April 1982
Es war ein verregneter und typischer Apriltag mit Sonne, Regen und Schnee, und meine Eltern waren in voller Vorfreude auf ein neues Familienmitglied, das bald zur Welt kommen sollte: mich!
Meine Mutter, damals zarte einundzwanzig Jahre alt, hochschwanger und schon sogenannte Stiefmutter meiner damals elfjährigen Halbschwester Anja.
Anja war, was für heutige Verhältnisse absolut normal ist, ein Scheidungskind, und mein Vater hatte das alleinige Sorgerecht für sie. Ein paar Jahre nach der Trennung von seiner ersten Frau lernte mein Paps meine Mutter kennen. Der Altersunterschied von zehn Jahren – heute ja auch nichts Besonderes mehr – störte die beiden von Anfang an herzlich wenig. Das Familienmodell war für die 80er-Jahre tatsächlich ungewöhnlich, aber meine Eltern waren glücklich, und Anja war es mit ihrer »neuen Mutter« auch.
»Lass mich doch die Zeitung eben mit dem Fahrrad holen, Papa«, bat Anja meinen Vater an diesem Tag, dem Karfreitag 1982. Meine Eltern waren mit Freunden verabredet, und die hatten gefragt, ob meine Eltern ihnen die Tageszeitung vom Kiosk mitbringen könnten. Es war kurz nach dem Mittagessen: Fischstäbchen, Kartoffeln und Salat. Anjas Lieblingsessen.
»Nein, Anja, es ist viel zu kalt und ungemütlich. Wir fahren doch jetzt eh gleich mit dem Auto am Kiosk vorbei.«
»Och bitte, Papa!«
Anja fuhr für ihr Leben gerne Fahrrad, und so stimmte mein Vater schlussendlich zu. Das kleine Lädchen war schließlich nur drei Minuten mit dem Fahrrad entfernt.
Ich sollte Anja niemals kennenlernen.
Die Fahrt zum Kiosk war für sie die letzte Fahrt ihres kurzen Lebens.
Anfang der 1980er-Jahre gab es keine Fahrradhelme. Wenn es sie schon gegeben hätte, würde die Geschichte ab jetzt vielleicht anders weitergehen. Hätte. Würde. Könnte. Sie können sich vorstellen, wie oft sich meine Eltern mit diesen zerstörerischen, sinnlosen Fragen gequält haben, die zu nichts führen.
Kurz nachdem meine Mutter »Jetzt könnte sie aber langsam zurückkommen« gedacht hatte, hörten sie das Martinshorn. Ein Ton, der vor diesem Tag ein ganz normales Alltagsgeräusch war und nach dem Karfreitag 1982 zu einem kaum erträglichen Erinnerungsruf wurde.
»Ich gehe jetzt schauen, wo sie bleibt«, sagte mein Vater zu meiner hochschwangeren Mutter.
Er ging den Weg zum Kiosk zu Fuß ab und fragte den Besitzer, ob Anja dort gewesen sei.
»Nein, war sie nicht. Aber hier ist eben ein Unfall passiert«, so seine Antwort.
»Direkt danach sehe ich den Polizeiwagen um die Ecke kommen und erkenne ad hoc Anjas Fahrrad hinten im Kofferraum«, erzählt mir mein Vater knapp fünfunddreißig Jahre später. Ich will von ihm wissen, ob er gleich wusste, dass etwas Schlimmes passiert sei, und er antwortet: »Nein. Auch als die Polizei mir sagte, dass ein Mädchen verunglückt sei und in ein Krankenhaus gebracht wurde, dachte ich: ›Bestimmt nur ein Beinbruch.‹«
Und wissen Sie, was das Erstaunliche ist? Diesen Grundoptimismus hat sich mein Vater beibehalten. Erst mal vom Besten ausgehen. Ich hätte es als total »normal« empfunden, wenn sich das nach diesem Karfreitag 1982 komplett geändert hätte. Wenn er ab da bei allem und jedem, was ihm oder seiner Familie in Zukunft widerfahren würde, das Schlimmste geahnt hätte.
Ich vermute, dass dieser Grundoptimismus, dieser nicht vorhandene Schalter zum Kopfkino, angeboren ist oder eben auch nicht. Denn wenn Sie meine Mutter fragen, was sich in ihrem Kopf abspielte, als sie die schreckliche Nachricht hörte, würde die Antwort anders ausfallen.
»Wir mussten dann die einzelnen Krankenhäuser abfahren, denn niemand wusste, wo sie hingebracht worden war«, erzählen mir meine Eltern weiter. Beide durchleben durch unser Gespräch eine Art Zeitreise. Der Schmerz ist in ihren Gesichtern ablesbar.
Als sie endlich das richtige Krankenhaus gefunden hatten, lag Anja schon im OP.
»Es sieht nicht gut aus. Sie hat eine schwere Kopfverletzung«, erklärte man ihnen.
Später, als Anja auf die Intensivstation gebracht wurde, legten die Ärzte meiner Mutter nahe, aufgrund ihres »Zustandes« nicht mitzugehen. Sie verneinte erst heftig, schaffte aber dann noch nicht mal den Blick durch die Trennscheibe zu Anjas Zimmer.
Anja hatte eine schwere Hirnverletzung und war klinisch tot. Maschinen hielten sie am Leben. Zwischen »Tschüs, Papa!« und dem Hirntod lag eine junge Autofahrerin, die eine Sekunde nicht aufgepasst hatte.
Ich kannte natürlich »unsere« Geschichte, den Ablauf, die Fakten: Ich wusste, dass die Fahrerin nicht »bestraft« worden war, dass sie sich nie entschuldigt, sondern noch verlangt hatte, dass meine Schwester die Windschutzscheibe bezahlen sollte (»Immerhin hat sie sie ja mit ihrem Körper kaputt gemacht!«), ich wusste, dass meine Eltern danach aus der Innenstadt aufs Dorf zogen, ich wusste, dass mein Vater innerhalb von einer Nacht ergraut ist … all das wusste ich. Aber was ich nicht wusste, war, wie insbesondere mein Vater – denn es war ja seine leibliche Tochter – es geschafft hat, nicht von der Brücke zu springen.
Wenn Sie selber Kinder oder Geschöpfe um sich haben, die Sie lieben wie eigene Kinder, dann bin ich mir sicher, dass Ihnen alleine vom Lesen die Brust schmerzt. Es ist die schlimmste Vorstellung für Eltern: das eigene Kind zu Grabe zu tragen.
Meinen Eltern ist es passiert. Und heute – da ich selber Mama bin – zerreißt es mir das Herz.
»Papa, wie hast du es geschafft, wieder aufzustehen? Morgens und überhaupt? Wie konntest du mir ein guter Vater sein und mir Fahrradfahren beibringen?«, will ich von ihm wissen.
»Der Grund bist und warst du. Ohne dich hätte ich es nicht geschafft.«
Anja starb genau eine Woche später. Die Ärzte erklärten meinen Eltern, wenn sie noch mal wach werden sollte, was nahezu ausgeschlossen war, dann würde sie ein schwerer Pflegefall werden. Eine Woche nach Karfreitag durfte sie gehen.
»Es war wie ein böser Traum«, verrät mein Vater. »Alles war wie unter einer Glocke. Und ich weiß noch, dass ich dachte: Wie können die Menschen draußen normal rumlaufen? Meine Tochter ist tot. Wie können die alle hier normal leben?«
Und in dieser schlimmsten Zeit im Leben meiner Eltern stand meine Geburt bevor.
Tod und Leben. So nah beieinander.
»Ganz am Anfang erzählte Papa die Geschichte immer und immer wieder. Heute weiß ich, dass er unter Schock stand. Wir fuhren Hunderte von Malen zur Unfallstelle, und er fing an, Skizzen anzufertigen und Bremswege auszurechnen«, erzählt meine Mutter.
Als schließlich die Mitteilung vom Staatsanwalt kam, dass die Ermittlung gegen die Autofahrerin »wegen Nichtigkeit eingestellt« worden sei, schrieb mein Vater einen Brief, der zur Folge hatte, dass das Verfahren wieder aufgerollt wurde und die Fahrerin zu 600 DM Spende für einen guten Zweck verurteilt wurde.
»Wie ging es weiter? Wie ging das Leben für euch weiter?«, frage ich meinen Vater.
»Ich habe viel über Unfälle von anderen Kindern gelesen. Ich weiß, das klingt komisch, aber mir hat es geholfen zu wissen, dass ich nicht alleine bin. Ich besuchte sogar andere Kinderfriedhöfe und schaute, wie alt diese Kinder werden durften.«
Jetzt kann man sich vielleicht vorstellen, dass das nicht gerade das ist, was man als hochschwangere Frau gerne machen möchte. Die Art und Weise, wie meine Eltern diesen Schock verarbeiteten, ging also weit auseinander. Während meine Mutter sich ganz darauf konzentrierte, das Ungeborene in ihrem Bauch zu schützen, war mein Vater auf der Suche nach Leidensgenossen.
»Das Schlimmste für mich war das schlechte Gewissen, das mich lange begleitete. Nicht nur weil ich mich schuldig fühlte, dass ich ihr erlaubt hatte, mit dem Fahrrad loszufahren. Sondern auch, weil ich irgendwann versuchte, mich wieder mit normalen Sachen zu beschäftigen. Wenn ich lächelte, holte mich sofort mein Gewissen ein: ›Deine Tochter ist tot, und du lachst.‹«
»Wann bist du wieder arbeiten gegangen?«, frage ich ihn.
»Eine Woche nach ihrem Tod.«
»War das rückblickend gut?«
»Sehr gut.«
Noch mal: Ich bin keine Psychologin. Das ist kein Versuch, die Situation zu bewerten oder gar zu beurteilen. Ich gebe nur wieder, was mir meine Eltern erzählt haben. Nicht mehr und nicht weniger.
»Und was passierte, als ich geboren wurde?«
»Da war das erste Mal seit Langem wieder Freude in seinem Gesicht«, sagt meine Mutter.
»Als Anja starb, war mir alles egal. Morgens bin ich in ihr Zimmer gegangen und sah sie vor mir, wie sie in ihrem Zimmer spielt. Und nun war alles leer. Ich wusste, sie kommt nicht mehr zurück. Stattdessen liegt sie in dieser kalten Schublade in der Gerichtsmedizin. Lasst sie doch einfach in Ruhe! Die Beerdigung und die täglichen Besuche auf dem Friedhof hatten etwas Tröstliches für mich. In dieser Zeit konnte ich...