Die Kraft des Erzählens –
Haltung und Hintergründe
Die Wiederentdeckung des narrativen Denkens
Zahlen sind nicht alles
Was ist der Wert eines Unternehmens? Was leistet eine Organisation? In aller Regel wird man auf eine solche Frage zunächst eine quantitative Antwort bekommen, eine Beschreibung, die eine ganze Reihe von Fakten enthalten wird: Umsatzzahlen oder DAX-Punkte, Mitarbeiteroder Mitgliederzahlen, Aufzählungen von Produkten und Projekten, Erwähnungen von messbaren Erfolgen. Zielvereinbarungen für Führungskräfte werden in Summen des Geschäftswertbeitrags gemessen, Wachstumspotenziale von Unternehmen in prozentualen Marktanteilen, Erfolge von Hilfsorganisationen in Spendensummen und Mengen verteilter Hilfsgüter.
Damit wir uns nicht falsch verstehen: Das ist auch genau richtig so. Quantitative Messbarkeit ist eine Voraussetzung für erfolgreiche Unternehmensführung. Die Frage ist jedoch, ob die Konzentration auf das rein Faktische, auf Zahlen, Daten und Argumentationsketten, wirklich ausreichend ist, um eine Organisation beurteilen zu können oder um ein Unternehmen nachhaltig erfolgreich zu führen. Deutlich wird dies beispielsweise an der Diskussion über das Gleichgewicht von »Hard Factors« und »Soft Factors«: Versuche wie die der »Balanced Scorecard«, Soft Facts in harte Zahlen umzurechnen, sind wenig überzeugend. Wenn die Motivation von Mitarbeitern vor allem durch die Anzahl der Fehltage gemessen wird, muss man sich fragen, was da wirklich gemessen wird. Bezeichnenderweise gingen in den letzten Jahren die Fehlzeiten bei steigender Arbeitslosigkeit stetig zurück. Sind die Mitarbeiter motivierter geworden? Identifizieren sie sich mehr mit dem Unternehmen? Oder haben sie einfach nur Angst, ihren Job zu verlieren, wenn sie zu oft krank sind? Wenn wir dagegen die Mitarbeiter bei unseren Storytelling-Analysen ihre Arbeitsbiografie erzählen lassen, wird in diesen Geschichten sehr schnell deutlich, was die strukturellen Hintergründe für Motivation oder Demotivation sind. Oder andersherum: Die Voraussetzung für Motiviertheit ist, dass Mitarbeiter Zusammenhänge kennen und sich im »großen Ganzen« mit ihrer Arbeit verorten können. Und das bedeutet letztlich nichts anderes als: Welchen Platz hat ihre Arbeit in der Story des Unternehmens? Und wie klar ist diese Story den Mitarbeitern eigentlich? (Mehr dazu finden Sie in unserem Buch »Das Unternehmen im Kopf. Storytelling und die Kraft zur Veränderung«.) Das Beispiel zeigt, dass es offenkundig auch für Unternehmen schwierig ist, alles mit einem argumentativ-quantifizierenden Denken zu beschreiben und zu vermitteln. Auch das »Image« einer Organisation erschöpft sich offenkundig nicht in der Aufreihung bestimmter Daten und Fakten. Marken werden nicht einfach dadurch beworben, dass man Preise und Produktfeatures auflistet. Die Werte eines Unternehmens, seine Ziele, sein Spirit und seine Leitideen lassen sich nicht befriedigend durch eine bloße Aufzählung von entsprechenden Substantiven und Aussagesätzen kommunizieren. Interessanterweise kommen in solchen Kontexten seit jeher Geschichten zum Einsatz: Gründer brauchen natürlich eine Geschäftsidee, aber sie brauchen auch eine Story, um Investoren, Stakeholdern und Mitarbeitern zu vermitteln, wohin der Weg führen soll. Organisationen definieren sich auch über ihre Geschichte, wenn sie andere für ihre Arbeit und ihre Ziele begeistern wollen. Offenbar gibt es also auch in Unternehmen zwei Arten, über die Realität zu kommunizieren: eine rein faktisch-argumentie-rende und eine narrative.
Zwei Arten, zu denken
Schon in den 80er Jahren des letzten Jahrhunderts hat der in New York und Harvard lehrende Psychologe Jerome Bruner diese beiden Herangehensweisen an die Wirklichkeit untersucht und die beiden zugrunde liegenden Denkweisen als »logisch-wissenschaftliches« beziehungsweise »argumentatives« Denken einerseits und »narratives« Denken andererseits beschrieben (Bruner 1986). Beide Arten zu denken liefern einen jeweils unterschiedlichen Zugang zur Welt, und beide sind notwendig, um die Welt, in der wir leben, verstehen und in ihr handeln zu können. Bruner macht dabei ganz deutlich, dass diese beiden Denkweisen nicht gegeneinander austauschbar sind: Eine Geschichte ist nicht nur eine andere, vielleicht nettere Art, etwas auszudrücken, was ich auch rein argumentativ ausdrücken könnte. Umgekehrt ist eine Geschichte nie vollständig übersetzbar in eine logische Schlussfolgerung oder eine Kette von Argumenten: Eine Geschichte ist immer mehr als die Menge an Fakten, die in ihr stecken. Und Bruner macht auch klar, dass wir beide Arten zu denken brauchen, wollen wir uns in der Welt erfolgreich orientieren und bewegen. Denn mit dem argumentativen Denken erfassen wir die Fakten und die allgemeinen Regeln und Gesetze der Welt, mit dem narrativen Denken schaffen wir Zusammenhänge, Sinn, Orientierung und Visionen für die Zukunft. Mit dem logisch-wissenschaftlichen Denken hat die Menschheit die Gesetze der Schwerkraft entdeckt, mit Geschichten wie der von Ikarus und Daedalus hielt sie den Traum vom Fliegen wach – bis es gelang, ihn zu verwirklichen. Das argumentative Denken brauchen wir, um die vielen kleinen und großen Herausforderungen des Alltags – den Umgang mit Geld, die Aufgaben, die unsere Berufstätigkeit uns stellt, oder die Planung eines Urlaubs – zu bewältigen. Das narrative Denken setzen wir dann ein, wenn wir uns die Frage beantworten wollen, welchen Sinn das hat, was wir tagtäglich tun: Wenn ich erst einmal dies oder das erreicht habe, dann … – und schon sind wir mitten in einer Geschichte.
Historisches Ungleichgewicht
In unserer westlichen Kultur hat sich in den letzten Jahrhunderten in vielen Bereichen das Gleichgewicht zwischen den beiden Denkarten zuungunsten des narrativen Denkens verschoben. Unter anderem auch die Abläufe in der Wirtschaft und in Unternehmen wurden und werden als ein reiner Hort des argumentativen Denkens, von Zahlen, Daten, Fakten und Schlussfolgerungen gesehen. Das Einzige, das dabei immer wieder zu stören scheint, ist der Kunde oder der Mitarbeiter: die Menschen mit ihren Träumen, Vorstellungen, Visionen und Lebenszusammenhängen, ohne die es kein Unternehmen gäbe. Deshalb ist das zunehmende Interesse, das man seit einigen Jahren an Storytelling in Unternehmen beobachten kann, weit mehr als nur eine neue Managementmode: Es ist die Wiederentdeckung der fehlenden anderen Seite des Denkens, die Wiederentdeckung des narrativen Denkens – weil man zunehmend merkt, dass man mit der rein argumentativen Art des Denkens an Grenzen gestoßen ist.
Die Tradition des narrativen Denkens
Wenn wir von einer Wiederentdeckung des Erzählens sprechen, dann deshalb, weil das narrative Denken keine neue Erfindung ist – sondern eine der ältesten. Die früheste Hochkultur der Menschheit, die der Akkader und Sumerer im heutigen Irak, hat uns zwei Arten von Texten überliefert, in Keilschrift auf Tontäfelchen geschrieben: einerseits Lagerlisten, Handelsbriefe, Kaufverträge und Ähnliches, andererseits Geschichten. Beide Arten zu denken waren also von Anfang an vorhanden, beide wurden für wert befunden, auf Tontäfelchen mühevoll aufgezeichnet und konserviert zu werden.
Die ältesten Geschichten der Menschheit, die Mythen, hatten sogar eine ganz besondere Bedeutung für die Kultur: Sie deckten zu großen Teilen all das ab, was wir heute Wissenschaft, Religion, Ethik oder Recht nennen. Das Gilgamesch-Epos der Sumerer, der älteste mythische Text, den wir kennen, beschreibt etwa die Reise des Königs Gilgamesch durch die gesamte damals bekannte Welt, vom Libanon zum persischen Zagros-Gebirge und sogar in die Unterwelt, ins Reich der Toten und der Götter: Der Leser oder Zuhörer des Epos bekommt also dabei eine Geografiestunde, er lernt die Welt kennen. In der Geschichte treten auch immer wieder die Götter auf und bekunden ihren Willen: Der Leser erfährt, was sie wollen und wie man sich ihnen gegenüber verhält – religiöse Belehrung. Zu Beginn des Epos nutzt Gilgamesch seine Stärke und seine Macht rücksichtslos aus, indem er das »Recht der ersten Nacht« mit jeder jungen Frau im Reich fordert. Die Götter heißen dieses Verhalten nicht gut und erschaffen aus Lehm Enkidu, einen Mann, der ebenso stark ist wie Gilgamesch und dessen Treiben Einhalt gebieten kann: Dem Leser wird ein ethisches Verhaltensmodell vermittelt, ihm wird klar, was gut und was böse ist. Und natürlich, so ganz nebenbei, ist diese Geschichte auch sehr unterhaltsam.
Im Lauf der Jahrhunderte differenzierten sich dann, vor allem in der griechisch-römischen Kultur, Wissenschaft und Religion als eigenständige Bereiche aus dem Mythos heraus. Eine Differenzierung, die bis in unsere Zeit so weit vorangeschritten ist, dass das Erzählen manchmal wie die leere Hülle angesehen wird, die aus grauer Vorzeit übrig geblieben ist – und der als einzige verbliebene Aufgabe die Unterhaltung zugeschrieben wird. Überall dort, wo...