Einleitung
Als Psychotherapeut, der über den Glauben schreibt, trete ich in ein Spannungsfeld, in dem der christliche Glaube schon immer steht: Der Mensch kann nicht von sich aus zu Gott finden, so lautet eine Überzeugung des christlichen Glaubens. Glaube wird geschenkt, wo Gott in die Menschheitsgeschichte und in das Leben von Menschen tritt. Alles andere wäre ein vergeblicher Versuch, sich durch gute Taten oder fromme Übungen selbst zu Gott zu bringen. Aber soll ein Glaubender dann die Hände in den Schoß legen und warten, bis Gott in sein Leben tritt? Nein, denn Gott hat sich ja bereits in die Menschheitsgeschichte verwickelt und das ruft Glaubende zu einer Antwort auf.
Allerdings hat unsere Antwort auf Gott viel mit unserer Persönlichkeit und unserer Lebensgeschichte zu tun. Ängste und Wunschbilder trüben unsere Wahrnehmung von Gott. Unsere menschlichen Reaktionen erschweren das Leben, in das uns der Glaube ruft. Von diesen Reaktionen handelt das Buch „Stachliger Glaube“. Darin geht es um unsere Stacheln, die wir gegenüber Gott und anderen Menschen aufrichten. Wo wir Schutzmechanismen überwinden, da findet unsere Leidenschaft Einklang mit unserem Glauben. Wir finden zu einem geerdeten, gefühlvollen und belastbaren Glaubensleben.
„Stachliger Glaube“ ist ein Teil der Stachel-Reihe: In „Stachlige Persönlichkeiten“ geht es darum, wie man schwierige Menschen entwaffnet, in „Meine Stacheln“ finden Sie Wege, auf denen Sie eigene Schwächen erkennen und entschärfen können. Schließlich leitet Sie „Stacheln in der Partnerschaft“ dazu an, Ihre Liebe vor Verletzungen zu schützen. Jedes dieser Bücher ist für sich alleine verständlich und es spielt keine Rolle, ob Sie nur ein Buch aus der Reihe lesen oder mehrere.
Die bisher erschienenen Titel der Stachelreihe kann auch lesen, wer zwar an spirituellen Themen interessiert ist, aber mit dem christlichen Glauben nicht viel anfangen kann. „Stachliger Glaube“ dagegen wird Ihnen nur Freude machen, wenn Sie ein wenig Interesse am christlichen Glauben haben. Denn die Gottesbeziehung und die Wege, auf denen Menschen in ihrem Glauben gehen, lassen sich nicht von der Glaubenstradition lösen, die sie bestimmt.
Wenn Sie selbst nicht glauben, ist es vielleicht reizvoll, den christlichen Glauben einmal von einer ganz anderen Seite kennenzulernen: nicht durch seine Gebäude, seine Bekenntnisschriften, seine traditionellen Veranstaltungen oder die Äußerungen bekannter Würdenträger, sondern so, wie er sich im Denken, Fühlen und Handeln von Glaubenden zeigt.
Dieses Buch unterscheidet sich von psychologischen Ratgebern. Denn der Glaube führt uns in den Bereich des Übernatürlichen. Bereits ein einfaches Gebet um Gottes Beistand rechnet mit etwas, das die physikalischen, biologischen und psychologischen Gesetzmäßigkeiten überschreitet. Ein Glaube ohne übernatürliche Erfahrung wäre kaum mehr als eine Selbstberuhigung, vergleichbar mit dem Kuscheltier eines Kindes: Das Plüschtier kann nichts tun, trotzdem beruhigt und tröstet es. Doch als Erwachsene wollen wir so nicht glauben. Wir wollen in eine spirituelle Wirklichkeit eintreten, die einen realen Einfluss auf unser Leben hat.
Gerade Suchenden schenkt Gott solche Erfahrungen manchmal ganz unverhofft, viele solcher Erfahrungen habe ich in diesem Buch festgehalten. Doch für den, der sich dauerhaft für eine übernatürliche Wirklichkeit öffnen will, hat die christliche Überlieferung einige Voraussetzungen formuliert. Auf ihnen beruhen einige Empfehlungen der folgenden Kapitel. Diese Voraussetzungen stelle ich hier in einer Weise voran, wie sie bei unterschiedlichen christlichen Konfessionen und Bewegungen Zustimmung finden dürfte:
Damit unser Glaube nicht im Nebel steht, brauchen wir ein Kriterium dafür, was wahr und richtig ist. Im christlichen Glauben ist dieses Kriterium das Leben und die Botschaft Jesu, wie sie in der Bibel überliefert werden.
Der Glaube gleicht einer Liebesbeziehung: Entweder gibt man sich mit seiner ganzen Person in die Beziehung oder man wird zerrissen: Wer liebt und zugleich sein altes Singleleben weiterführen möchte, wird nicht recht glücklich. Er fühlt sich von den Verpflichtungen, die seine Beziehung mit sich bringt, bald eingeengt. Wie in der Liebe gibt es im Glauben eine Probephase, in der Menschen die Tragfähigkeit ihres Glaubens prüfen. Doch wer Gott erfahren will, muss irgendwann zur Hingabe seiner ganzen Person finden. Im christlichen Glauben bedeutet das vor allem die Entscheidung, allem zu folgen, was Gott Ihnen als gut und richtig offenbart, selbst wenn das Ihrem Leben ungeplante Wendungen gibt. Es bedeutet auch die Verpflichtung, im Zweifelsfall der Liebe zu Gott und zum Nächsten Vorrang zu geben.
Glaube setzt außerdem eine spirituelle Freiheit voraus, die sich vom Bösen losgesagt hat. Wo Sie sich in Ihrem Leben schuldig gemacht haben, öffnet Sie ein Schuldbekenntnis nicht nur für Gottes Vergebung, sondern befreit Sie auch von den negativen spirituellen Auswirkungen, die unbereinigte Schuld hat. Glaubende wenden sich auch von allem ab, das sie unter schädliche geistliche Einflüsse bringt: von Lügen und Betrug, der materiellen oder sexuellen Ausbeutung anderer, dem Gebrauch von Suchtmitteln und manchem mehr. Sie wenden sich auch von Versuchen ab, eigenmächtig ins Übernatürliche vorzudringen, zum Beispiel durch esoterische Praktiken oder Wahrsagerei. In alledem geht es nicht nur um Moral, sondern um eine Freiheit von Einflüssen, die schädliche spirituelle Auswirkungen haben und Glaubende für die Wirklichkeit Gottes verschließen.
Schließlich mag ein Glaubensanfang alleine gelingen, aber ein Leben, das aus der Wirklichkeit Gottes schöpft, das gelingt nicht allein. Schon das „Vaterunser“ hat Jesus in der Mehrzahl gesprochen. Er hat seine Schüler in eine Gemeinschaft gestellt und sie nie allein losgeschickt, wenn er sie mit etwas beauftragt hat. So unvollkommen Kirchengemeinden in ihren Strukturen sind, so unvollkommen die Menschen, die ihnen angehören, erst in Gemeinschaft finden Glaubende in die volle Wirklichkeit des Glaubens. Doch auch das werden Sie bei der Lektüre dieses Buches entdecken: Es gibt eine große Vielfalt an Möglichkeiten, gemeinsam mit anderen im Glauben unterwegs zu sein. Diese werden der Vielfalt menschlicher Persönlichkeiten und den vielfältigen Wege gerecht, die Gott Glaubende führt.
Die folgenden Kapitel machen Sie jeweils mit einem Stachel bekannt, mit dem Glaubende Gott manchmal auf Abstand halten:
Der Stachel Abwerten sieht streng und überkritisch auf das Leben. Er lässt Gottes Wirken nur gelten, wenn es den eigenen, strengen Maßstäben genügt.
Der Stachel Selbstdarstellung macht sich und anderen manchmal etwas vor. Der Glaube erscheint dann stärker und makelloser, als er eigentlich ist.
Der Stachel Grenzen überschreiten treibt andere an, sich etwas zu nehmen, was Gott noch nicht gibt. Er kommt Gott zuvor und verpasst dadurch sein Wirken. Manchmal übt er Druck auf das Gewissen anderer Glaubender aus.
Der Stachel Vermeiden vertraut Gott – ein wenig. Er zögert und zweifelt. Derweil baut er andere Sicherheiten auf, die tragen könnten, falls Gott einmal im Stich lassen oder überfordern sollte.
Der Stachel Zu-stark-Sein sieht im Glauben einen Kampf, den es zu gewinnen gilt. Wenn er Widerstand erfährt, macht er sich hart, statt sich von Gott schützen oder von anderen Glaubenden tragen zu lassen.
Der Stachel Selbstüberforderung treibt Glaubende zu einem Einsatz, der sie erschöpft. Er will Gottes Erwartungen erfüllen. Doch gerade sein Beschäftigtsein und die Erschöpfung behindern die Begegnung mit Gott.
Der Stachel Bestrafen duldet keine Ungerechtigkeit. Er freut sich, wenn Gott die Fehler anderer zu bestrafen scheint, besonders, wenn Autoritäten etwas falsch gemacht haben. Wo Gott zu Ungerechtigkeit schweigt, nimmt der Stachel Bestrafen die Vergeltung manchmal selbst in die Hand.
Bereits in diesem Überblick sehen Sie, dass hinter den Stacheln ein Lebensthema steht, das manche aufgrund ihrer Lebensgeschichte besonders betrifft. Doch nicht nur Ihre Persönlichkeit, auch Ihre Lebenssituation bestimmt, welchen Stachel Sie aufstellen. Vielleicht neigen Sie überhaupt nicht zu Groll oder Rachegedanken. Doch wenn die Ungerechtigkeit in Ihrem Leben ein bestimmtes Maß überschreitet, werden Sie vermutlich auch Groll empfinden und an Rache denken. Daher wird manchmal Ihr Charakter und manchmal Ihre Lebenssituation bestimmen, in welchem Kapitel Sie sich wiederfinden. Sie können sich dabei an den Leitfragen orientieren, die am Anfang jeden Kapitels stehen.
Wenn Sie Menschen führen, in der geistlichen Begleitung oder in einem sozialen Beruf tätig sind, sind sicher alle Kapitel für Sie interessant.
In diesem Buch zitiere ich viele Passagen aus der Bibel. Dabei habe ich auf verschiedene Übersetzungen zurückgegriffen. Übersetzer müssen sich entscheiden, welche Aspekte eines Textes sie hervorheben, denn keine Übersetzung kann alle Bedeutungsnuancen wiedergeben. Ich habe immer diejenige Übersetzung gewählt, die das jeweilige Lebensthema des Kapitels hervorhebt. Im Anhang finden Sie ein Abkürzungsverzeichnis der biblischen Bücher und Bibelübersetzungen.
...