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Strauß lesen - das Theaterstück 'Der Kuss des Vergessens' von Botho Strauß im assoziativen Lese- und Interpretationsprozess

das Theaterstück 'Der Kuss des Vergessens' von Botho Strauß im assoziativen Lese- und Interpretationsprozess

AutorStefanie Katzner, Viola Schneider
VerlagGRIN Verlag
Erscheinungsjahr2007
Seitenanzahl60 Seiten
ISBN9783638630160
FormatePUB/PDF
Kopierschutzkein Kopierschutz
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis6,99 EUR
Studienarbeit aus dem Jahr 2007 im Fachbereich Theaterwissenschaft, Tanz, Note: sehr gut (1,0+), Ruhr-Universität Bochum (Theaterwissenschaft), Veranstaltung: Neue Dramen 1, 37 Quellen im Literaturverzeichnis, Sprache: Deutsch, Abstract: Im Sinne ihres Titels 'Strauß lesen. Am Beispiel von 'Der Kuß des Vergessens. Vivarium Rot'' versucht die vorliegende Arbeit sich Botho Strauss' Theaterstück primär über den Leseprozess anzunähern. Der erste Schritt besteht daher im Prozess des Close Readings. Hier soll anhand eines subjektiv-assoziativen Zugangs in einem ersten Lese- und Interpretationsprozess der 'Kuß des Vergessens' Szene für Szene untersucht und aufgeschlüsselt werden. In einem zweiten Arbeitsschritt sollen die im ersten Arbeitsschritt gewonnenen Leseeindrücke zu zentralen Motiven und Themen verdichtet werden, um diese überblickhaft herauszuarbeiten und transparent zu machen. Dazu wurde zusätzlich die einschlägige Forschungsliteratur konsultiert, um die Ergebnisse des ersten Arbeitsschritts zu überprüfen und abzusichern. Aus der Erarbeitung zentraler Motive ergibt sich für den dritten Teil dieser Arbeit eine weitere Lesart des Stückes: Die fragmentarische Struktur des Stückes, sowie viele thematische Motive lassen auf die Nähe des Autoren Botho Strauss zu Ideen, Philosophie und Literatur der deutschen Frühromantik schließen. Aus diesem Grund entschieden sich die Autorinnen der vorliegenden Arbeit den 'Kuß des Vergessens' einer 'romantischen Analyse' zu unterziehen, um so weiterführende Interpretationsansätze erschließen zu können. Ein umfassender Aufklärungsanspruch kann im knappen Rahmen einer Seminarsarbeit kaum erfüllt werden, weshalb der Schwerpunkt der Untersuchung die formalen Aspekte des Fragments und der Ironie aufgreift. Ein weiterer Diskussions- und Interpretationspunkt schließt an Schlegels Poetikkonzeption der Progressiven Universalpoesie an, dessen Programm sich teils auch im Straußschen Oeuvre wieder entdecken lässt. Auf der inhaltlichen Ebene erwiesen sich sowohl die Position Strauß' als 'Dichter der Gegenaufklärung', das Thema der Dissoziation, der Liebe und des liebenden Blickes, als auch Parallelen zwischen der romantischen Kunstanschauung und Strauß' Kunstauffassung als fruchtbar. Abschließend soll ein knapper Kommentar zur Wirkung und Modifikation frühromantischer Elemente in Strauß' Werk und eine kritische Würdigung des Theaterstücks aufgegriffen werden.

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Leseprobe

Teil II: Zentrale Motive

 

„Was die Arbeit am Drama erschwert,

 

das uns doch in die großen Konflikte und Fallhöhen hineinreißen soll,

 

die wir sonst nirgends zu spüren bekommen:

 

solche Konflikte und Antithesen lassen sich heute

 

nicht einmal mehr im Gedanklichen auseinandersetzen.

 

Unsere Erlebniswelt ist voll von Ambivalenz und Doppelbindung,

 

voll auch von sinnlicher »Meinungsvielfalt« und von einem ungeheuerlichen Quidproquo. Das läßt ein schieres Gegenüber zweier widersprüchlicher Positionen auf dem Theater

 

zu einer extrem künstlichen und wirklichkeitsfremden Herausforderung werden.

 

Und doch wäre gerade hierin, wenn es gelänge,

 

dem uralten Paradigma des Theaters Genüge getan;

 

den es kommt immer darauf an zu beweisen, daß die Modelle des Theater älter,

 

stärker und überlebensfähiger sind als alles,

 

was wir ihnen aus unserer Gegenwart zutragen können.“[40]

 

Zentrale Motive

 

Nachdem im ersten Schritt der Arbeit die Ergebnisse des Close Readings präsentiert worden sind, sollen die dadurch gewonnenen Leseeindrücke zu zentralen Themen und Motiven des Stückes verdichtet werden, um diese überblickhaft herauszuarbeiten und transparent machen zu können.

 

1. Das Vivarium

 

Ein Vivarium ist ein künstlich geschaffener Lebensraum, der alle Elemente in sich vereinigt: Als Vivarium bezeichnet man eine Vereinigung von Aquarium und Terrarium zur Haltung von land- und wasserbewohnenden Tieren. Als außenstehender Beobachter verfügt man über die Kontrolle über diesen Lebensraum und die darin befindlichen Lebensformen. Gerät das ökologische Gleichgewicht außer Kontrolle, so kann man es beliebig regulieren.

 

Das Vivarium bietet einen aspekthaften Einblick: Der Beobachter ist nicht immer anwesend und bekommt nur das zu Gesicht, was sich ihm augenblicklich, in dem Moment, in dem er hinschaut, repräsentiert. So auch im „Kuß des Vergessens“: Der Leser erhält eben jenen gewählten Einblick in Ricardas und Jelkes Liebesleben. Die episodenhafte Reihenfolge der Szenen mutet auf der einen Seite wie eine Versuchsanordnung, auf der anderen Seite wie eine schnelle Abfolge von Film- oder Videoclips an.

 

„... man hat uns beide in dies enge Leben eingepfercht, ins Vivarium gesperrt, um gewisse Studien mit uns zu treiben unter der Sonne.“[41] Der Aspekt taucht in jeder einzelnen Szene auf und beansprucht in jeder Szene aufs Neue seine eigenständige Gültigkeit und in sich abgeschlossene Wahrheit[42]: Jede Szene stellt ein eigenes Experiment dar, bildet einen Neuanfang und offenbart neue Möglichkeiten innerhalb der Konstellation Ricarda/ Jelke. Es gibt immer wieder Neuzusammenstellungen und Kombinationen ohne Vergangenheit und Zukunft. So ist Jelke in der Szene „Trauergemeinde“ vermeintlich tot, tritt aber „Auf der Bettkante“ quicklebendig wieder auf. In der Szene „Der Kuß“ ist Ricarda lediglich eine junge Frau, in „Schwarzes Geld“ eine Hure.

 

Die Experimental-Metaphorik wird auch von den Personen des Stücks immer wieder aufgegriffen: Jelke stellt beispielsweise Ricardas Liebe in „Große Fluchende“ unter Beweis: „Es war nur ein Experiment. Man muss hin und wieder etwas herausfinden.“[43] Dementsprechend fühlt sich Ricarda zum Versuchstier degradiert. Es entsteht beim Leser das Bild von Mäusen, die im Dienste der Forschung in unterschiedliche Labyrinthe gesperrt werden. In jedem Labyrinth steht ihnen die Option offen, sich einen eigenen Weg zu suchen, wobei es allerdings keinen richtigen, allgemein gültigen Weg gibt:

 

„Im ‚geschlossenen Raum‘ befinden sich die Figuren in Extremsituationen. Sie können einander nicht ausweichen, treffen ständig aufeinander und sehen sich daher genötigt, wider Willen miteinander umzugehen. Der Schauplatz wird damit zum Experimentierfeld zugespitzter personaler Interaktion und Kommunikation. Hier konzentrieren sich die Probleme des Einzelnen und seiner Umgebung: die Ausweglosigkeit des eigenen Lebens, die Beziehungslosigkeit untereinander, die Phrasenhaftigkeit der Konversation.“[44]

 

Von einer anderen Warthe aus betrachtet, wirkt „Der Kuß des Vergessens“ wie eine Anhäufung von Filmsequenzen. Der Zuschauer bekommt einerseits den Eindruck durch das Abendprogramm zu zappen und immer wieder die gleichen Darsteller in unterschiedlichen Filmen zu sehen, aber auf der anderen Seite ist der Zuschauer ja gar nicht aktiv am Prozess beteiligt, sondern bekommt, im Gegenteil, die Clips selektiv und visuell serviert.[45] Denn die Beziehung zwischen Ricarda und Jelke kann vom Leser nicht chronologisch verfolgt werden, worauf bereits die Experimentalstruktur verweist. Ihm bleibt lediglich die Lust am Schauen, da ihm die Möglichkeit des Eingreifens oder sich Einfühlens nicht geboten wird: Dem Leser bleibt kein Raum und keine Zeit zum Atemholen, da er immer wieder in neue Situationen geschleudert wird, die die Personen des Stückes in unterschiedlichen Rollen zeigen. Der Zuschauer bleibt lediglich Voyeur, der in ein Vivarium blickt.

 

2. Identität

 

Eines der zentralen Straußschen Themen besteht in der Suche seiner Figuren nach einer eigenen sinnstiftenden Identität: „Sie unterliegen ständig der Gefahr, ihre eigene Identität und sich selbst als Persönlichkeit zu verlieren.“[46] Die dramatischen Figuren des „Kuß des Vergessens“ sind Mängel- oder Durchgangswesen, verfügen in der ersten Szene beispielsweise zunächst über keine Eigennamen, sondern werden schlicht durchnummeriert, „d.h. es fehlt ihnen einer der klassischen Identitätsfaktoren des Individuums.“[47]

 

Auch in der Sprache der Figuren zeigt sich der Mangel an eigenem Formulierungs- und damit Selbstgestaltungsvermögen. Permanent befinden sie sich auf der Suche nach treffenden Worten, greifen daneben oder zu Allerweltsfloskeln angesichts der eigenen Unfähigkeit, etwas von wirklicher Bedeutung zu sagen.[48]

 

Sprache besorgt Rollen und bietet somit ein Medium der Identitätsstiftung. Jelke und Ricarda spielen ihre Rollen in den einzelnen Fragmenten überpräzise aus. Sie projizieren in die Leere ihres Daseins ein Bild, einen äußeren Orientierungsrahmen, den sie benötigen, um sich selbst nicht zu verlieren: „Das Subjekt identifiziert sich schmerzlich mit einer beliebigen Persönlichkeit (oder beliebigen Romanfigur), die in der Struktur der Liebesbeziehung dieselbe Position einnimmt wie es selbst.“[49] Die Rollen variieren dabei von Szene zu Szene: Gibt beispielsweise Ricarda in „Der Kuß“ das naiv-flippige Mädchen, tritt sie in „Die Trauergemeinde“ als mondäne, fordernde Frau auf.

 

Allerdings inhäriert dem Rollenverständnis der Figuren ein Moment der Abhängigkeit. „wie es fundamentaler nicht vorzustellen ist: Nicht nur können wir nicht allein sein; wir können auch allein nicht sein.“[50] Die Figuren können ihre Identität nur in Abhängigkeit von anderen Menschen konstituieren. Die Abhängigkeit bezieht sich nicht nur auf die Notwendigkeit des Anderen für die eigene Rollengestaltung, sondern auch auf die Angst vor Einsamkeit und Isolation. Der Mensch ist ein soziales Wesen und sollte daher einer sozialen Einheit angehören. Nur durch die Bestätigung und – noch basaler – durch das Wahrgenommenwerden durch andere Menschen ist er dazu in der Lage, zu existieren, seine Rolle zu spielen und damit auch: zu einer Identität zu finden[51]:

 

„Der Bedrohung durch Selbstverlust und Einsamkeit versuchen die Menschen zu entgehen, indem sie sich, trotz fehlender Gemeinsamkeiten, einander anschließen. Auf diese Weise hoffen sie, die unbestimmte Angst, der sie ausgeliefert sind und die sie nicht überwinden können, loszuwerden.“[52]

 

Der eigene Körper und der des Anderen werden zur Folie des Wahrnehmbaren. Nur wenn ich in der äußeren Hülle meines Körpers gesehen werde, wenn mich der Andere wahrnimmt und mir Beachtung schenkt habe ich eine Chance, auch als Person wahrgenommen zu werden und somit zu einer Identität gelangen. Zugleich nehme ich aber den Anderen wahr und gewähre wiederum ihm mit meinem Blick den Anspruch auf Persönlichkeit. Somit liegt nach Strauß in der Interdependenz des Blickes, im Sehen und Gesehen werden ein zentrales Moment der Identitätsbestimmung und Identitätsfindung.[53]

 

3. Das Sehen und die Liebe

 

Ein zentrales Motiv des...

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