, sage ich zum Doktor, »ein paar Jahre muß der Mensch aus sich selbst heraus leben.« Lange genug habe ich das fade Gericht, Bildung genannt, in mich...