Ankommen
14. September 2012
Nun hat uns also S. in Empfang genommen. Im Rollstuhl hat sie dich ins Zimmer am Ende des Flures geschoben.
Sie wird eine von zwei Bezugspflegerinnen sein, die deine Pflege in einer der zwei Schichten verantwortet und hauptsächlich übernimmt. S., mit der ich später viele Gespräche führe, die mir dein Verhalten und deine Träume entschlüsselt. S., die später die Trauerfeier für dich im Hospiz gestaltet – zusammen mit der Pfarrerin. Sie ist eine wunderbare, klare, warmherzige und kompetente Bezugsschwester. Sie begleitet später deinen toten Körper wieder bis zur Tür dieses Gasthauses.
Hier, in diesem Gästezimmer sitzen wir beide und schauen auf den Zeiger der Uhr. Was geschieht jetzt? Wird es eine Aufnahme geben? Müssen wir Formulare ausfüllen? Wirst du eine körperliche Untersuchung über dich ergehen lassen müssen?
Wir sitzen und warten. Der Uhrzeiger bewegt sich kaum. Jede Minute dehnt sich ins Endlose. Eine andere Schwester kommt ins Zimmer. Ich schaue auf die Uhr. Es ist kaum Zeit verstrichen.
Wir lernen Schwester B. kennen, eine weitere Pflegerin. Sie hockt sich vor dich hin, als sie mit dir zu sprechen beginnt – auf Augenhöhe, was mich sofort für sie einnimmt. B. erlebe ich später im ambulanten Hospiz bei Trauerseminaren auch als Trauerbegleiterin.
Die Hauswirtschafterin kommt, stellt eine gute Küche in Aussicht und verabschiedet sich gleich wieder. Sie hat ab heute Urlaub. Die Gäste im Hospiz dürfen Wünsche an die Küche richten – der Speiseplan wird entsprechend gestaltet. Vor meinem inneren Auge blitzt kurz der Gedanke ans »Gelobte Land« auf. »Ein Land, in dem Milch und Honig fließen« (Exodus 3,8).3
Und dann kommt Dr. K. Er war seit seinem Besuch bei uns zwei Tage zuvor das Bindeglied zum Hospiz. Als du ihn siehst, lächelst du. Ihn hast du sehr erwartet. Dein Doktor ist da. Jeder seiner Besuche in den nächsten Tagen und Wochen wird ein Fest für dich.
Dein Doktor ist heute erstaunt darüber, dass du einen besseren Eindruck machst als bei seinem letzten Besuch bei uns zu Hause. Er freut sich darüber, dass die durch ihn veränderte Medikation dich wacher macht. Du bist nicht mehr durch die Morphine überdosiert.
Ja, so kommen wir an. Langsam kommen wir dann wirklich an. Du magst sogar etwas zu Mittag essen.
Ich räume deine und meine Kleidungsstücke in den Schrank. Es wird schnell klar, dass du nicht gedenkst, immerzu im Bett zu liegen, und deshalb mehr als Jogginghosen, Schlafanzüge und Unterwäsche brauchen wirst. Wir stellen die Betten aneinander, denn wir wollen nicht getrennt liegen. Das Angebot, dir einen Sessel zu besorgen, freut uns.
Nachdem wir eine Woche später ein anderes, helleres Zimmer bezogen haben, wird der rote Sessel am lichtesten Ort des Raumes direkt vor der Terrassentür dein Lieblingsplatz. Wie oft hast du dort gesessen … Besucher kamen, Familie, Freunde. Alle nahmen um dich herum Platz. Du hast in den kommenden Wochen in diesem Sessel »gethront« und »Audienz gehalten«. Auch in unseren Urlauben war es oft so gewesen: Du fandest die Ferien gelungen, wenn du einen Sessel im Zimmer hattest.
Manchmal saßest du auch im Wintergarten des Hospizes. In den ersten schönen Spätsommertagen war es im Garten noch angenehm warm, und wir konnten dort gemeinsam Gäste empfangen. Doch der rote Sessel war und blieb die ganze Zeit über eines der wichtigsten Möbelstücke für dein Wohlbefinden.
Später, als wir umgezogen sind, fällt unser Blick immer wieder durch die Terrassentür auf den Ahornbaum, der unser sichtbares Bild für den Wechsel der Jahreszeiten werden wird. Grün ist sein Laub, als wir kommen, farbig wie die Wälder im Indian Summer wird er in den folgenden Wochen, und als der erste Frost kommt und die Blätter fallen, ist auch dein Tod ganz nah.
Ich fand es stimmig, dass du dich in den Kreislauf des Jahres einbinden ließest und vergingst wie der Sommer über einem kraftvollen Herbst. Erinnerst du dich an das melancholische Gedicht, das ich alljährlich rezitiert habe?
»Es geht zum Herbst, die Luft wird seltsam blass …«4
Jedes Jahr im Herbst hast du darauf gewartet, dass ich es – zusammen mit den Rilke-Gedichten – zur Sprache bringe. »Herr: es ist Zeit, der Sommer war sehr groß.«5
Aber zurück zum Tag unserer Ankunft.
Das Angebot, eigene Bilder von daheim zu holen und so ein bisschen Heimat zu schaffen, füllst du gleich mit deinen Wünschen. Dein Bronzekreuz, nur eine Handbreit hoch, von dir selbst gekauft und alle unsere Ehejahre den Eingangsbereich in unseren Wohnungen und bisher noch unser Haus wie eine Mesusa6 schmückend, möchtest du in Augenhöhe über dem kleinen Fenster befestigt haben. Das Glasbild mit den guten Wünschen, das ich dir zu deinem letzten Geburtstag geschenkt habe, willst du vom Bett aus über dem Sessel sehen. Zwei von mir gemalte Bilder sollen die Wände zieren. So hole ich später diese Wunschgegenstände.
Wir okkupieren das Bad, das zum Zimmer gehört. Natürlich ist es ein Pflegebad. Du bekommst aufgrund deiner Größe eine Toilettenerhöhung. Eine Krankenpflegeschülerin führt uns dann durch das Haus.
Ein, zwei Stunden später mache ich mich noch einmal allein auf den Weg und verweile überall, so lange , wie ich möchte. Ich kenne das von mir. Räume muss ich ergehen, durchschreiten und besetzen, um sie wahrzunehmen. Ich muss Gegenstände begreifen, um mich an sie zu erinnern. Um mich wohlzufühlen, muss ich mich selbst positionieren.
Die Küche schaue ich mir genauer an. Erst jetzt nehme ich den Hundekorb wahr, den an anderen Tagen der kleine Hospizhund nutzt, dem aber die hintere Küchenzeile verwehrt ist. Ich fühle mich vom hellen Wintergarten angezogen, in dem gerade ein Bett mit einem anderen Hospizgast steht. Hier wirst du vielleicht auch einmal liegen.
Im Wohnzimmer sprechen mich die geschmackvollen Dekorationsgegenstände an. Ich finde Bücher und CDs. Überall stehen Blumenvasen mit üppigen Sträußen Dahlien. Eine Ehrenamtliche kommt einige Male in der Woche mit ihrem Rad, an dem Körbe voller Blumen hängen. Sie verteilt sie im ganzen Haus.
Auf den langen Fluren wandern meine Augen über die Bilder, die dort hängen. Viel Licht fällt durch die großen Fenster, die den Innenhof umschließen, ins Wohnzimmer und auf die Flure. Ich öffne die Tür zum Innenhof. Die Sommermöbel stehen noch dort. Ein Strandkorb lädt zum Niedersetzen ein. In der Mitte des Hofes steht ein Apfelbaum. Wie schön. Er lässt mich an meinen Vater denken, der seit zwei Tagen im Koma liegt. Apfelbäume sind in ihrer knorrigen Winterstarre, später mit ihren vollen Blüten und dann zur Erntezeit, wie sie jetzt bevorsteht, zeichenhaft für mich und mein Verständnis vom Werden und Verwandeln.
Weißt du noch, Klaus, als wir auf der Suche nach Apfelblüten in Meran unterwegs waren? Es war im Jahr 2004 nach deiner ersten Chemo, als du dich danach sehntest, in der Sonne zu sitzen. Weißt du es noch?
Das große Extra-Badezimmer schaue ich auch noch an. Hinter einer einladenden Tür öffnet sich ein Raum mit einer in der Mitte stehenden großen Wanne. Die Hilfsmittel, die gebraucht werden, um jemanden hineinzuheben, hängen seitlich. Das Zimmer, in dem Kerzen auf Regalen und Fensterbänken stehen, wirkt gleich auf den ersten Blick einladend. Hier geht es ganz offensichtlich um mehr als Reinlichkeit. Der Raum strahlt Wellness pur aus. Nein, Wellness ist vielleicht das falsche Wort. Kann man Zärtlichkeit erahnen? Hier jedenfalls werden Menschen berührt.
Mich zieht es in den Raum der Stille, einen Ort wie eine Kapelle, der mir wie eine Gebärmutter vorkommt. Dämmerig wirkt er, trotz der über Eck angelegten Fensterreihen. Hier oben, im zweiten Stock, ist es still, selbst wenn die Tür zum Flur offen steht. Die herüberwehenden Töne ferner Gespräche wirken gedämpft, weniger noch als Gemurmel. Gebärmuttergefühl.
Es ist doch auch so, denke ich spontan, dass das Sterben nur die letzte Phase der Schwangerschaft hin zur endgültigen Geburt ist. Dies ist ein Ort für die Sterbenden. Und ein Ort für mich. Hier kann ich sein – hier kann ich bei mir sein, und hier kann ich vor Gott sein. Ich fühle mich willkommen, geschützt und geborgen.
In diesem Raum der Stille liegen Gästebücher aus, große Alben, in denen es Fotos von den hier Verstorbenen gibt und Texte, die ihnen von Angehörigen oder Mitarbeitern geschrieben wurden. Ich lese, dass einige Gäste nur sehr kurz, andere hingegen mehr als hundert Tage hier gelebt haben. Das erstaunt mich.
Ich beende meinen Rundgang und erzähle dir von den mehr als hundert Tagen. Du lachst. Zu denen, die es so lange geschafft haben, willst du gehören. »Ich sterbe noch nicht. Ich lebe jetzt hier«, sagst du. In den nächsten Tagen planst du gar bis Weihnachten. Ob du, falls du Weihnachten noch lebst, wohl noch einmal den Heiligen Abend mit der Schwester und ihrer Familie feiern kannst, wie all die Jahre zuvor, fragst du. Ich schlucke. Es ist gerade mal Mitte September. Aber ja, wenn du die hundert Tage schaffst, wirst du Weihnachten erleben. Dann werden wir alles möglich machen, was du möchtest, das verspreche ich dir.
Im Gästebuch steht später auf der Seite mit deinem Namen und der Fotocollage, die ich gestaltet habe: »Er war 75 Tage unser Gast.«
...