5. Der hypno-systemische Ansatz
In dem von Gunther Schmidt entwickelten hypno-systemischen Ansatz kommen systemische, hypnotherapeutische, ressourcen- und lösungsfokussierte Ansätze zusammen und integrieren weitere Sichtweisen aus anderen therapeutischen Richtungen. Dabei geht es vor allem darum, das unwillkürliche und unbewusste Erleben bewusst zu machen und zu verändern, um dadurch Veränderungen im Denken und Handeln herbeizuführen.
Beispiel:
Halten Sie für einen Augenblick inne und nehmen Sie einmal bewusst wahr, was Ihnen normalerweise während des Lesens nicht mehr auffällt: Ihre Augen sind mit diesen Zeilen beschäftigt, hören Sie noch alles, was um Sie herum geschieht? Während ich das hier schreibe und wenn ich meine Aufmerksamkeit jetzt bewusst auf meinen Hör-Sinn wende, nehme ich z. B. das Maunzen meiner Katze wahr, die gerne mit mir spielen möchte, das Kochen von Teewasser, das Klappern der Tastatur … Und wenn ich noch genauer darauf achte, dann fällt mir auf, dass die Tasten tatsächlich unterschiedlich klingen, manche heller, manche dunkler. Das ist mir bisher so noch gar nicht bewusst gewesen. Was ich dagegen gerade nicht wahrgenommen habe, während ich mich auf das Hören konzentrierte, ist, wie ich auf meinem Schwinghocker sitze, ob ich meine beiden Sitzhöcker spüre und wie sich das anfühlt, wenn mein rechtes Bein über mein linkes übergeschlagen ist, wo sich die Unterschenkel berühren und wo die Berührung wieder aufhört. Auf das Hören und Sehen habe ich zuletzt weniger geachtet, aber ich kann da jetzt mit meiner Aufmerksamkeit hin zurückkehren oder aber mich entscheiden, einmal wahrzunehmen, was ich rieche oder schmecke.
Wie ist es Ihnen ergangen, während Sie dieses Beispiel gelesen haben? Haben Sie mitgemacht und sich nacheinander auf Ihre verschiedenen Sinne konzentriert und dafür anderes weniger oder gar nicht mehr wahrgenommen? Oder haben Sie sich bewusst dafür entschieden, etwas anderes wahrzunehmen, sich
z. B. zu spüren, während ich vom Hören schreibe, oder etwas anderes zu tun?
Was ich Ihnen hier beschreibe, sind zwei wesentliche Punkte, die wir uns im hypno-systemischen Modell gerne zunutze machen: Der erste Punkt ist die Aufmerksamkeitsfokussierung, bei der wir bestimmte Reize wahrnehmen und anderes dafür kaum oder gar nicht mehr. Das tun wir im Alltag ständig und dieses Fokussieren auf bestimmte Dinge bei gleichzeitigem Nichtwahrnehmen anderer Dinge wird im hypno-systemischen Modell mit Trance umschrieben. Trance ist also nichts Passives, bei dem wir nicht mehr mitbekommen, was mit uns gerade geschieht, sondern im Gegenteil ein bewusstes Wahrnehmen einer bestimmten Tätigkeit bei gleichzeitigem Nichtwahrnehmen von anderen Dingen. Je mehr wir in Trance sind, desto mehr sind wir auf eine Sache fokussiert, während anderes immer mehr in den Hintergrund tritt.
Der zweite Punkt ist, dass ich Sie mit meinem Angebot, erst hören, dann spüren, einlade, es mit mir mitzumachen, aber Sie haben die Wahl, ob Sie diese Einladung annehmen oder auch nicht. Ich kann Sie nicht von außen instruieren, wie Sie Ihre Wirklichkeit zu erleben haben, ich kann Sie auch nicht von außen dazu bringen, dass Sie jetzt gerade etwas Bestimmtes fühlen, sondern Sie sind in Ihrem System autonom. Wir treten zwar miteinander in Wechselwirkung als Autorin-Leser-System, aber welche Auswirkungen das für Sie und für mich haben wird, lässt sich nicht vorhersagen. Systeme sind autonom, d. h. der Mensch an sich oder ein soziales Beziehungsnetzwerk können nicht von außen zu einem ganz bestimmten Erleben gezwungen werden. Das bedeutet, dass das System die Wahl hat, wie es ein Geschehen erleben möchte. Es gibt natürlich „Einladungen“ von außen, z. B. hässliche Worte, Manipulationen, Gewalt oder Gruppendynamiken, die diese Wahl deutlich erschweren. Doch bleibt dem einzelnen Menschen wie auch einem System aus mehreren Personen immer der Gestaltungsspielraum, wie diese „Einladungen“ erlebt werden.
Diesen Punkt halte ich für wichtig, wenn es um das Verständnis von Vergebung geht. Wenn ein Mensch sich von jemandem verletzt fühlt, dann bedeutet diese Wahlmöglichkeit des eigenen Erlebens nicht, dass sie selbst daran schuld ist, weil sie sich dazu „entschlossen“ hat, verletzt zu sein. Wenn jemand hässliche Dinge sagt und die andere Person damit entwürdigt, liegt sein entwürdigendes Tun auf seinem eigenen Tisch. Doch hat die verletzte Person die Möglichkeit, sich nicht (länger) entwürdigen zu lassen, was – je nach Verletzung – auch ein längerer Prozess sein kann. Wichtig ist, dass sie den Verursacher nicht benötigt, um die Verletzung zu vergeben, weil dies nur mit ihrem eigenen Erleben zu tun hat.
Beispiel:
Bleiben wir noch ein paar Augenblicke beim Thema „sich verletzt fühlen“. Warum ist es so viel einfacher, eine in unseren Augen „kleine“ Verletzung viel schneller zu vergeben, als wenn wir uns massiv verletzt fühlen? Dies hat damit zu tun, dass wir bei schwererem Leiden eine größere Problemtrance entwickeln, die den Zugang zu unseren Kompetenzen immer mehr schmälert. Wenn uns z. B. der Partner morgens anmeckert und wir ansonsten gut mit uns in Kontakt sind, ärgern wir uns möglicherweise kurz über sein Verhalten, haben aber genug Ressourcen, um es uns zu erklären oder mit ihm ein klärendes Gespräch zu führen. Nehmen wir aber z. B. an, wir arbeiten mit jemandem zusammen, der uns immer wieder ausbremst, hinter unserem Rücken redet, uns vor anderen bloßstellt und uns beim Chef anschwärzt, und wir haben aus Sorge vor dem Arbeitsplatzverlust den Eindruck, nichts dagegen unternehmen zu können, dann werden wir vielleicht schlechter schlafen, schon bei dem Gedanken an diese Person angespannt sein, uns hilflos fühlen, vielleicht auch Angst oder Wut empfinden. Möglicherweise fangen wir an, unsere Gedanken mehr und mehr darum kreisen zu lassen, und wir finden immer weniger eine Lösung. Die entstandene Problemtrance bedeutet, dass wir ein Assoziationsnetzwerk aufgerufen haben, in dem wir vor allem die schwierigen Dinge wahrnehmen, die mit diesem Erleben verknüpft sind. Je mehr wir das tun, je mehr wir also leiden, desto mehr schalten wir gleichzeitig unsere Fähigkeiten aus, Lösungen zu finden und unsere Ressourcen und Kompetenzen wahrzunehmen. Unser Erleben ist sozusagen assoziiert mit dem Schrecklichen, was uns passiert, und gleichzeitig dissoziiert, also getrennt, von unseren Ressourcen und Kompetenzen.
Der lapidar gesprochene Satz eines Seelsorgers „Vergib ihm“ ist in so einem Erleben schwer auf den Punkt möglich, sondern ein Prozess, bei dem wir erst wieder lernen, uns mit unseren Kompetenzen zu verbinden, also zu assoziieren.
Dazu arbeitet das hypno-systemische Modell mit dem Erarbeiten einer Lösungstrance. Damit ist gemeint, dass wir lernen, uns mit den in uns bereits schon vorhandenen Kompetenzen zu verbinden, indem wir unsere Aufmerksamkeit darauf verwenden und diese dadurch verstärkt wahrnehmen. Eine Lösungstrance kann z. B. mithilfe von ähnlichen schon überwundenen Situationen erarbeitet werden, indem danach gefragt wird, wie der Klient das geschafft hat. Eine andere Möglichkeit ist, sich vorzustellen, wie sich der Klient fühlen würde, wenn die verletzende Situation für ihn geklärt wäre. Anhand des angenehmen Zielgefühls kann daraufhin ein Lösungsbild erarbeitet werden, dem sich der Verletzte nach und nach annähert. (Teil III.6)
Beispiel:
Hier noch ein anderes Beispiel, das eine Lösungstrance verdeutlicht: Nehmen wir an, eine Kindergottesdienstmitarbeiterin hat eine Geschichte erzählt, bei der ihr die Kinder förmlich an den Lippen gehangen haben. Sie ist glücklich und geht in den Gottesdienstraum, wo sie auf ein paar Eltern trifft. Diese erzählen ihr, wie begeistert ihre Kinder immer wieder von ihren Stunden sind, dass es ihnen so viel Spaß mache und dass sie so gut erzählen könne, dass die Kinder davon beim Mittagessen berichten. Danach trifft sie einen anderen Mitarbeiter, der sie neugierig und interessiert fragt, wie sie das geschafft habe. Sie zögert kurz und dann zählt sie ihm auf, dass sie sich gut in die Kinder, aber auch in die Geschichten hineinversetzen könne, dass sie eine Idee davon habe, wie es zur Zeit der Geschichte in Israel gewesen sein müsse, dass sie ein gutes Vorstellungsvermögen habe, Gruppendynamiken lesen könne und selbst viel Spaß bei der Kinderstunde habe.
Wenn wir sie jetzt fragen würden, wie es ihr denn mit dem gehe, was sie gerade erlebt und bei sich wahrgenommen habe, dann sagt sie möglicherweise, sie fühle sich frisch, voller Energie und Tatendrang und habe Lust, gleich die nächste Stunde zu halten. Wir könnten weiterfragen, wo genau sie diese Gefühle im Körper wahrnimmt und was sie tun muss, um sich an diese Ressourcen immer wieder zu erinnern. Je mehr sie ihre Aufmerksamkeit auf das Gelungene lenkt und ihre damit verbundenen Gefühle auch noch körperlich wahrnimmt, desto eher wird es ihr gelingen, diese Ressourcen erneut abzurufen, wenn sie sie braucht. Ihre Aufmerksamkeit ist ganz bei dieser Sache, während sie vielleicht ihre erlebte Inkompetenz beim Kochen eines neuen Gerichts gerade nicht wahrnimmt.
Den Weg, diese eigenen Ressourcen und Kompetenzen wahrzunehmen und zu verstärken, also mehr auf das, was die Mitarbeiterin kann, fokussiert zu sein, beschreibt der hypno-systemische Ansatz mit Hypnose. Es geht um die Einladung von außen durch eine andere Person oder von innen, also der betroffenen Person selbst, die Aufmerksamkeit auf bestimmte Dinge stärker zu lenken und andere umso mehr auszublenden. Wenn es von außen geschieht, bleibt es...