Yin und Yang
Yin und Yang – das ewige Pulsen der Welt, schenkt uns Lebendigkeit. Kein Wachsen ohne Stillstand, kein Aufwachen ohne Einschlafen, kein Geborenwerden ohne Sterben.
Yin und Yang sind nicht verschieden. Ist der Berg, der in der Morgensonne hell aufglänzt, verschieden von dem im Schatten des Nachmittags? Ist das Ei verschieden von dem Huhn, das es legte? Ist das Wasser verschieden vom Schnee, ist der Dampf verschieden vom Quell?
Prüfe diese Fragen genau, denn zunächst magst Du die Verschiedenheit herausstreichen. Denn natürlich sind Huhn und Ei nicht dasselbe. Und doch: Ist nicht das Ei ein Teil des Huhns, bevor dieses es in die Welt legt, uns in die Hände? Und ist nicht umgekehrt das Tier ein Teil des Eis, bevor es die Schale aufpickt und nach draußen schlüpft?
Wieviel offensichtlicher wird es noch beim Schnee und dem Wasser. Wir wissen, dass beide dieselbe Substanz enthalten, dass der Unterschied in der Geschwindigkeit liegt, mit der sich die Substanz umeinander bewegt. Die wunderschönen, sternförmigen Blumen des Schnees sind Stillstand, die Formlosigkeit des Wassers ist Bewegung. Und doch gibt es so viele Übergänge zwischen beiden Formen. Schnee kann nass oder pulvrig sein, es gibt Schneeregen, Graupel und Hagel. Alles verschiedene Geschwindigkeit der Wasser-Substanz. Alles im Übergang.
Warum ist es wichtig für den heutigen Menschen, Yin und Yang zu kennen und zu verstehen?
Ich habe darüber gesprochen, warum Yin und Yang geschaffen wurden. Sie sind die Grundlage, auf der wir Erfahrungen machen, sie geben dem Leben die Farbe und den Glanz. Doch erfuhren Yin und Yang über die Jahre eine Behandlung, die ihnen nicht zukommt.
Anders als Wesenheiten aus der ursprünglichen Welt sind Yin und Yang keine Wesen. Sie sind Marker, um ein modernes Wort zu gebrauchen: Dieses ist heißer als jenes.
Dieser Bergsee ist heißer als jener Gletschersee. Ist der Bergsee wirklich heiß?
Nun, es kommt darauf an, womit man ihn vergleicht. So ist der Bergsee Yang im Vergleich zum Gletschersee.
Und er ist Yin im Vergleich zur Baggergrube.
Warum erkläre ich hier das Offensichtliche?
Es ist nicht leicht, die Aufgabe zu begreifen, die im Vorhandensein von Yin und Yang liegt. Von der Oberfläche aus könnte der Betrachter meinen, alles sei relativ, es sei eben nur eine Frage des Blickwinkels.
Doch das ist nicht richtig. Denn denkt an den tiefgründigen Vergleich mit dem Huhn und dem Ei. Denke in die Tiefe und versuche zu sehen, dass Ei und Huhn eine gemeinsame Substanz haben, eine Substanz, die sich in verschiedenen Formen ausdrückt. Mal ist sie Ei, mal ist sie Huhn, und wenn wir genau hinsehen, können wir den Übergang beobachten.
Diese Grundsubstanz ist das, was viele Gelehrte forschen lässt nach der Weltformel, nach dem Ding, „das die Welt im Innersten zusammenhält“. Es gibt diese Brücke, und sie liegt vor unseren Augen.
Materie verwandelt sich, das eine wird zum anderen, und wenn wir nur lange genug darüber nachdenken, sehen wir, wie alles alles werden kann und wird.
Denn wenn ein Mensch oder ein Tier stirbt, geht sein Körper ins Erdreich über, ein Baum wächst dort und bezieht seinen Nährstoff aus der Erde, später fällen Menschen diesen Baum und machen einen Tisch daraus, nach vielen Jahren wird der Tisch verbrannt, und die Asche zerstreut sich in alle Winde, sie fällt ins Meer, und die Fische dort nehmen sie auf.
Mit dem Verstand ist dies jedem Menschen klar, doch was bedeutet es wirklich?
Yin und Yang sind Orientierungen, um die Materie in ihren Übergängen zu beschreiben. Sie ordnen die Welt und sind dabei niemals starr. Sie gehen auseinander hervor; weicher Schnee wird hartes Eis. Sie geben uns den Hauch einer Ahnung, was hinter ihnen steht.
Wie ein Bild steht die Welt vor den Menschen, sie zeigt ihre Einheit, wenn wir nur scharf genug beobachten und unsere Schlüsse ziehen. Was bedeutet das Bild von Yin und Yang für unser Leben?
Ist das Huhn besser oder das Ei? Wer ist besser, die Blüte oder die Knospe?
Wenn Ihr seht, dass alles auf dem selben Hintergrund gespielt wird, dann gibt es keine Bewertung mehr. Yin kann nicht ohne Yang sein, das kommt in der Monade zum Ausdruck, wo ein Punkt jeweils im Feld des anderen aufleuchtet. Dieser Punkt ist das sich verdichtende Ei im Inneren des Huhns, er ist das sich verdichtende Huhn oder Küken im Inneren des Eis.
Für den Menschen ist es wichtig die Wandelbarkeit der Phänomene zu erkennen. In alten Zeiten wiederholte sich im Jahr immer der gleiche Ablauf von Säen und Ernten. Heute glauben die Menschen, senkrecht in die Höhe gehen zu können, immer neue, nie dagewesene Dinge erschaffen zu können und auf die Wiederholungen zu verzichten.
Doch Yin wird in Yang übergehen und dieses wieder in Yin. Wenn das Huhn versucht, kein Ei zu legen, wird es sterben. Und wenn das Ei versucht, das Küken vom Ausschlüpfen zurückzuhalten, wird es scheitern. Wenn Ihr also senkrecht in die Höhe startet, werdet Ihr wieder zurückfallen. Dinge müssen sich wandeln und es ist von Übel, nur eine Seite zu sehen und zu fördern. Von Übel sage ich, um die Wirkung zu charakterisieren.
Denn so weit die Menschen in die eine Richtung gehen, so weit müssen sie wieder zurückgehen. Und wenn die Bewegungen weit von der Mitte abweichen, dann kann die Rückbewegung sehr schmerzhaft sein.
Es gibt viel Unsicherheit heute über Fragen des Zusammenlebens der Menschen miteinander.
Dies sind Fragen, die zu allen Zeiten die Menschen beschäftigt haben. Und zu allen Zeiten galt, dass eine Entwicklung durch eine andere, ausgleichende korrigiert wurde.
Liebe zwischen Mann und Frau war vor zweihundert Jahren noch kein so großes Thema wie heute. Damals begann das, was heute „romantische Liebe“ genannt wird. Romantische Liebe setzt diese als Wert, und die Menschen sagen, dass sie ohne einen frei gewählten Liebespartner nicht glücklich sein können.
Doch was geschieht oft genug, wenn die Menschen sich frei gewählt miteinander zusammentun? Sie werden einander unerträglich. Der vorher so heiß geliebte Partner wird zur unerträglichen Belastung. Seine Lebendigkeit erscheint nun überdreht, ihre Gelassenheit wirkt nun wie Apathie. Oder ist es vielleicht umgekehrt? Wirkte Apathie wie Gelassenheit?
Wieder seht Ihr das Gesetz von Yin und Yang am Werk. So stark schlug das Pendel ins Gute, Heitere, Positive, so leuchtend standen die Eigenschaften des anderen dem einen vor Augen, dass, um die Ganzheit wieder herzustellen, das Pendel nun in die andere Richtung ausschlägt. Dies sind die Dinge, die den modernen Menschen umtreiben, da er die Erscheinungen einseitig bewertet und vergisst, dass sie nur Bilder der ursprünglichen Welt sind.
Tatsächlich ist der eine Partner ruhig und der andere lebhaft, aber nur im Vergleich zu mir, dem anderen Partner. So empfehlen die ursprünglichen Menschen, sich selbst genau zu beobachten in den Beziehungen und zu erkennen, wann man Yin und wann Yang ist mit einem anderen. Gleichgültig, ob ich lebhafter oder ruhiger bin als mein Partner, einmal werde ich diesen Unterschied weniger positiv bewerten als heute.
Anders als der Schnee und das Wasser sind Gelassenheit und Apathie keine ineinander übergehenden Zustände. Sie sind ein und dasselbe, aus unterschiedlichen Gemütszuständen betrachtet.
Gibt es denn eine Ur-Materie, die den menschlichen Eigenschaften zugrunde liegt, so wie die Teilchen, die Wasser und Schnee gemeinsam haben?
Menschen sind alle gleich, so wie Wasser und Schnee gleich sind. Der eine ist mehr Yin, ruhiger, weicher, kälter als der andere, aber er ist zu einem anderen mehr Yang, lebhafter, härter, wärmer. Menschen haben alle die gleichen Gefühle und Eigenschaften, und sie erleben einen ständigen Wandel darin.
In früheren Zeiten hatten die Menschen nicht ein so tiefes Bestreben, ständig glücklich zu sein wie heute. Wenn der Mensch immer glücklich sein will, stört er das Wesen von Yin und Yang, das sich nicht umgehen lässt. So wie die Sonne sich nicht entscheidet, länger zu scheinen und dem Mond seine Zeit zu stehlen, so kann auch der Mensch sich nicht entscheiden, sein Glück auszudehnen und Zeiten der Angst kürzer zu erleben. Es gibt nur einen Weg, der ihm freisteht. Dies ist das Verharren im Zentrum.
Wenn der Mensch Wertungen aufgibt und die Dinge so nimmt, wie sie sich ihm darstellen, kann er eine zeitlose Einheit erleben; er nähert sich dann dem Urgrund an, da er weder in die eine noch in die andere Richtung geht.
Diese Haltung des Verharren in der Mitte seht Ihr heutigen Menschen als untätig, passiv und vielleicht sogar als faul an. Sie erfährt Geringschätzung, da die heutige Zeit nur schätzt, was dynamisch und hervorbringend ist. Ich habe schon gesagt, dass alles dynamische auch wieder in die andere Richtung umschlagen wird. Anders ist es jedoch mit dem Verharren in der Mitte. Dort kann nichts umschlagen, dort ist Zeitlosigkeit und Einheit möglich.
Die Mitte ist also der Platz, den Ihr einnehmen könnt, wenn Yin und Yang Euch zu sehr herumwerfen in ihrem ewigen Wandel. Die Mitte erscheint manchen Menschen als...