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KONZENTRIERE DICH AUF DAS, WAS DA IST – UND MACHE DARAUS MEHR
Tu, was du kannst, mit dem, was du hast, und dort, wo du bist.
Franklin D. Roosevelt
Es war wie eine Szene aus der Bounty-Werbung: Mein Körper lag im weißen Sand, über mir der blaue Himmel Mexikos. Die Sonne schien mir ins Gesicht. Ich konnte hören, wie der nahe gelegene Wasserfall in die Lagune stürzte, ein türkisblauer Spiegel umgeben vom satten Grün des Urwalds. Aber etwas stimmte nicht mit dem Hauptdarsteller dieses Spots. In dem Moment, in dem ich versuchte, meine Beine zu bewegen, wusste ich es: Ich war gelähmt. Querschnitt. Damals konnte ich die Lähmungshöhe nicht einschätzen, alle Details, die ich heute über mich weiß, waren mir nicht bekannt. Trotzdem war mir die Sache an sich sofort klar: So muss es sich anfühlen, dachte ich, während ich nach meinen Beinen tastete. Ja, so musste sich anfühlen, was ich während des Sportstudiums im Physiologiekurs über die sogenannte Querschnittläsion gelernt hatte. Um mich zu beruhigen, überprüfte ich den Rest meines Körpers: Was war noch da, was konnte ich noch bewegen? Weitere Fragen schossen mir durch den Kopf: Was blieb mir jetzt? Was hatte mein Leben noch für einen Sinn? Doch obwohl ich wusste, dass ich lediglich meine Hände bewegen konnte, war ich völlig klar. Ich war ruhig, funktionierte wie ein Roboter, als ginge es gar nicht um mich. Heute weiß ich: Das war der Schock, das Adrenalin. Ich hatte keine Schmerzen, zu dem Zeitpunkt jedenfalls nicht. Ich konnte mich nur nicht bewegen.
»Boris, kannst du mich hören?« Das Gesicht meines Kumpels und Reisegefährten Stefan tauchte über mir auf. Mit ihm hatte ich den ganzen Trip geplant; gemeinsam hatten wir zwei Studenten noch einmal ausbrechen wollen, bevor der Ernst des Lebens beginnen sollte. Er hatte mich aus dem Wasser gezogen und mir das Leben gerettet. Ja, ich konnte ihn hören. Nur bewegen konnte ich mich nicht. Dann waren da noch andere Stimmen. »Was ist mit ihm?« Unsere Reisegruppe scharte sich um mich. Zusammen mit ihr waren wir vom Hotel aufgebrochen, um dieses paradiesische Fleckchen Erde zu besuchen. Ich hörte sie klar und deutlich und gleichzeitig wie aus weiter Ferne. Ich sah erschrockene Gesichter mit aufgerissenen Augen und offenen Mündern, die sich über mich beugten, aber ich nahm die Menschen dahinter gar nicht wahr. Dafür brachen ihre Empfindungen umso stärker über mich herein, alle emotionalen Zustände von Angst über Ohnmacht bis hin zu Verzweiflung und Panik spürte ich so intensiv, dass ich das Bedürfnis hatte, ihnen zu helfen. Verrückt, wenn man sich meine Situation vor Augen hält! Das sollte mir von nun an häufiger passieren. Doch ich verbot es mir. Genauso wie ich mir verbot, die Gefühle der Gruppe an mich heranzulassen. Ich erlaubte mir nicht, Angst zu haben. Du musst funktionieren, um aus diesem verdammten Dschungel herauszukommen, dachte ich.
Ich wusste, dass etwas Furchtbares passiert war. Ich war mir sogar sicher, dass ich querschnittgelähmt war. Aber in Panik zu geraten, meinen Kopf zu verlieren, wortwörtlich außer mir zu sein statt bei mir, das gestattete ich mir nicht. Und das beantwortete auch meine Frage danach, was noch funktionierte: Mein Geist funktionierte klarer denn je, mein Überlebenswille war stark. Ich konzentrierte mich auf das, was da war, in diesem Fall auf meinen Verstand und meine Willensstärke – natürlich unbewusst. Heute denke ich, dass mir diese Haltung das Leben gerettet hat. Stefan hatte mich gerettet, indem er meinen Körper aus dem Wasser geborgen hatte. Jetzt rettete mich mein Geist ein weiteres Mal, indem er sich gegen die Angst der anderen zur Wehr setzte. Und was noch wichtiger war: Er wehrte sich gegen die unbeholfenen Versuche meiner Retter, mich wegzutragen.
»Nicht anfassen!«, waren meine ersten Worte. Ich wiederholte sie so oft, bis die Gruppe auf mich hörte. »Finger weg! Nicht anfassen!« Ich wusste, was passieren konnte, wenn sie versuchen würden, mich hochzuheben. Eine einzige falsche Bewegung konnte ausreichen, um mein Rückenmark – durch eine weitere Verschiebung der Wirbel – weiter zu beschädigen. »Holt eine Tür!«, rief ich stattdessen. »Besorgt eine Tür, auf die ihr mich legen könnt.« Keine Ahnung, woher diese Idee kam. Ich wusste nur, dass ich sie irgendwie dazu bringen musste, mich zu fixieren. Jede zusätzliche Bewegung konnte eine noch stärkere Lähmung bedeuten – oder sogar meinen Tod.
Unweit der Lagune öffnete sich der Urwald zum Meer hin. In einem Haus am Strand hatten einige aus der Reisegruppe eine Tür ausgehängt. Ich weiß noch genau, dass sie blau war. Auf dieser blauen Tür trugen sie mich zum Strand, um mich von dort auf einem Boot zum Krankenhaus zu bringen. Durch den Dschungel führten keine ausgebauten Wege, die Hauptverkehrsstraße war das Wasser. Die Strecke zum Boot kam mir vor wie 10 Kilometer – es werden in Wirklichkeit gerade mal 200 Meter gewesen sein. Dann lag ich auf meiner Tür im Boot, neben mir der wimmernde und schluchzende Reiseführer der Gruppe. Ich ließ nichts an mich heran, im Gegenteil: Ich verdrängte sogar die Gewissheit, querschnittgelähmt zu sein. Stattdessen dachte ich nur an den nächsten Schritt. Ich wollte es aus dem Dschungel heraus und ins Krankenhaus schaffen. Immerhin, du hast keine Schmerzen, dachte ich. Das stimmte. Ich stand noch immer unter Schock.
Ungefähr eine Stunde nach meinem Unfall war ich endlich im Krankenhaus, in dem das reinste Chaos herrschte. Ich lag irgendwo auf dem Gang, immer noch in Badehose, mein Körper voller Sand. Stefan telefonierte mit meinen Eltern, die vor Sorge fast durchdrehten. Auch das Finanzielle musste geregelt werden; um zu verhindern, dass sich mein Zustand verschlechterte, sollte ich schnell operiert werden. Wer würde die OP-Kosten übernehmen? Und wer würde für meinen Rücktransport aufkommen? Meine Eltern planten bereits, einen Kredit aufzunehmen. Eben noch Held der Bounty-Werbung, kam ich mir jetzt vor wie in einer schlechten Versicherungsreklame. Zum Glück fand sich dann eine Versicherung auf meinen Namen.
Natürlich mussten diese Dinge geregelt werden. Ich verstand das, aber es interessierte mich kein Stück, denn ich war in meinem eigenen Albtraum gefangen. Der Schock ließ nach, und jetzt kamen die Schmerzen wie ein Tsunami. Kein Atemzug, keine Bewegung ohne das Gefühl, dass mir jemand ein Messer von hinten in den Hals rammt und es danach in der tiefen Wunde hin- und herdreht. Willkommen in der Hölle auf Erden.
DER SCHOCK DER WAHRHEIT
Parallel dazu wurde mir langsam meine Situation bewusst. Zu den Schmerzen kamen die Ängste. Immer in Schüben, wie Ebbe und Flut. Doch nicht in Stundenintervallen, sondern in Minutenintervallen. Ein Kommen und Gehen. Der behandelnde Arzt hatte meine gebrochene Wirbelsäule im Bereich des sechsten und siebten Halswirbels mit einem Streckgerät fixiert, das über Klammern an meinem Kopf befestigt war. An den Stellen, an denen die Klammern saßen – am Hinterkopf und unterhalb des Kinns – wachsen bis heute keine Haare mehr. Ich sah aus wie der Hauptdarsteller aus Clockwork Orange und fühlte mich auch so. Mein Blickfeld war total eingeschränkt; alles, was ich sehen konnte, waren die Risse an der Zimmerdecke. Was mit meinem Körper geschah, ob ich einen Blasenkatheter bekam oder eine Infusion, ich spürte und sah es nicht.
Die Schmerzen veränderten sich. Jetzt fühlte es sich an, als würden der sechste und der siebte Halswirbelknochen herausstehen und durch die Haut austreten. Tatsächlich schmerzten die gequetschten Nerven – oder, besser gesagt, der Teil, der noch nicht zerstört war. Diesen Schmerz konnte ich noch genau lokalisieren. Die diffusen Schmerzen und die Nebenwirkungen, mit denen sich Körper und Geist gegen die neue Situation zu wehren versuchten – Phantomschmerzen, Fieberschübe, eine verschleimte Lunge –, sollten erst in Deutschland einsetzen.
Schaffte ich es, die Schmerzen zu ignorieren, kamen die Ängste. Und die immer gleichen Fragen quälten mich unaufhörlich: Was war mein Leben jetzt noch wert? Was sollte jetzt noch aus mir werden? Von den Konsequenzen, die der Unfall tatsächlich für mich haben würde, hatte ich keine genaue Vorstellung, und ich weigerte mich noch, darüber nachzudenken. So viel war klar: Vor dem Unfall war ich ein Spitzensportler gewesen. Nun wusste ich, dass ich meine Karriere als Tennisspieler und Trainer vergessen konnte. Aber da war noch meine zweite große Passion neben dem Sport – die Musik. Dann studiere ich eben Saxofon und Klarinette, sagte ich mir, die Finger tun es ja noch. Doch auch das sollte sich bald ändern. Noch – ich wusste damals nicht, wie viel Gewicht dieses unscheinbare Wort haben würde.
In Mexiko wurde ich das erste Mal operiert. Ich hatte keine Angst. Mein Arzt war Neurologe und in den USA ausgebildet worden, hatte man mir gesagt. Nach der OP nahm die Beweglichkeit meiner Finger ab, aber ich machte mir keine Sorgen. Keine Panik, dachte ich, das gehört vielleicht dazu, die Beweglichkeit wird schon wiederkommen. Sie kam nicht wieder. Dafür kam ein Learjet aus Deutschland, um mich auszufliegen, der Versicherung sei Dank. Der deutsche Notarzt war schockiert von dem Chaos im Krankenhaus und von meinem Zustand. Ich habe seine Worte noch im Ohr. Er betrat das Zimmer und begrüßte mich mit den Worten: »Um Gottes willen, nichts wie raus hier!« So verließ ich zwei oder drei Tage nach meinem Unfall das Land, in das ich vor dem sogenannten Ernst des Lebens geflohen war – und der mich hier mit voller Wucht wieder eingeholt hatte.
Ein Flug mit einem kleinen, zweistrahligen Learjet von...