Einleitung – Wovon wir bei Sterbehilfe reden
Auf seiner Internetseite[1] bietet der schweizerische Verein „DIGNITAS – Menschenwürdig leben – Menschenwürdig sterben“ eine Broschüre mit dem Titel „Wie funktioniert DIGNITAS? Auf welcher philosophischen Grundlage beruht die Tätigkeit dieser Organisation?“ an. Diese „Streitschrift“ behandelt neben der Beschreibung von Verfahren und der Kritik von und an „Politikerinnen und Politiker, die auf Grund ihrer engen religiösen weltanschaulichen Grundlage den Suizid innerlich ablehnen[…]“[2] das Beispiel einer Frau namens Bettina Meierhofer. Sie ist Interessentin der „Freitodbegleitung“[3] und stammt aus München. Der Bezug zu Deutschland und den deutschen Bestimmungen zur Sterbehilfe zieht sich durch diesen Prospekt, auch in Form eines abgedruckten E-Mail-Kontakts mit Frau Meierhofer. Im zweiten Abschnitt dieser „Streitschrift“ wird die „Philosophisch-politische Grundlage der Tätigkeit von DIGNITAS“ vorgestellt und erläutert[4]. Die Erörterung bietet den Interessenten von DIGNITAS insofern eine Argumentationshilfe, als hier einerseits die verfassungspolitischen und juristischen Vorgaben im Rechtssystem der Schweiz präsentiert und kommentiert werden. Andererseits operiert das Institut DIGNITAS („Würde“ von dem lateinischen Lexem <dignitas>) auf der philosophisch-ethischen Ebene, indem Schlüsselbegriffen wie Menschlichkeit, Solidarität, Pluralität, Respekt und demokratische Entscheidungsfreiheit vorgestellt und diskutiert werden. Bezeichnenderweise schließt dieser philosophische Teil mit dem Kapitel „Der Bürger ist nicht Objekt des Staates“ gleichsam programmatisch[5].
Dieses Beispiel von DIGNITAS zeigt, wie es möglich ist, aus einer vergleichsweise defensiven und konservativen Position heraus eine Argumentationstopik zu entwickeln, um das Konzept der Sterbehilfe zu legitimieren und auf mehreren Ebenen – nämlich rechtlich, verfassungspolitisch, ethisch und nicht zuletzt wirtschaftlich – zu begründen.[6] In der vorliegenden Untersuchung soll zunächst auf kritische Bewertung eines solchen Konzepts verzichtet werden. Das Erkenntnis leitende Interesse meiner Untersuchung gilt nicht der Erschließung und Begründung von Normen. Im Zentrum der folgenden Ausführungen steht das Interesse an anwendungsorientierten und bioethischen Fragestellungen im Zusammenhang des komplexen Themas „Sterbehilfe“. Prägnant formuliert: Die vorliegende Untersuchung verfolgt einen handlungs- und anwendungsorientierten Ansatz im Sinne eines bioethischen Modells.
Zum gegenwärtigen Zeitpunkt ist die öffentliche Debatte um die aktive und passive Sterbehilfe […] mit einer „Reihe von Unklarheiten belastet […].“[7]
Innerhalb der EU sind sowohl der Diskussionsstand als auch die rechtlichen Regelungen unterschiedlich. In den Niederlanden und in Belgien sind beispielsweise „Gesetze in Kraft gesetzt, die unter gewissen Bedingungen zulassen, dass ein Arzt einen Patienten auf dessen Wunsch hin töten darf.“[8] Trotz dieser gesetzlichen Regelungen hält die Kontroverse auch in den BENELUX-Staaten unvermindert an. Vor allem die beiden Volkskirchen (römisch-katholische Kirche und evangelische Kirche[n]) treten in den öffentlichen Diskussionen fast ausnahmslos als entschiedene Gegner der aktiven und passiven Sterbehilfe auf. Als typisch kann hier die von Johannes Paul II. stammende Stellungnahme „Evangelium vitae“ vom 25. März 1995 gelten, wo in §64 die Position der römisch-katholischen Kirche eindeutig formuliert wird:
„Wir stehen hier vor einem der alarmierendsten Symptome der »Kultur des Todes«, die vor allem in den Wohlstandsgesellschaften um sich greift, die von einem Leistungsdenken gekennzeichnet sind, das die wachsende Zahl alter und geschwächter Menschen als zu belastend und unerträglich erscheinen läßt. Sie werden sehr oft von der Familie und von der Gesellschaft isoliert, deren Organisation fast ausschließlich auf Kriterien der Produktion und Leistungsfähigkeit beruht, wonach ein hoffnungslos arbeitsunfähiges Leben keinen Wert mehr hat.“[9]
Angesichts der Kontroversen auf den unterschiedlichsten Diskursfeldern ist es unerlässlich, den Begriff der Sterbehilfe zu definieren und die Implikationen, die mit diesem Begriff verbunden sind, zunächst zu bündeln.[10]
Sterbehilfe setzt das Zusammenwirken von zwei Individuen voraus, nämlich das „Ko-Agieren“ eines Patienten[11] und eines approbierten Arztes[12]. Drei Kriterien sind für das Zusammenwirken und die konkrete Vorgehensweise der beiden Personen unabdingbar[13].
(1) Derjenige, dessen Handeln[14] oder Nicht-Handeln, den Tod des Patienten verursacht, ist nicht der Patient selber.
(2) Der Patient hat der Handlung oder Nicht-Handlung, die seinen Tod verursacht, zugestimmt.
(3) Der Tod des Patienten ist absehbar oder das Weiterleben des Patienten bringt unabwendbares Leid mit sich.
Wieso sind diese Unterscheidungen wichtig? Ohne die Bedingung (1) ist eine Grundvoraussetzung der Sterbehilfe nicht gegeben. Wären der Verursacher des Todeseintritts und der Patient identisch, handelte es sich um Selbsttötung oder aber um Beihilfe zur Selbsttötung. Letzteres wäre nur erfüllt, wenn eine weitere Person unterstützend beteiligt ist.[15]
Bedingung (2) ist wichtig, da Sterbehilfe der Einwilligung des Sterbenden bedarf. Ohne die Zustimmung des Patienten würde das ärztliche Handeln als Totschlag bewertet.[16]
Zuletzt wird durch Bedingung (3) gesichert, dass der Patient nicht aus niederen Beweggründen seinen eigenen Tod wünscht. Dieser Punkt ist – ausgehend von einer Allgemeingültigkeit – insofern problematisch, als er bestimmte Voraussetzungen und Werte impliziert. Dennoch erscheint es sinnvoll, dieses Kriterium einzuführen. Der Wunsch zu sterben kann - der Intuition folgend - durch verschiedene emotionale Zustände ausgelöst werden. Private und berufliche, ökonomische und zwischenmenschliche Probleme (u.a.) können sich zu einem derartigen Wunsch verdichten. Abhängig von der jeweiligen Person kann es zur Auslebung des Wunsches kommen, wie – möglicherweise – bei Adolf Merckle geschehen, der sich am 05.01.2009 nach Börsenfehlspekulationen vor einen Zug warf.[17] Ein Akt der Sterbehilfe aus einem ähnlichen Grund wäre grundsätzlich nicht tragbar.
In einem vorläufigen Sinne lässt sich Sterbehilfe demnach folgendermaßen definieren:
Eine durch Krankheit leidende Person hat den Wunsch geäußert zu sterben. Sie ist ohne Hilfe nicht in der Lage, den eigenen Tod gesichert herbeizuführen. Die Person fordert Hilfe bei einem Arzt ein. Dieser soll mit geeigneten Maßnahmen den sicheren und schmerzfreien Tod verursachen.
Weder im Grundgesetz noch im BGB ist die Rechtslage zur Sterbehilfe in der Bundesrepublik Deutschland eindeutig geregelt. Die Rechtssprechung gemäß §211 Strafgesetzbuch (Mord) bzw. §212 Strafgesetzbuch (Totschlag) ist bezüglich der Sterbehilfe in den letzten Jahren vergleichsweise kompliziert gewesen. Hinzu kommen Regelungen verschiedener Art durch die zuständigen und betroffenen Berufsgruppen wie Ärzte, Pflegepersonal und Betreuer. Diese Bestimmungen sind zwar an die Gesetzgebung gebunden, aber durchaus als voneinander getrennte und eigenständige „Dienstanweisungen“ zu betrachten.[18]
Es scheint, als ob es zum gegenwärtigen Zeitpunkt in der Bundesrepublik Deutschland keine eindeutige, geschweige denn zweifelsfreie Rechtslage im Bereich der Sterbehilfe gibt. Entscheidend ist in dieser Hinsicht immer die rechtlich-gerichtliche Interpretation des ärztlichen Handelns (gemäß §211 und §212 StGB). Bei der Bewertung dieses Handelns spielen wissenschaftliche Positionen eine zentrale Rolle. Die aktuelle Diskussion in Deutschland ist weit von einem Konsens entfernt. Auf der einen Seite wird den beiden christlichen Kirchen eine Schlüsselposition zugewiesen. Die Kirchen beziehen mutatis mutandis in den öffentlichen Diskussionen oder ethischen Kommissionen eine vergleichsweise eindeutige Position. Unter Berufung auf das biblische Zeugnis wird jede Form aktiver und passiver Sterbehilfe entschieden abgelehnt und als verwerfliches Handeln bezeichnet. Allerdings ist die „Monopolstellung“ der beiden Volkskirchen in den letzten 15 Jahren nicht nur in Frage gestellt, sondern de facto auch überwunden worden. Gegen die religiös-weltanschauliche Position der Amtskirchen sind inzwischen von unterschiedlichster Seite Einwände erhoben worden. Überblickt man die (Forschungs-) Literatur[19] der letzten Jahre, fällt auf, dass die Diskussion über das Thema Sterbehilfe interdisziplinär geführt wird. Dadurch hat sich ein komplexes Spektrum unterschiedlichster Positionen von Gegnern und Befürwortern der Sterbehilfe ergeben.[20]
Die Bedeutung der Religion und kirchlicher Einrichtungen im Zusammenhang mit der Sterbehilfe ist unbestreitbar vorhanden. Hospize, kirchliche Dienstleistungsangebote und Pflegeeinrichtungen mit kirchlichem...