Im Land der Gegensätze
Jedes Menschenleben beginnt mit der Frage: »Ist es ein Junge oder ein Mädchen?« Unser Einstieg ins Dasein beginnt also mit der Einordnung ins Entweder-oder. Und genauso geht es weiter: groß oder klein, schnell oder langsam, gut oder schlecht … Und dabei wollen wir doch nur das eine: Einssein. Yoga mit seiner Sonnen- und Mondseite lässt diese zwei grundlegenden Gegensätze in uns spürbar werden, auf dass wir sie sehen, zulassen und leben und zu dem gelangen, was wir uns wünschen und was Yoga bedeutet: Einheit.
Zwei Seelen wohnen, ach, in meiner Brust! Hat Goethe recht?
Als Kreativ-Direktorin fühlte ich mich früher oft wie auf einem Drahtseil, immer hin- und hergerissen zwischen zwei Anforderungen: Kreativität und Konsequenz. Kreativ zu sein bedeutet, weich zu sein, offen, empfänglich – für Ideen, Zeitgeist, Stimmungen. Ideen zu präsentieren und ein Team zu führen hingegen bedeutet Fokussiertheit, Klarheit, Aktivität. Und so schwankte ich tagtäglich durchs Leben – zwischen Weichheit und Bestimmtheit. Beides fühlte sich irgendwie richtig an und gleichzeitig falsch. Hatte ich zwei Persönlichkeiten? Wer war ich wirklich? Beides waberte immer durcheinander, was teilweise fatale Folgen hatte: eine zu eng gedachte Kreativitätsphase und eine zu wenig stringente Mitarbeiterführung oder Kundenpräsentation. Aber wenn sich doch sowohl die kreative als auch die konsequente Seite in mir richtig anfühlten, wo lag dann das Problem? Das Problem lag nicht in den zwei Seiten an sich, sondern darin, diese überhaupt klar zu sehen und im passenden Moment einzusetzen. Das zu erkennen war der erste Schritt.
DER WEG IN DIE EINHEIT
Ich begann mit Yoga. Denn Einheit klang gut! Doch fand ich auch hier zunächst ein Entweder-oder: Schweißtreibende Yogastunden, die meine Aktivität weiter pushten, oder meditative Klassen, die meine introvertierte Seite stärkten; oder es war ein unentschiedener Einheitsbrei, der die eigene Mitte propagierte, ohne meine Verschiedenheit zu integrieren.
Also machte ich mich auf den Weg zu einem Yoga, der mich in meiner täglichen Lebens- und Seinsdualität abholt und mich beide Seiten erleben und damit leben lässt. Um dann zu spüren, dass es in der Mitte noch etwas Größeres gibt, das sich wie die Essenz des Selbst anfühlt. Wie ein Zuhause. Herausgekommen ist dabei »Sunnymoon«, eine Yoga-Hommage an die freudige und lebenslange Seelenverbindung von Sonne und Mond, von Mann und Frau.
Mondlandung: Das fehlende Puzzlestück einer ausgewogenen Yogapraxis
2008 betraten mein inzwischen verstorbener Mann Julian und ich hoch oben im Himalaja einen Raum, in dem uns ein weißhaariger alter Mann empfing: Swami Dayanand Shankya Yogacharya. Der sagte zu uns: »You are my students. You will do the teacher training. Only the two of you.« Also fingen wir an.
WIE ICH SONNE UND MOND ENTDECKTE
Nach der ersten Yogaeinheit mit Sonnengrüßen und Feueratem war ich schon wieder in mein altes Höher- Schneller-Weiter verfallen. Ausgepowert lag ich auf der Matte. Scheinbar entspannt, weil erschöpft. Keine Gedanken, weil zu müde. Soweit war alles wie immer. »Now, you do the Nadi Shodana – balancing breath.« Auch das war nichts Neues. Also balancierte ich etwas aus, das ich gar nicht als unausgewogen wahrnahm, weil ich noch nichts von männlicher und weiblicher Seite wusste und weil ich mich durch den aktivierenden Yoga komplett in meiner aktiven (männlichen) Seite befand. Ich atmete ahnungslos und aufgedreht von links nach rechts und zurück.
Am nächsten Tag hieß es: »Now you learn the moon salutation. So you can connect with Shakti Energy. You can calm down, let go and receive.« Mir stockte der Atem – denn das klang wunderbar. Auch wenn ich nicht wusste, wer Shakti war, gefiel mir sehr gut, was sie anscheinend zu geben hatte: Spüren, Loslassen und Empfangen – und zwar nicht beim Relaxen, sondern im Fluss der Bewegung. Der Mondgruß ergriff sofort mein Herz. Ich ließ mich in die weiche Sequenz fallen wie ein erschöpfter Reisender nach einer Weltumsegelung. Ich fühlte und begriff gleichzeitig, was für ein Geschenk mir gegeben wurde. Denn ich nahm echten Kontakt mit meiner weiblichen Seite auf. Gleichzeitig wurde mir die Qualität des Sonnengrußes bewusst. Als hätten sich die zwei Stücke eines zerbrochenen Herzens nach langer Zeit wiedergefunden und ineinandergefügt.
Leben im Mondschein: Den Mut haben, die eigene Vielfalt zu leben
Der Mond ist eine Sie. Weich und rund. Unsere Mondseite ist empfänglich und offen nach allen Seiten. Hier können kreative Prozesse entstehen. Denn der Mond ist weiblich und damit per se schöpferisch. Er führt uns in die Innenschau und schult zugleich unseren Rundumblick. Wir treffen Entscheidungen hier nicht bewusst, sondern sie entstehen wie von selbst. Es geht mehr um das Sein als um das Machen.
Im Tantra ist die weibliche Kraft Shakti, im Yoga heißt sie Ida. In unserer Gesellschaft wird die Shakti-Energie durch die Frau repräsentiert. Von einem universelleren Standpunkt aus betrachtet steht Shakti für den Raum. Im spirituellen Kontext ist sie die Kraft des Raums. In dieser weit dimensionierten Kraft steht sie einerseits für das Empfangen, aber auch für das Hervorbringen. Das macht Shakti zur Schöpferin und zur Urmutter, die für das Entstehen verantwortlich ist. Ganz formal ist diese Energie mit der Minusenergie zu vergleichen, eine Seite der zwei Pole in uns. Ida im Yoga ist die linke Seite unseres Körpers, die dem Empfangen, dem puren Sein zugeordnet ist.
»nivata Yoga« – sich seiner selbst bewusst sein
Der europäische Yogastil »nivata« betont die Wahrnehmung der männlichen (aktiven) und der weiblichen (empfangenden) Seite, damit sich die Übenden dieser Polarität bewusst werden können. Der Sonnengruß ist eine Modifikation des klassischen Satyananda-Sonnengrußes und der Mondgruß eine Weiterentwicklung aus tantrischer Tradition. Die Sanskrit-Namen der Haltungen lehnen sich deshalb an die Yoga- und Tantratradition nach Swami Satyananda an.
DAS WEIBLICHE ERFAHREN
Anders als der Sonnengruß führt der Mondgruß (Chandra Namaskara) bisher eher ein Schattendasein im Yogakosmos. Seine Herkunft ist unklar – weil im Tantra, das hauptsächlich mündlich weitergegeben wurde, vieles unklar ist. Dass er kaum bekannt war, mag vielleicht daran liegen, dass unsere Gesellschaft eher die männliche, zielgerichtete Kraft wertschätzt. Auf jeden Fall ist der Mondgruß eine sehr gute Möglichkeit, mit dem Weiblichen in uns und um uns herum Kontakt aufzunehmen. Auch für Männer.
Wenn wir den Mondgruß praktizieren, fühlt es sich an, als würden wir uns einmal um uns selbst drehen – so wie der Mond um die Erde. Der Mondgruß ist eine fließende, hingebungsvolle Yogasequenz, die der yogischen Sonne das zurückgibt, was sie schon lange vermisst hat: ihren kreativen Begleiter.
Er eignet sich besonders für die Abendstunden. Aber auch morgens kann er seine ganz besondere Wirkung entfalten: Nach einer unruhigen Nacht bringt der Mondgruß die fliegenden Gedanken sanft auf den Boden und sorgt für die innere Gewissheit, dass auch im Chaos immer alles an seinem Platz ist.
Die Eigenschaften von Sonne und Mond
Mond: passiv, kühl, linke Seite, weiblich, kreativ, introvertiert, rund
Sonne: aktiv, warm, rechte Seite, männlich, zielstrebig, extrovertiert, gerade
FLEXIBILITÄT UND BALANCE
Der Körper wird durch die wendigen, sich allen Seiten widmenden Haltungen flexibel und durchlässig. Besonders die seitlichen Organe werden belebt und der Unterleib wird wohltuend entspannt. Wir nehmen unsere eigene Dreidimensionalität wahr, und durch immer wiederkehrende Drehungen wird das Gefühl für den Raum geschult. Dies und die dynamische Abfolge der Standhaltungen stärkt die Fähigkeit, sich zu drehen und zu wenden, ohne den Halt und die Balance zu verlieren. Die durchweg hingebungsvollen Haltungen, vor allem die Vorbeugen, motivieren uns loszulassen, ohne die Angst, sich dabei zu verlieren.
RHYTHMIK UND BEWUSSTSEIN
Mond- und Sonnengruß sind rhythmisch. Während der Sonnenrhythmus eher vorantreibend und klar getaktet ist, schwingt der Mondgruß weicher und intuitiver. Die Rhythmik aus Ruhe und Bewegung schenkt uns Wohlbefinden, da sie die im Alltag ersehnte Balance versinnbildlicht und erlebbar macht.
Auf energetischer Ebene widmet sich der Mondgruß insbesondere zwei Bewusstseinszentren (>): dem Stirn- und Sakralchakra. Im Stirn- oder Augenbrauenzentrum (Ajna Chakra), dem Tor zur Intuitionskraft, wird diese oft schlummernde Kraft geweckt. So können wir nach dem Mondgruß oft viel intuitiver entscheiden, mehr gefühls- als verstandesorientiert. Das Sakralchakra (Swadhisthana Chakra) im Unterleib führt uns ebenfalls ins Spüren, jedoch hier in unsere Genussfähigkeit. Wir werden weich, offen und empfänglich für die Schönheiten des Lebens und können uns an der Vielfalt unserer selbst und der Welt erfreuen. Wir fühlen uns leicht.
Leben im Sonnenlicht: Die Freude am eigenen Tatendrang entdecken!
Die Sonne ist ein Er. Sie steht für die aktive Kraft in uns, das Voranschreiten, das Machen. Sie ist heiß und feurig. Sie steht für unsere extrovertierte Seite. Sind wir in der Kraft dieser Sonnenenergie und können sie abrufen beziehungsweise aktivieren, dann können wir uns zielstrebig durch bestimmte Situationen bewegen und schnell und treffsicher agieren.
In der tantrischen Lehre ist diese männliche Kraft Shiva, im Yoga heißt sie Pingala. Auf konkreter Ebene wird die Shiva-Energie in unserer Gesellschaft...