Tour 2: Die Oberstadt
Ausblicke über die ganze Stadt und das Meer bis nach Finnland, edle Wohnhäuser und die Regierungsbauten: Die Oberstadt auf dem Domberg, einem rund 50 Meter hohen Kalksteinfelsen, gehört bis heute den Reichen und Mächtigen der Stadt. Und Tallinn wurde sogar dort gegründet! Tallinner Dom, innen erzählen Wappen und Grabplatten von der Stadtgeschichte Wenn die Kirchen und Museen am Abend geschlossen sind, ist der Domberg am schönsten. Denn dann sind auch die schnatternden Gruppen mit den Selfiesticks, die Verkäufer der kitschigen Kunstwerke und die Straßenmusiker verschwunden. Mit ihnen geht die Hektik, und plötzlich wirkt das touristische Disneyland ganz friedlich und verträumt - „Disneyland“, so nennen die Einheimischen den sommerlichen Trubel im historischen Stadtzentrum, wenn es ihnen zu viel wird. Man muss sich also nur die richtige Uhrzeit aussuchen, um sich seine Momente ohne Kitsch und Plastik zu schaffen.
Im Sommer kann man noch um zehn Uhr abends die steile Treppe oder den breiten Kopfsteinpflasterweg aus der Unter- in die Oberstadt nehmen. Dann erst beginnt es im Juli und August zu dämmern, und es wird die estnische Nationalhymne vor dem rosafarbenen Parlament vom Band abgespielt. Am besten setzt man sich mit einer kalten Flasche Bier auf einen der Aussichtspunkte und sieht zu, wie die Sonne im Meer versinkt. Frühaufsteher gehen einfach frühmorgens, wenn die Sonne aufgeht, und nehmen sich einen Becher Kaffee mit. Dann wird die Fahne auf dem Langen Hermann gehisst. Noch bis 1878 war es nicht so einfach möglich, aus der unteren Altstadt auf den Domberg zu gelangen, um die Aussicht zu genießen. Schon damals lag auf dem höchsten Punkt Tallinns das Regierungsviertel, was sich bis heute nicht geändert hat. Im Mittelalter wurde Estland von der „Dänenburg“ aus regiert, später vom Schloss. Auch reiche Händler hatten ihre Wohnungen in der direkten Nachbarschaft und schickten ihre Kinder in die gute Schule, mit anderen Sprösslingen aus den besten Familien - ein Garant für späteren Erfolg. Die Unterstadt war im wahrsten Sinne des Wortes eine andere Stadt mit weniger privilegierten Bewohnern, und am Abend wurden die Schotten dicht gemacht, damit niemand mehr durch die Tore hinaufkam. Heute gibt es zwei jederzeit zugängliche Hauptwege hinauf, und man kann sich entscheiden, ob man den Langen Domberg nimmt, auf dem früher die Pferdekutschen fuhren, oder den Kurzen Domberg, eine romantische Steingasse. Man muss sich einfach nur an der alles überragenden Alexander-Newski-Kathedrale orientieren. Schon von Weitem strahlen die goldenen Kreuze auf den Zwiebeltürmen der russisch-orthodoxen Kirche in der Sonne. Sehenswertes
Glänzende Zwiebeltürme
Alexander-Newski-Kathedrale (Aleksander Nevski katedraal)
Es riecht nach Weihrauch, eine Gruppe Frauen mit Kopftüchern singt mit hellen Stimmen, ab und zu ertönt eine Glocke, jemand zündet eine Kerze an und bekreuzigt sich. Das warme Licht wird von den goldenen Verzierungen an den Wänden und dem Schmuck der Ikonen reflektiert. Gebrochen wird die feierliche Stimmung nur durch neugierige Touristengruppen, die sich den Betenden nähern, um sie über die Absperrung hinweg zu beobachten. Diese bleiben in dem ganzen Trubel erstaunlich gelassen - sie sind es schon gewohnt.
Auch wenn der Gründerzeitbau inmitten der Mittelalter- und Renaissance-Umgebung aussieht wie hineinretuschiert, wirkt das Gesamtbild mit dem rot-weißen Prachtbau neben den bunten Gebäuden der oberen Altstadt doch irgendwie märchenhaft. Benannt ist die Kathedrale nach dem russischen Fürsten Alexander Newski aus Nowgorod, der 1242 die deutsche Ostexpansion in Richtung Russland durch einen Sieg über den Deutschen Orden bei der Schlacht auf dem zugefrorenen Peipussee verhindert hat. Im Jahr 1900 unter russischer Herrschaft erbaut, sollte die Kirche 24 Jahre später bereits wieder abgerissen werden. Estland war inzwischen unabhängig geworden, Symbole aus russischer Zeit standen nicht hoch im Kurs. Dann ging jedoch das Geld aus und man ließ die Kirche stehen. Auch in der Zeit der sowjetischen Besatzung blieb die Kathedrale unverändert. Über die Jahre begann der Putz zu bröckeln, und es nisteten sich Tauben ein. Erst nach der erneuten Unabhängigkeit Estlands wurde die Kirche in den 90er-Jahren restauriert. Zum Glück, denn ohne die Kathedrale wäre die Silhouette der Stadt um ihre hübschen, glänzenden Zwiebeln ärmer.
Alexander-Newski-Kathedrale
Tägl. 8-18 Uhr, abweichende Zeiten im Winter. Fotografieren ist im Inneren der Kirche nicht erlaubt. Und passen Sie auf die Bettler auf der Treppe auf, sie können sehr aufdringlich werden. Lossi Plats 11, Tel. 6443484, http://tallinnanevskikatedraal.eu. Jedem Herrscher seine Burg
Schloss Toompea (Toompea loss)
Direkt gegenüber der Newski-Kathedrale steht das Schloss Toompea mit seiner rosa Fassade und dem Stadtwappen mit den drei blauen Löwen. Dahinter sitzt das Parlament der estnischen Republik: der Riigikogu. Im blauen Tagungssaal mit den vielen Holzpulten geht es trotz der historischen Kulisse moderner zu als in Deutschland: Die Abgeordneten werden online gewählt, gearbeitet wird am Tablet, Vorlagen auf Papier gibt es nicht mehr. Das Parlament ist also selbst Teil der in Sachen Digitalisierung ambitionierten Politik des Landes (→ Kasten). Das Schloss steht an derselben Stelle, an der schon immer die Regierungsgebäude standen - wenn auch in anderer Form: Erst stand eine hölzerne Burg auf der Spitze des Felsens, dann eine steinerne, später das Schloss, das ebenfalls mehrfach umgebaut wurde. Das heißt: Die Herrscher der Dänen, Deutschen, Schweden, Russen und Esten haben in den vergangenen 800 Jahren ihren Geschmack ausgelebt und das Regierungsviertel nach dem jeweiligen Zeitgeist umgestaltet. So vermengen sich die Baustile, von der Gotik über die Renaissance, den Barock und den Klassizismus bis zur 30er-Jahre-Architektur, heute zu einem interessanten Ganzen.
Das Schloss befindet sich an der Stelle des ehemaligen Ostflügels der „Toompea-Festung“ (auch „Tallinner Burg“) aus dem 13. Jahrhundert: Das sogenannte Castrum Danorum ist die Burg, um die sich später ganz Tallinn entwickelt hat. So gesehen ist sie der wichtigste Punkt der Stadt. Der Name bedeutet „Dänenburg“, weil dänische Kreuzritter sie 1219 von den heidnischen Esten eingenommen haben. Die Esten hatten sie im 11. Jahrhundert aus Holz errichtet; die Dänen bauten die Festung nach und nach in Stein aus. Ab 1229 übernahmen deutsche Schwertritter die Befestigung und bauten weiter daran (→ Stadtgeschichte). Das heutige Schloss wurde 1773 fertiggestellt. Für den Bau ließ Katharina die Große weite Teile der mittelalterlichen Burg abreißen und einen Barockpalast nach Petersburger Vorbild errichten. Zu sehen sind neben dem königsblauen Sitzungsraum auch der verspiegelte „Weiße Saal“ in der Mitte des Haupthauses aus dem 18. Jahrhundert, in dem zu Zarenzeiten Bälle abgehalten wurden, die Journalisten-Lobby mit den Zackenverzierungen, in der wichtige Interviews mit Politikern geführt werden, die architektonisch experimentelle Lobby aus den 1930er-Jahren sowie die Büros des Ratsvorsitzenden in ehemaligen Gouverneurswohnungen im Ostflügel des Schlosses.
Außerdem gibt es eine kleine Kunstgalerie im ersten Stock, die von Montag bis Freitag zwischen 10 und 16 Uhr Gemälde, Schmuck, Textilkunst oder Skulpturen estnischer Künstler in wechselnden Ausstellungen zeigt - auch ohne offizielle Führung. Dazu muss man mit einem gültigen Ausweis am Foyer Bescheid geben.
Will man erfahren, wie im Parlament debattiert wird, kann man freitags um 11 Uhr kostenlose, englischsprachige Führungen durch das Schloss buchen. Während der 45-minütigen Führung wird neben der Baugeschichte auch die Arbeit der Parlamentarier erklärt und, falls eine Sitzung stattfindet, diese sogar beobachtet.
Da insgesamt 350 Mitarbeiter in den Räumen ihren täglichen Aufgaben nachgehen, ist es außerhalb dieser Zeiten leider nicht möglich, das Schloss zu besuchen. Die Anmeldung zur Führung ist darum auch mehrere Tage im Voraus telefonisch, per E-Mail oder über das Webformular erforderlich (unter www.riigikogu.ee, dort unter „Visit us“, oder per E-Mail an...