PETER DER GROSSE
1672–1725
Kein Herrscher des Riesenreichs hat den Nerv der russischen Mentalität so sehr getroffen wie dieser Mann. Er öffnete das Zarenreich Richtung Westen und machte St. Petersburg zu seiner Hauptstadt.
Der Zar sitzt aufrecht auf einem sich aufbäumenden Pferd und hält seinen Arm schützend über das Land, vor ihm die Newa ( ? A 1, 4/5–K 1), hinter ihm die mächtige Isaakskathedrale ( ? C 5). Als Feldherr und Sieger wollte Katharina die Große ihn verewigt sehen, als sie 1782 das bronzene Denkmal vom Franzosen Étienne Falconet errichten ließ.
»Wie ehern ist des Reiters Stirn,
Wie machtvoll seiner Hand Gebärde,
Was für Gedanken wälzt dies Hirn,
Und welche Kraft steckt in dem Pferde!«
So dichtete Alexander Puschkin in seinem Poem »Der eherne Reiter«. Jedes russische Schulkind kennt die Verse auswendig. Die Geschichte ist schaurig: Die Braut eines armen Beamten ertrinkt im Hochwasser. Fluchend steht der Bräutigam am Denkmal und gibt Zar Peter die Schuld, weil er die Stadt an diesem unwirtlichen Ort errichten ließ. Da steigt der riesige Reiter wütend von seinem Sockel und hetzt den Mann durch das nächtliche St. Petersburg. Das Gedicht hat der Beliebtheit des Denkmals nicht geschadet. Im Gegenteil: Das Wahrzeichen der Stadt ist Fotokulisse für Brautpaare, die sich hier treffen und Blumen niederlegen.
Alles begann mit einem Segelboot, mit dem der 16-jährige Prinz Peter auf der Moskwa schipperte. Auf diesem kleinen Kahn, den er später das »Großväterchen der russischen Flotte« nannte, träumte er von einer Kriegsmarine und einem eisfreien Zugang zum Meer. 1700 ging Peter das Wagnis ein und erklärte der Ostseegroßmacht Schweden den Krieg. Drei Jahre später eroberten seine Truppen die Festung Nyenschanz am Finnischen Meerbusen. »Als sie die Küste erreicht hatten«, schreibt Orlando Figes in »Nataschas Tanz. Eine Kulturgeschichte Russlands«, sei Peter vom Pferd gestiegen: »Mit dem Bajonett stach er zwei Streifen Torf und legte sie in Form eines Kreuzes auf den sumpfigen Boden. Dann sprach Peter: ›Hier soll eine Stadt entstehen‹.« Der Legende nach flog bei diesen Worten ein Adler über seinen Kopf.
Am 27. Mai 1703, dem Gründungstag der Stadt, wurde acht Kilometer flussaufwärts der erste Spatenstich für die Peter-und-Paul-Festung 23 ( ? D 1) getan. Peter wählte als Ort die Haseninsel im Newa-Delta, die nur 600 Meter lang und 360 Meter breit ist.Schon 1704 war die erste Festung aus Holz fertig, 1706 wurde sie mit Steinmauern gesichert – kein militärisches Bollwerk, sondern ein Gefängnis. Erster Insasse war Peters ungeliebter Sohn Alexej. Er wurde des Landesverrats bezichtigt und gefoltert. Er starb 1718 an den Folgen der Tortur.
Um die Entstehung seiner Stadt zu kontrollieren, ließ Peter sich eine einfache Holzhütte mit zwei kleinen Zimmern ans Ufer der Newa bauen, in der er einige Jahre lebte. Viele Legenden ranken sich um diesen Ort. Demnach betätigte er sich gern als Lotse, stellte sich als »Piter« vor und lud so manchen Kapitän zum Essen ein. Später wurde das Häuschen auf Wunsch von Katharina der Großen mit Mauern umbaut. Seit 1930 ist hier ein Museum, das Haus Peters des Großen, eingerichtet, das den bescheidenen Lebensstil des Zaren dokumentiert.
SANKT PETRUS GAB DER STADT DEN NAMEN
Im Prinzip sprach fast alles gegen die Gründung einer Stadt an diesem Platz: das sumpfige Newa-Delta, das feuchte Klima, die Randlage im Russischen Reich. Doch der hünenhafte und willensstarke Herrscher war durch nichts aufzuhalten. Hier sollte sein »Fenster zum Westen« entstehen. Der Zar ließ Architekten aus Deutschland, Italien, Frankreich und der Schweiz kommen. »Als Bewunderer Amsterdams wollte er das nasse Element zähmen. Peter hatte sein Paradies gefunden«, schreibt sein Biograf Henri Troyat. Da hieß die junge Stadt noch nach holländischer Art »Sankt-Pieter-Burgh«, erst später wurde sie auf deutsche Art »St. Petersburg« genannt und von den Einwohnern zärtlich »Piter«. Allerdings nicht nach ihrem Erbauer, sondern nach deren Schutzpatron Simon Petrus.
Seine Stadt hat Peter mit Gewalt und unter Einsatz vieler Menschenleben aus dem sumpfigen Boden stampfen lassen. Der Gesandte Friedrich Christian Weber schrieb am 3. Februar 1718: »Es wird in diesem Reich alles mal ein Ende mit Schrecken nehmen, weil die Seufzer so vieler Millionen Seelen wider den Zaren zum Himmel steigen.« Zehntausende Zwangsarbeiter schufteten jahrelang unter schwersten Bedingungen. Ihre Unterkunft und Verpflegung war so miserabel, dass sich Krankheiten ausbreiteten, an denen um die 30000 Arbeiter zugrunde gingen.
Im Sommer des Jahres 1709 schlug Peters Armee die Schweden vernichtend in der Schlacht von Poltawa. Das war für ihn Anlass, die neu gegründete Siedlung drei Jahre später zur Hauptstadt zu machen. »Peter, der seit jeher eine besondere Liebe für das Meer hegte, war von der breiten, schnell strömenden Newa […] besonders angetan«, schreibt Orlando Figes. So befahl Peter seinem Schweizer Lieblingsarchitekten Domenico Trezzini, gegenüber seinem ersten Wohnhaus am anderen Ufer der Newa einen Sommerpalast 28 ( ? G 2) mit 14 Zimmern im holländischen Stil zu errichten.
Der auf einer Insel liegende Palast ist umgeben von einem Sommergarten. Der Park, der nach Peters Wunsch den Park von Versailles an Schönheit übertreffen sollte, beeindruckt die Besucher noch heute. Geometrisch angelegt, wurde er mit antiken Marmorskulpturen aus Italien geschmückt. Im Winter verschwinden sie in Holzkästen. Heute ist der Palast ein Museum und der Sommergarten nicht nur der älteste Park der Stadt, sondern auch der schönste. Frisch renoviert wurde er 2012 neu eröffnet: Die 91 italienischen Skulpturen strahlen wieder in reinstem Weiß, sie wurden aus Carraramarmor neu gefertigt. Die Originale stehen nun im Museum im gegenüberliegenden Michaelsschloss ( ? G 3).
Russland hatte sich mit dem Sieg über Schweden einen Zugang zur Ostsee gesichert, was das Prestige des Landes erheblich steigerte. Nach dem Ende des Großen Nordischen Kriegs 1721 war das russische Imperium geboren. Der Senat verlieh Peter den Titel Kaiser von ganz Russland, »Peter der Große«. Und groß war er in der Tat: Die Angaben schwanken zwischen 2,01 Meter und 2,15 Meter.
»Despotisch, zügellos, starrsinnig, archaisch wild – man hat Peter die verschiedensten Etiketten angehängt«, schreibt der Schriftsteller Daniil Granin in seinem Roman »Peter der Große«. Brutalität war dem 1672 in Moskau geborenen Thronfolger, Sohn des Zaren Alexei Michailowitsch, schon früh vertraut – durch grauenvolle Szenen, die sich vor seinen Augen abspielten, als Angehörige seiner Familie von Strelitzen, der Palastgarde des Kreml, ermordet wurden. Aber er war auch rastlos, energisch und wissbegierig.
»Ein Mann von nüchternem Verstand, wenn auch zu erschreckenden Trunkexzessen neigend, betrachtete er jedes Land, das er betrat, lediglich als eine Fortsetzung des Raumes«, schrieb Joseph Brodsky über den Zaren, der 1697 als 25-Jähriger für über ein Jahr inkognito als Unteroffizier in den Westen reiste. Er machte sich mit europäischer Lebensart, Technik und Wissenschaft vertraut. Für die Dauer seiner Abwesenheit setzte er einen Regentschaftsrat ein. Nach dieser Reise wollte er Russland aus seiner politischen Isolierung herausführen und die starren Traditionen durchbrechen, koste es, was es wolle.
Der Zar war erfinderisch im Erschließen neuer Geldquellen und belegte alles Mögliche mit Steuern. Russen, die auf ihre traditionellen Bärte nicht verzichten wollten, mussten eine Bartsteuer zahlen. Peter ließ auch die langen Kaftane und Mäntel kürzen. Den Städtern wurden praktischere westliche Kleider verordnet. Auch Verwaltung und Militär wurden modernisiert und mit dem 1. Januar 1700 der russische Kalender dem westeuropäischen angepasst. Seinem Hofstaat befahl er, schleunigst von Moskau nach St. Petersburg umzuziehen.
TÖDLICH ERKÄLTET NACH DEM RETTUNGSVERSUCH
Der Krieg gegen Schweden hatte für St. Petersburg einen weiteren Vorteil: Das Bernsteinzimmer kam in die Stadt. Dieses märchenhafte Meisterwerk war ein Geschenk seines Bündnispartners, des Preußenkönigs Friedrich Wilhelm I. Die kostbare Wandverkleidung wurde in Kisten verpackt und nach Petersburg verschickt und lagerte in Peters Sommerpalast. Erst seine Tochter, Zarin Elisabeth, ließ sie 1743...