Ich war voll mit spirituellen Konzepten, Wissen, Anleitungen, Techniken, Methoden, Praktiken, und Ramesh Balsekar* spielte Müllmann. Packte mich am Schlafittchen, stellte mich auf den Kopf, der Deckel klappte auf, und das ganze Zeug fiel aus mir raus. Und genauso fühlte ich mich danach: einfach nur leer! Nicht „mehr“ hatte ich von ihm erhalten, nicht einmal „nichts“.
Ich lief durch die Straßen von Mumbai und hörte das andauernde Hupen wie aus weiter Ferne. Die Menschenmassen, das Gewusel, der Verkehr, die Verkaufsstände, die Geschäfte – all das erschien mir wie in dem Film Matrix, irgendwie irreal und roboterhaft. Auch ich selbst, meine Person, sie war da und gleichzeitig unwirklich, schemenhaft, schattenhaft, illusionär. Was ich tief in mir empfand – wenn man das so sagen will, weil genau der, der etwas empfand, fehlte –, war Leere. Keine jedoch, die mir Angst machte. Keine, die mir als Abgrund erschien oder gar als Hölle.
Diese Leere war friedlich. Ich dachte, ein Toter müßte, wenn er denn seinen Tod wahrnehmen könnte, genauso empfinden. Ja, denn „ich“ war gestorben, war mausetot. Der, welcher bis dahin meinte, er denke, er entscheide, er handle, war raus aus meinem System. Entfernt. Über Nacht sozusagen. Im Expressverfahren. Der Müllmann kam in der Nachtschicht.
So leer fuhr ich dann über Land nach Goa runter. Suchte mir nahe am Strand ein Zimmer, es waren kaum Leute da, weil Regenzeit war. In der ersten Nacht schlief ich in einem Raum, bei dem das Dach undicht war, der Tropenregen kam durch, und morgens wachte ich in einer Lache auf. Ich nahm es wahr, ein irgendwie vergnügtes Lachen stieg in mir auf, dann packte ich meine Sachen und suchte mir ein anderes Zimmer. Verwundert sah ich mir dabei zu, wie ich praktisch empfindungslos einfach das Notwendige tat. Was immer ich an Aufregendem erlebte, geschah einfach, ich war nicht mehr vorhanden.
Leer kam ich nach Deutschland zurück, wobei ich nicht einmal sagen kann, daß „ich“ zurückkam. Mein Lebensfilm spulte sich weiterhin Szene für Szene ab, und die Szenen aus Indien waren schlicht zu Ende gegangen. Seitdem haben viele Szenenwechsel stattgefunden, ich wohne nicht einmal mehr am selben Ort, viele Menschen von damals sind einfach verschwunden, andere, vorher nicht gekannte, sind da. Nur eins ist geblieben: die wundervoll friedliche Leere.
Ich lehre weder Meditation noch Kontemplation. Zwar kenne ich Bewußtseinszustände, in denen die Welt, die Materie, die Körperlichkeit verschwinden, strebe sie aber nicht mehr an. Denn: Was wir Welt, was wir Materie, was wir Menschsein nennen, ist nichts anderes als ein Bewußtseinszustand!
Ist dir das bewußt? Es gibt keine Materie in der Form, wie wir sie gewöhnlicherweise wahrnehmen und definieren. Es gibt nur Bewußtsein, und in diesem Bewußtsein, das du in Wahrheit bist, gibt es einen Zustand, in dem Welt, Körper, Formen und Menschsein er scheinen.
Ist das nicht phänomenal? Und zwar im wahrsten Sinne des Wortes! Anstatt diesen „außerordentlichen“ Bewußtseinszustand zu würdigen, zu bestaunen, zu genießen, zu erforschen, wenden sich spirituell Suchende von ihm ab und versenken sich in das, was wir ohnehin sind: Leere, Nicht-Form, Unbedingtheit, Nicht-Körperlichkeit, Gott, Quelle.
Ist mir nicht (mehr) bewußt, wer ich bin, macht es freilich Sinn, mich an mich selbst zu erinnern: Herrjemine, ich bin ja nicht das, was erscheint, sondern das, worin es erscheint! Ist das aber realisiert, macht es keinen Sinn mehr, weil ich ansonsten den außerordentlichen Bewußtseinszustand verpasse, in dem Welt und Menschsein erscheinen!
Ist der Bewußtseinszustand, den wir „mein Leben“ nennen, vorüber, bin ich zwar nichts weniger als unbedingte Liebe und Frieden, kann aber keinen Kaffee mehr trinken, kein gut abgehangenes Filetsteak mehr essen, mich nicht mehr an menschgewordenen Zille-Figuren erfreuen, die stumpfsinnig an einer Bar sitzen, Bier trinken und Unsinn reden. Es gibt keinen Sonnenaufgang mehr für mich, kein Abendrot, keine Amseln, deren Gesang mich heutzutage tiefer berührt als ein Klavierkonzert oder ein Popsong, ich kann nicht mehr hinter meinem Haus den Wald durchjoggen, es gibt ihn nicht mehr, den plätschernden Bach, den Weinberg, die süßen Trauben, den Wein, das Schloß auf dem Berg, das ich von meiner Terrasse aus sehen kann, die Sonne hat aufgehört zu scheinen, und ich erlebe ebenso wenig Regen, Morgentau, Winterlandschaften, auch das Meer ist nicht mehr. Es gibt keine Filme, keine Bücher, keine Geschichten. Ich kann nicht mehr duschen, keinen Aufguß mehr in der Sauna genießen, nicht einmal vor den Spiegel stellen und kämmen kann ich mich. Alles perdu, denn all das und viel mehr erfahre ich EINZIG in dem Bewußtseinszustand, aus dem die Spirituellen ausbrechen, um Samadhi oder Satori zu erfahren.
Es ist zwar keine Sünde , und um mich an mich als den Ursprung des Bewußtseinszustands zu erinnern, in dem ich mich augenblicklich befinde, sind solche Bewußtseinszustände nützlich – es wäre jedoch fatal, wenn ich ihretwegen den Bewußtseinszustand verpassen oder gar verachten würde, in dem phänomenale Körper und Welten erscheinen.
Ein Synonym für nonduales Bewußtsein ist: Akzeptanz dessen, was ist. Das ist jedoch nicht mit Fatalismus zu verwechseln. Der Impuls zur Veränderung oder ein Ziel und auch der Ehrgeiz, es zu erreichen, werden ebenso akzeptiert wie eine Situation, die nicht veränderbar erscheint. Der Impuls zur Veränderung nährt sich jedoch nicht mehr aus der Nichtakzeptanz einer wie auch immer gearteten Situation, sondern entspringt der realistischen Einschätzung zu deren Optimierung, um mein oder das Leben anderer angenehmer zu gestalten. Ohne diesen Impuls wären das Auto, das Telefon, das Flugzeug, der PC oder das iPhone niemals erfunden worden. Und wenn ein Software-Ingenieur nicht den Wunsch zur Optimierung in sich trägt, wird er ebenfalls keinen Erfolg haben.
Deine Sünden werden dir nicht vergeben. Gar nicht nötig, weil du niemals gesündigt hast. Du wirst auch nicht wegen deiner guten Taten gewürdigt. Denn du hast niemals auch nur eine einzige gute Tat vollbracht.
Ich kann unmöglich mit allen Menschen eins sein, selbst mit einer Mücke bin ich nicht eins, wenn sie mich sticht. Manche Menschen sind mir sympathisch, andere unsympathisch, aber selbst mit den mir wirklich sympathischen Menschen bin ich nicht eins.
Einheit, wie sie in spirituellen Kreisen zumeist verstanden wird, ist ein gefährlicher Klebstoff, der insbesondere dann, wenn er gelöst werden soll, zu Verletzungen führt.
In allem, was ist und geschieht, ist das Eine (essentiell) alles. Weil nur eine einzige Quelle existiert. Das ist klar. Der Begriff Einheit jedoch löst eine Assoziation aus, die oft, wenn nicht gar meistens, zu falschen Schlußfolgerungen führt. Ich sehe in jedem Menschen die eine Quelle, was sollten wir sonst sein, aber eins mit dir bin ich nicht. Ich versuche es noch nicht einmal, denn auf der relativen Ebene sind wir auf vielen Feldern unterschiedlicher Auffassung, und wir müssen es sein, wenn unser in uns angelegtes Potential nicht vergammeln soll.
Wenn ich ein Kind ins Erwachsenenleben begleiten will, muß ich ihm auch beibringen, zwischen Gut und Böse zu unterscheiden. Und wenn es sich schlecht benimmt, kann ich es weiß Gott nicht loben. Würde ich es tun, weil ich dem unsäglich törichten Glauben anhänge, es gäbe weder gutes noch schlechtes Verhalten, muß ich mich nicht wundern, wenn in meinen vier Wänden ein kleines Monster heranwächst.
Nur eins ist in nondualem Bewußtsein unmöglich: in dem „schlechten“ Verhalten des Kindes einen individuellen Täter wahrzunehmen, der sich in eigener Regie zu schlechtem oder guten Verhalten entscheidet. Daher werden manchmal notwendige Maßregelungen nicht mit den allseits gebräuchlichen Schuldzuweisungen einhergehen. „Wie konntest du das nur tun? Ach, was bist du nur für ein schlechtes Kind!“ Ich kann dem Kind unmöglich Schuld zuweisen, es muß jedoch sehr wohl spüren, wie betroffen ich bin. Und sein ungebührliches Verhalten würdigen kann ich freilich auch nicht.
Hinzu kommt: Es gibt keinen „Nachhall“ des Vorfalls. Ich werfe ihm also nicht immer und immer wieder vor, wie schlecht es sich „vormals“ verhielt. Es war eine Handlung, die eine Maßregelung erforderte, da jedoch kein „Täter“ bemerkt wird, ist die „Sache“ damit erledigt.
Ich kann auch mir selbst keine Vorwürfe machen. „Ach, was bin ich für eine schlechte Mutter, ein schlechter Vater, ich habe mein Kind falsch erzogen.“ Übrigens: Solche Selbstvorwürfe werden unbewußt auf das Kind projiziert, so daß es sich ebenfalls...